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Vatertage

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am10.03.20111. Auflage
Eine scheinbar ganz normale Einfamilienhaus-mit-Garten-Kindheit in der Bonner Republik. Doch manchmal, unvermittelt, bekommt die Normalität Risse, und die Tochter merkt: Es gibt da noch etwas anderes. Dieses andere sind Kindheit und Jugend des Vaters, ist die traumatische Erfahrung von Flucht und Vertreibung, von Verlust und Massensterben, vom Leben in zwei totalitären Systemen. Die Egon-Erwin-Kisch-Preisträgerin Katja Thimm erzählt so eindringlich wie einfühlsam die Geschichte ihres Vaters, die zugleich die Geschichte Hunderttausender 'Kriegskinder' ist. Sie berichtet, wie die schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit fortwirken, in ihrem Vater, der mit zunehmendem Alter immer häufiger von traumatischen Erinnerungen heimgesucht wird, aber auch in ihr selbst und damit in der Generation der »Kriegsenkel«. »Katja Thimm beschreibt sensibel, aber nicht sentimental. Sie schreibt berührend, aber vollkommen authentisch. Die Autorin konfrontiert uns mit einem Teil unserer Wirklichkeit auf ebenso beklemmende wie großartige Weise.« Aus der Begründung der Jury für den Egon-Erwin-Kisch-Preis

Katja Thimm, 1969 in Köln geboren, studierte Politikwissenschaft, Romanistik und Neuere Geschichte in Bonn, Paris und Hamburg. Sie war als Redakteurin beim Stern, beim NDR-Fernsehen und im Wissenschaftsressort des SPIEGEL tätig, seit 2009 ist sie Reporterin beim SPIEGEL. Für ihre Arbeiten wurde Katja Thimm mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2009 mit dem renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preis. 2012 erhielt sie für 'Vatertage' den Evangelischen Buchpreis.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextEine scheinbar ganz normale Einfamilienhaus-mit-Garten-Kindheit in der Bonner Republik. Doch manchmal, unvermittelt, bekommt die Normalität Risse, und die Tochter merkt: Es gibt da noch etwas anderes. Dieses andere sind Kindheit und Jugend des Vaters, ist die traumatische Erfahrung von Flucht und Vertreibung, von Verlust und Massensterben, vom Leben in zwei totalitären Systemen. Die Egon-Erwin-Kisch-Preisträgerin Katja Thimm erzählt so eindringlich wie einfühlsam die Geschichte ihres Vaters, die zugleich die Geschichte Hunderttausender 'Kriegskinder' ist. Sie berichtet, wie die schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit fortwirken, in ihrem Vater, der mit zunehmendem Alter immer häufiger von traumatischen Erinnerungen heimgesucht wird, aber auch in ihr selbst und damit in der Generation der »Kriegsenkel«. »Katja Thimm beschreibt sensibel, aber nicht sentimental. Sie schreibt berührend, aber vollkommen authentisch. Die Autorin konfrontiert uns mit einem Teil unserer Wirklichkeit auf ebenso beklemmende wie großartige Weise.« Aus der Begründung der Jury für den Egon-Erwin-Kisch-Preis

Katja Thimm, 1969 in Köln geboren, studierte Politikwissenschaft, Romanistik und Neuere Geschichte in Bonn, Paris und Hamburg. Sie war als Redakteurin beim Stern, beim NDR-Fernsehen und im Wissenschaftsressort des SPIEGEL tätig, seit 2009 ist sie Reporterin beim SPIEGEL. Für ihre Arbeiten wurde Katja Thimm mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2009 mit dem renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preis. 2012 erhielt sie für 'Vatertage' den Evangelischen Buchpreis.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104010878
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2011
Erscheinungsdatum10.03.2011
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1019162
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Eins

Als der Rundfunkpfarrer im Radio zum gekreuzigten Jesus betet, zieht mein Vater um. Es ist Karfreitag, die Sonne scheint, und Vögel zwitschern. Ich steuere das Auto entlang der stuckverspielten Villen mit ihren Rosen und Rondellen in den Vorgärten. Die meisten Beamten und Minister leben mittlerweile in Berlin. Eine gediegene Behäbigkeit ist Bad Godesberg geblieben.

Mehr als dreißig Jahre lang arbeitete mein Vater in diesem Bonner Stadtteil, grüßte morgens um acht den Pförtner des Ministeriums, das, war wieder einmal eine Wahl vorüber, wieder einmal anders hieß. »Er arbeitet im BMJFG«, so plapperte ich in der Grundschule, stolz, mir dieses Ungetüm gemerkt zu haben. »Im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit.« Irgendwann trug es auch die »Frauen« im Namen, irgendwann waren mein Vater und sein Minister nur noch zuständig für »Gesundheit«.

Manchmal, wenn er meinte, auch auf das eigene Wohlergehen achten zu müssen, fuhr er mit dem Fahrrad ins Ministerium und setzte mit der Fähre über den Rhein. Er besaß eine orangefarbene Pelerine, die er bei Regen überstreifte, und es störte ihn nicht, dass sie hässlich war. Er fand sie praktisch. Meist aber nahm er das Auto. Er brauste los im Siebengebirge und stand auf der Brücke über dem Fluss im Stau, denn hunderte andere Beamte der Bonner Republik hielten es wie er. Was er genau tat in seinem Ministerium, in seinem Referat für medizinische Information und Dokumentation, verstand ich nicht. Er ärgerte sich über Frau Focke, Frau Huber, Frau Fuchs und Herrn Geißler - gesichtslose Namen meiner Kindheit, doch mächtig genug, ein Wochenende zu verdüstern. Als Rita Süssmuth, die er schätzte, in sein Ministerium einzog, war ich sechzehn und fragte ihn mit allem Hochmut der Heranwachsenden, warum er denn bitte dieser Tante mehr zutraue als all den anderen. Als 1994 die Abgeordneten das Gesetz über den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin verabschiedeten, wäre er, inzwischen dreiundsechzig Jahre alt, gerne mitgezogen. Er liebte Berlin. »Schade, dass du zu alt bist«, sagte ich leichthin, als er die Absage erhielt; ich würde bald selbst arbeiten, nur die mündlichen Prüfungen standen noch aus. Besuchte ich meine Eltern in den Semesterferien, konnte wie früher ein Minister das Wochenende verdüstern, er hieß nun Seehofer und mit Vornamen wie mein Vater, der, auch das hatte sich nicht geändert, abends wortkarg zum Gongklang der Nachrichten aus dem Ministerium nach Hause kam. Horst Thimm mochte es nicht, wenn jemand redete, während der Fernsehmann das Weltgeschehen verlas.

»Lasset uns beten«, spricht der Pfarrer im Radio. In ein paar Minuten werden im Godesberger Villenviertel die Kirchenglocken elfmal läuten, und der Westdeutsche Rundfunk wird Nachrichten senden. Ich höre gerne Nachrichten im Radio und lasse mich ungern dabei stören. »Lasset uns beten für alle, die sich der Last ihres Lebens nicht gewachsen fühlen, ewiger Gott, wir bitten dich.« Auf dem Autorücksitz klappern in den Kartons Bilderrahmen und Geschirr, dreimal Gedeck, dreimal Besteck, zwei Gläser für Bier, vier für Wein, vier für Wasser. Ein scharfes Messer. Der Lieferwagen des polnischen Kleinunternehmers, der beim Umzug hilft, ist bereits am Ziel. Er hat zwei Sessel transportiert, das Bett, einen Stuhl, einen Tisch, die Regale, die Bücher. Es ist Karfreitag, die Sonne scheint, Vögel zwitschern, und mein Vater wird fortan im Seniorenheim leben. Im Garten dieser Unterkunft blühen violette Krokusse.

 

Noch liegt er im Kellergeschoss in einem Übergangszimmer. Die weiße Wandfarbe in dem angemieteten Raum mit Duschbad muss erst trocknen, der Linoleumboden repariert werden. Es dauert seine Zeit, zwanzig Quadratmeter herzurichten für ein neues altes Leben.

In der Woche zuvor haben Verwandte der Vormieterin fliederfarbene Gürtelkleider aus dem Raum getragen und alte Pappkoffer aus dem zugehörigen Spind im Keller. Die Spinde sind mit Sicherheitsschlössern versehen, und mein Vater hört, wenn seine neuen Mitbewohner an den Türen rappeln, weil sie ihre Zahnbürste, ein Schmuckstück oder den Kuchen zum Nachmittag dahinter vermuten; sie rappeln so lange, bis der Hausmeister das Schloss mit einer Zange durchschneidet. Dann finden sie vor, was ihnen bei ihrem Einzug unnötig und doch unverzichtbar erschien. Den schwarzen dreiteiligen Anzug. Den Stoffblumenaufsatz vom Strohhut. Die Skiausrüstung.

Mein Vater hasst Abhängigkeit. Er will nicht an diesem Ort sein.

 

Wenige Wochen vor seiner Pensionierung hatte ihn der Schlag getroffen. Als er aus der Reha-Klinik entlassen wurde, konnte er wieder laufen und die Arme bewegen. Sein Geist und seine Seele aber waren verletzt geblieben. An einen starken Mann gewöhnt, verstanden das meine Mutter, mein Bruder und ich erst viel später. Er verließ bald mein Elternhaus und bezog eine eigene Wohnung; als wolle er vorführen, dass er das Leben weiterhin selbständig und sogar allein meistern könne. Bis zu jenem Samstag, an dem ich klingelte und er die Tür nicht öffnete, ging es gut.

»Mach dich nicht verrückt«, hatte er all die Male zuvor gesagt, wenn er schließlich doch auftauchte, wenn er nur mal eben zum Bäcker gegangen war, dem Diabetes zum Trotz liebt er süße Kuchen. An jenem Samstag aber saß er verrutscht im Sessel, und im Regal vertrocknete ein Käsebrot neben den blauen Bänden von Marx und Engels aus seiner Studienzeit. Die Ärzte blickten sorgenvoll. Lungenentzündung. Sepsis. Intensivstation. Er überlebte. Und träumte, wenige Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, seine Kinder kämen zu Besuch. Er stand auf, bekleidet nur mit einem Unterhemd, die Tür fiel ins Schloss, und als er im benachbarten Hotel den dort deponierten Zweitschlüssel holen wollte, rutschte er aus. Die Temperatur sank auf minus fünf Grad in dieser Nacht. Am Morgen fand eine Nachbarin ihn in den Rabatten. Lungenentzündung. Sepsis. Intensivstation. Als er ein zweites Mal überlebte, allen Zweifeln zum Trotz, entließen ihn die Ärzte nicht zurück in sein altes Leben.

Zum Glück. Doch mein Vater hasst Abhängigkeit. Er will nicht an diesem Ort sein.

Im Grunde mag er auch das Rheinland nicht. Er spricht seit vierzig Jahren über diese Gegend, als sei er bloß auf Stippvisite. Mit Adenauer konnte er nichts anfangen, hielt dessen Strategie der Westintegration für eilfertig. Seine Helden waren Kurt Schumacher und später Willy Brandt. Bonn sei keine richtige Hauptstadt, fand er. Nur wenige Rheinländer verstanden ihn. Und doch blieb er im Rheinland, und sie wurden die vertrauten Bekannten.

 

Ich küsse ihn auf die Wange, angespannt, ob er sich dem neuen Leben fügen wird, das wir da gerade vorbereiten. Der Umzugshelfer hat die Möbel bereits abgeladen, Regal, Bett und Tisch waren zu sperrig für den Haupteingang, so blieb nur der Zugang über die Rampe. Sie ist für Särge bestimmt, es liegt die Totenkapelle hinter dieser Rampe. Ein Regalbrett nach dem anderen haben wir durch den Andachtsraum getragen, vorbei an der Bahre, die mit rotem Kräuselstoff bedeckt ist und von zwei Vasen mit künstlichen Blumen flankiert wird. Hier also werde ich mich einmal von ihm verabschieden, dachte ich, da mahnten die Hausmeister zur Eile: Dieser Raum könne plötzlich und jederzeit gebraucht werden.

»Die Arbeiten gehen voran, übermorgen kannst du bestimmt in deine neue Wohnung einziehen«, sage ich. In den vergangenen Tagen habe ich mir angewöhnt, den angemieteten Raum »neue Wohnung« zu nennen, weil das so selbstverständlich klingt, ich will den Schrecken mildern, will Trost für ihn und für mich. »Papa«, sage ich, halte mitgebrachte Hyazinthen vor sein Gesicht und denke, warum er schon wieder im Bett liegt, die Ärzte im Krankenhaus haben doch zwei Stunden Bewegung am Tag empfohlen, mindestens, die Muskulatur, die alten Beine. »Papa, riech mal, gehen wir spazieren?« Ich will ihn nicht länger in diesem Übergangszimmer sehen, in das der Tag nur durch zwei Kellerfenster dringt. »Nicht weit, nur hier im Garten?« Der Garten ist schön und hat einen Rundweg, auf dem sich auch verwirrte Menschen nicht verirren können. Die Äste einer Rotbuche überspannen Tulpen, Rhododendronbüsche, Liebstöckel, Petersilienstängel und Narzissen. Es wird nicht lange dauern, da wird mein Vater, der ein Försterssohn ist, auf die Gegenwart dieses Baumes nicht mehr verzichten wollen.

Er schiebt den Strauß beiseite. »Lass mal, Schatz. Die Blumen sind schön. Aber mach nicht so ein Bohei«, sagt er, wie immer schon, wenn ich mit hilflosen Gesten seine Kargheit zu durchdringen versuchte. Wenn er sich einsilbig in sein Arbeitszimmer zurückzog, und ich, ein Kind noch, beständig fragte, ob er nicht mit in den Garten kommen wolle, mit zu den anderen. Wenn er sagte, ich solle nicht so ein Bohei machen, das so viel wie »Geschrei« bedeutet, kniff ich die Augen zusammen. Auch an diesem Tag werden sie nass. Mit brutaler Geschäftigkeit mache ich mich am Staub des Übergangszimmers zu schaffen.

 

»Behalten oder wegschmeißen«, meint ein Pfleger, dem ich den Umschlag zeige, der im Staub zwischen zwei Regalbrettern steckt. »Manchmal sterben Bewohner auch im Übergangszimmer. Der Brief ist wohl liegen geblieben.«

Ich ärgere mich über seine Nachlässigkeit und blicke doch selbst in den Umschlag. Und nehme mir vor, nicht einen einzigen Notizzettel meines Vaters in dieser Unterkunft zu hinterlassen, wenn er stirbt. Noch weiß ich nicht, dass sich in einem Altenheim die Privatsphäre eines Menschen ohnehin nicht aufrechterhalten lässt.

Der Umschlag ist an einem 5. Dezember abgestempelt worden, der Absender hat ein Abziehbild in Form eines Nikolausstiefels darauf geklebt. »Meine Liebe«, heißt...
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Autor

Katja Thimm, 1969 in Köln geboren, studierte Politikwissenschaft, Romanistik und Neuere Geschichte in Bonn, Paris und Hamburg. Sie war als Redakteurin beim Stern, beim NDR-Fernsehen und im Wissenschaftsressort des SPIEGEL tätig, seit 2009 ist sie Reporterin beim SPIEGEL. Für ihre Arbeiten wurde Katja Thimm mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2009 mit dem renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preis. 2012 erhielt sie für "Vatertage" den Evangelischen Buchpreis.