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Das Weisse Buch

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
218 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am16.11.20101. Auflage
Rafael Horzon - Möbelmagnat, Originalgenie und Apfelkuchentycoon. Als Student und Paketfahrer gescheitert, baute er über Jahre hinweg das modocom-Imperium auf: Modelabel, Partnertrennungsagentur, Nachtklub, Fachgeschäft für Apfelkuchenhandel - eine bahnbrechende Idee jagte die nächste, und jedes Projekt sorgte für enormes Aufsehen: Mit einem Föhn begeisterte er die Kunstwelt, mit der Kopfkrawatte revolutionierte er die Welt der Mode und schaffte es, mit der Erfindung des perfekten Buchregals einen schwedischen Möbeldiscounter vollständig vom Markt zu verdrängen. Auf dem Höhepunkt seines an Ereignissen nicht armen Lebens hält er inne und blickt zurück. Und siehe da: Horzon erweist sich auch noch als überaus charmanter und intelligenter Erzähler seiner selbst.



Rafael Horzon studierte Philosophie, Latein, Physik und Komparatistik in Paris, München und Berlin, bevor er sich 1995 zum Paketfahrer der Deutschen Post ausbilden liess. Ab 1996 Gründung zahlreicher Unternehmen. 2010 erschien seine Autobiografie Das Weisse Buch. Rafael Horzon lebt und arbeitet in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR16,99

Produkt

KlappentextRafael Horzon - Möbelmagnat, Originalgenie und Apfelkuchentycoon. Als Student und Paketfahrer gescheitert, baute er über Jahre hinweg das modocom-Imperium auf: Modelabel, Partnertrennungsagentur, Nachtklub, Fachgeschäft für Apfelkuchenhandel - eine bahnbrechende Idee jagte die nächste, und jedes Projekt sorgte für enormes Aufsehen: Mit einem Föhn begeisterte er die Kunstwelt, mit der Kopfkrawatte revolutionierte er die Welt der Mode und schaffte es, mit der Erfindung des perfekten Buchregals einen schwedischen Möbeldiscounter vollständig vom Markt zu verdrängen. Auf dem Höhepunkt seines an Ereignissen nicht armen Lebens hält er inne und blickt zurück. Und siehe da: Horzon erweist sich auch noch als überaus charmanter und intelligenter Erzähler seiner selbst.



Rafael Horzon studierte Philosophie, Latein, Physik und Komparatistik in Paris, München und Berlin, bevor er sich 1995 zum Paketfahrer der Deutschen Post ausbilden liess. Ab 1996 Gründung zahlreicher Unternehmen. 2010 erschien seine Autobiografie Das Weisse Buch. Rafael Horzon lebt und arbeitet in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518743409
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2010
Erscheinungsdatum16.11.2010
Auflage1. Auflage
Seiten218 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1003595
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Kapitel 1

Es war sehr still. Ich ging über einen menschenleeren Platz, der von Arkadengängen umgeben war. Die schattigen dunklen Gewölbe hoben sich scharf von den hellen Bögen der Fassaden ab. In der Mitte des Platzes stand ein Pavillon, auf den acht Wege sternförmig zuliefen. Summend spazierte ich einen der Wege entlang. Plötzlich bemerkte ich einen Gegenstand, der in einiger Entfernung vor mir auf dem Boden lag. Als ich etwas näher kam, sah ich, dass es eine Geldbörse war. Ich konnte mein Glück kaum fassen und begann zu laufen. Die Börse war prall gefüllt. An den Seiten quollen grüne und braune Scheine heraus. Als sie direkt vor meinen Füssen lag, sah ich mich noch einmal in alle Richtungen um, dann bückte ich mich. Ich streckte den Arm aus, ganz langsam, wie in Zeitlupe, um diesen schönen Moment künstlich zu verlängern. Ich schloss sogar die Augen, ich lächelte. Es ist sogar möglich, dass mir voller Vorfreude ein kleiner Speichelfaden aus dem Mund lief. Dann griff ich zu!





In den harten, steinigen Boden! Erschrocken riss ich die Augen auf: Das Portemonnaie war weg! Ich drehte mich zur Seite und sah hinter einem Busch einen dicken Jungen stehen, mit roten Backen und weit aufgerissenen Augen. Blitzschnell zog er das Portemonnaie an einem Bindfaden zu sich heran, nahm es hoch und rannte damit davon. Ein kleiner Propeller auf seiner Mütze drehte sich im Wind. Sein Lachen hallte über den leeren Platz. Es klang wie Möwengeschrei. Wie Möwengeschrei einer Möwe aus Stahl. Als der Junge verschwunden war, ging ich zum Pavillon, setzte mich auf eine der Bänke, die in seinem Innern aufgestellt waren, und fing an zu weinen. Stundenlang. Bis der ganze Platz ein Meer aus Tränen war.





An dieser Stelle wachte ich normalerweise auf. So auch an diesem Tag. Ich drehte mein tränenbenetztes Kissen um, dann griff ich nach dem kleinen Notizbuch, das ich mir bei meiner Ankunft in Paris gekauft hatte und das immer auf meinem Nachttisch lag. Journal de Rêves stand darauf in geschwungenen Buchstaben: Traumtagebuch. Ich schlug es auf und blätterte durch die vollgeschriebenen Seiten: Hundertfünfundzwanzig Nächte, hundertfünfundzwanzigmal derselbe Portemonnaie-Traum: Geldbörse, las ich ... Prall gefüllt, las ich ... Dicker Junge, las ich ... Möwengeschrei.

Hundertfünfundzwanzigmal! Lächerlich! War ich wirklich so sehr vom Wunsch besessen, reich zu werden? Verärgert warf ich das Buch in die Ecke. Für Siegmund Freud mochte das Traumtagebuch grossen Sinn gemacht haben. Für mich war es reine Zeitverschwendung.





Als ich die Decke hochriss, um aus dem Bett zu steigen, fielen einige Bücher zu Boden, die ich vor dem Einschlafen gelesen hatte: Die Gesänge des Maldoror von Lautréamont in einer kostbaren Erstausgabe von 1868, Dostojewskis Schuld und Sühne, die neueste Ausgabe des Playboy, Nietzsches Fröhliche Wissenschaft, Jack Londons Der Werwolf von Paris.

Mein Blick fiel auf den Reisewecker, der auf meinem Nachttisch stand: Schon fünfzehn Uhr! Ich sprang auf, stiess mit dem Kopf gegen die Dachschräge, fiel seitwärts mit dem Ellbogen auf den glühend heissen Camping-Kocher, mit dem ich meine Dienstbotenwohnung heizte, schrie auf und fand gerade noch Halt am Waschbecken, das direkt neben meinem Bett an die Wand genagelt war.

Womit auch schon mein gesamtes Inventar aufgezählt wäre. Mehr gab es nicht in der zweieinhalb Quadratmeter grossen Chambre de Bonne, die ich für ungefähr fünftausend Mark im Monat von einer alten Dame mietete.





Ich behielt meinen grauen Wollpullover und meine weisse Leinenhose, die ich auch als Pyjama benutzte, gleich an und warf meinen dunkelblauen Dufflecoat über, den ich mir gekauft hatte, weil ich ihn für sehr französisch hielt. Dann stürmte ich auf den Korridor. Vorsichtig stieg ich über den dicken schnarchenden Mann, der mit einer roten Rose auf dem Bauch vor der Tür meines Nachbarn lag. Dann rannte ich die sechs Etagen des Dienstbotenaufgangs hinunter, laut die Marseillaise pfeifend. Am Eingang zur Metro kaufte ich mir ein Croissant und eine heisse Schokolade und stieg damit in den Zug. Eine halbe Stunde später war ich in der Universität.





Der Saal war zum Bersten gefüllt, wie immer. Die Studentinnen und Studenten redeten aufgeregt durcheinander, in Erwartung des grossen, wöchentlichen Spektakels. In der Mitte der Bühne stand ein hoher Katheder aus Sandelholz. Er war so hoch, dass auch noch die Studenten in der letzten Reihe den Kopf heben mussten, um den Redner zu sehen. Hinter dem Katheder hing über die gesamte Breite der Bühne ein acht Meter hoher, dunkelroter Samtvorhang. Ich schaute auf die Armbanduhr meines Nachbarn - ich selber trug selbstverständlich keine -, sie zeigte genau sechzehn Uhr. Der zwergwüchsige Saaldiener, der am Rand der Bühne gesessen hatte, erhob sich nun und schlug mit einer grossen Holzstange, ungefähr doppelt so hoch wie er selbst, dreimal, mit ehrfurchtgebietenden Pausen dazwischen, auf den dunkel dröhnenden Bühnenboden. Das Licht im Saal erlosch. Alles verstummte.

Nun erstrahlten im Bühnenboden verborgene Lampen, die den Samtvorhang von unten verheissungsvoll beleuchteten. Mein Herz schlug schnell und schneller. Auch der Katheder wurde nun von unten bestrahlt. Es folgten weitere endlose Minuten. Kein Ton war zu hören.

Dann, mit einem Mal, teilte sich lautlos der Vorhang, und aus dem Spalt heraus trat ER: Jacques Derrida.





Würdevoll, aber ohne falschen Pomp, stieg er die Treppen zum Rednerpult empor. Sein Gesicht, das von einer Leselampe nun von unten erhellt wurde, wirkte wie ein Leuchtturm und strahlte grosse Weisheit aus.

Derrida starrte eine Zeitlang wortlos in den schwarzen Saal, kniff die Augen zusammen, riss sie dann plötzlich auf und sagte, wobei er jedes Wort einzeln betonte: »Le - soleil - est - froid!« Die Sonne ist kalt!

Empört sprang ich von meinem Sitz auf, rückte mit beiden Händen mein Barett zurecht, das mir beim Aufspringen vor die Augen gerutscht war, und rief mit meiner angenehm hellen Stimme, in akzentfreiem Französisch: »Aber, Monsier le Maître, wie kann das sein, noch gestern war ich in den Tuilerien und habe mich gesonnt, und die Sonne war heiss! Ce n'est pas possible, verflixt nochmal!«

Wütend blinzelte Derrida in den Zuschauerraum, bedeckte seine Leselampe mit den Händen, um zu sehen, welcher Trottel ihn da störte. Doch kaum hatte er mich, seinen Lieblingsstudenten, erkannt, huschte ein nachsichtiges Lächeln über sein Gesicht: »Geduld, cher ami, setzen Sie sich, ich werde es Ihnen erklären!«

Derrida sprach lange, mit ruhiger Stimme, und jedes Wort sog ich in mich auf. Die Sonne, sagte Derrida, wärmt mit ihren Strahlen die Dinge. Die Dinge werden von den Strahlen bestrahlt und werden warm. Alle Dinge sind warm, weil sie wärmende Strahlen von der Sonne erhalten. Alle Dinge erhalten diese wärmenden Strahlen - mit einer Ausnahme. Mit Ausnahme der Sonne. Die Sonne erhält als Einzige keine wärmenden Strahlen. Also ist die Sonne kalt.





Benommen verliess ich das Auditorium. Derartiges hatte ich noch nie gehört. Aber wenn es stimmte, dass die Sonne nicht heiss war, sondern kalt - und das hatte der Maître ja eindeutig bewiesen! -, dann konnten auch alle anderen Wahrheiten ebenso gut Unwahrheiten sein. Dann konnte Schwarz auch Weiss sein und Dunkel Hell. Dann konnte Sinnvolles auch sinnlos und Sinnloses sinnreich sein. Dann konnte ein Tapetenladen auch eine Hochschule sein. Oder eine Ziege ein Bademeister. Denn ob etwas richtig oder falsch war, gut oder böse, hässlich oder schön, das steckte nicht in den Dingen selbst. Das hatte ich doch gerade gestern noch vor dem Einschlafen gelesen! Sondern es wurde von Menschen in Regeln und Definitionen festgeschrieben, um allen anderen Menschen das Nachdenken auszutreiben.

Um sie im gleichen Trott zu halten.

Um sie besser lenken zu können!

Wie eine Schafherde!

Aber diese tyrannisierenden Regeln sollten für mich von nun an nicht mehr gelten. Von nun an war alles erlaubt. Von nun an wollte ich selber bestimmen, wie diese Welt zu sehen war. Und wie in dieser Welt zu leben war. Verwirrt und berauscht von diesen unsagbar radikalen Gedanken streifte ich singend durch das Quartier Latin. Am Ufer der Seine kletterte ich auf einen Lastenkahn, schnitt die Taue durch und liess mich durch das nächtliche Paris treiben. Als ich an einem Kino vorbeikam, sprang ich von Bord, nicht ohne vorher noch die Trikolore vom Heck zu schneiden und mir über die Schultern zu werfen. Im Kino lief L'Eclipse von Antonioni. Ich weinte von der ersten Minute an, den ganzen Film hindurch. In allem erkannte ich mich wieder! Die neuen, noch hohlen Hochhäuser aus Beton: Das war ich. Der Treffpunkt von Monica Vitti und Alain Delon, nämlich die Regentonne, die sich Tropfen für Tropfen mit Wasser füllte: Das war ich! Und dann das Schlussbild des Films: Eine sehr moderne Strassenlaterne, die einsam im Nebel leuchtete: Ich.

Schluchzend wankte ich nach Hause und fiel in einen tiefen, traumlosen...
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Kritik
»Das weisse Buch ist ein komödiantischer Entwicklungsroman, ein zeitgenössischer Schelmenroman, der mit seinen vielen Lateinzitaten an Eichendorffs Leben eines Taugenichts erinnert, und es ist der Gesellschaftsroman einer Berliner Szene. Man kann diesen Roman auch als ästhetisch ernste Angelegenheit betrachten: als einen Versuch, Kunst und Leben in Deckung zu bringen, so wie das die Avantgarden der frühen Moderne auch versuchten. Und man kann den Bewohner des Raumschiffs Berlin-Mitte Rafael Horzon als eine Art lebende Konzeptkunst betrachten, den von vielen seiner Mitbürger erstaunliche und bewundernswerte Sorglosigkeit unterscheidet.«mehr