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Der Friedhof in Prag

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
528 Seiten
Deutsch
Carl Hanser Verlagerschienen am08.10.20111. Auflage
Der Italiener Simone Simonini lebt in Paris, und er erlebt aus nächster Nähe eine dunkle Geschichte: geheime Militärpapiere, die der jüdische Hauptmann Dreyfus angeblich an die deutsche Botschaft verkauft, piemontesische, französische und preußische Geheimdienste, die noch geheimere Pläne schmieden, Freimaurer, Jesuiten und Revolutionäre - und am Ende tauchen zum ersten Mal die Protokolle der Weisen von Zion auf, ein gefälschtes 'Dokument' für die 'jüdische Weltverschwörung', das dann fatale Folgen haben wird. Umberto Eco, der Meister des historischen Romans, erzählt die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, in der wir jedoch unser eigenes wiedererkennen können.

Umberto Eco wurde am 5. Januar 1932 in Alessandria (Piemont) geboren und starb am 19. Februar 2016 in Mailand. Er zählte zu den bedeutendsten Schriftstellern und Wissenschaftlern der Gegenwart. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt u.a. der Roman Nullnummer (2015), Pape Satàn (Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen, 2017), Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis (2019), Der ewige Faschismus (2020) und Der Name der Rose (Jubiläumsausgabe, 2022).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR28,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextDer Italiener Simone Simonini lebt in Paris, und er erlebt aus nächster Nähe eine dunkle Geschichte: geheime Militärpapiere, die der jüdische Hauptmann Dreyfus angeblich an die deutsche Botschaft verkauft, piemontesische, französische und preußische Geheimdienste, die noch geheimere Pläne schmieden, Freimaurer, Jesuiten und Revolutionäre - und am Ende tauchen zum ersten Mal die Protokolle der Weisen von Zion auf, ein gefälschtes 'Dokument' für die 'jüdische Weltverschwörung', das dann fatale Folgen haben wird. Umberto Eco, der Meister des historischen Romans, erzählt die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, in der wir jedoch unser eigenes wiedererkennen können.

Umberto Eco wurde am 5. Januar 1932 in Alessandria (Piemont) geboren und starb am 19. Februar 2016 in Mailand. Er zählte zu den bedeutendsten Schriftstellern und Wissenschaftlern der Gegenwart. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt u.a. der Roman Nullnummer (2015), Pape Satàn (Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen, 2017), Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis (2019), Der ewige Faschismus (2020) und Der Name der Rose (Jubiläumsausgabe, 2022).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446238299
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2011
Erscheinungsdatum08.10.2011
Auflage1. Auflage
Seiten528 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse7577 Kbytes
Artikel-Nr.1028500
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

  3.
Chez Magny

25. März 1897, frühmorgens

 

Chez Magny... Ich weiß, dass ich ein Liebhaber der guten Küche bin, und nach dem, was ich von jenem Restaurant in der Rue de la Contrescarpe-Dauphine in Erinnerung habe, zahlte man dort nicht mehr als zehn Francs pro Kopf, und die Qualität entsprach dem Preis. Aber man kann ja nicht jeden Tag ins Foyot gehen. Früher gingen viele ins Magny, um von weitem berühmte Schriftsteller wie Gautier oder Flaubert zu bewundern, und noch früher jenen schwindsüchtigen polnischen Pianisten, der von einer Entarteten ausgehalten wurde, die in Hosen herumlief. Ich hatte eines Abends mal reingeschaut und war sofort wieder gegangen. Künstler sind unerträglich, auch von weitem, sie blicken dauernd umher, um zu sehen, ob man sie erkennt.

Dann hatten die »Großen« das Magny verlassen und waren ins Brébant-Vachette am Boulevard Poissonnière umgezogen, wo man besser aß und mehr zahlte, aber carmina dant panem, wie man sieht. Und als das Magny sich sozusagen purifiziert hatte, bin ich seit Anfang der achtziger Jahre öfter hingegangen.

Ich hatte gesehen, dass Wissenschaftler dort aßen, zum Beispiel berühmte Chemiker wie Berthelot und viele Ärzte von der Salpêtrière. Das Hospital liegt nicht gerade um die Ecke, aber vielleicht fanden es diese Mediziner schön, einen kurzen Spaziergang durch das Quartier Latin zu machen, anstatt in den riesigen gargottes zu essen, wohin die Angehörigen der Kranken gehen. Unterhaltungen von Ärzten sind interessant, weil sie immer die Schwächen eines anderen betreffen, und im Magny redeten alle sehr laut, um den Lärm zu übertönen, so dass ein gespitztes Ohr immer etwas Interessantes zu hören bekam. Lauschen heißt nicht, etwas Bestimmtes erfahren zu wollen. Alles, auch das scheinbar Belanglose, kann sich eines Tages als nützlich erweisen. Worauf es ankommt, ist, etwas zu wissen, von dem die anderen nicht wissen, dass man es weiß.

Während die Literaten und Künstler immer an großen Tischen zusammensaßen, speisten die Wissenschaftler lieber allein, wie ich. Doch wenn man ein paarmal am Nachbartisch gesessen hat, macht man allmählich Bekanntschaft. Meine erste Bekanntschaft war Dr. Du Maurier, ein hässliches Individuum, bei dem man sich fragte, wie ein Psychiater (das war er) mit einem so abstoßenden Gesicht seinen Patienten Vertrauen einflößen konnte. Es war das Neid und Missgunst ausdrückende Gesicht eines Mannes, der sich als ewigen Zweiten sah. Tatsächlich leitete er eine kleine Nervenklinik in Vincennes, aber er wusste nur zu gut, dass sein Institut nie den Ruhm und die Einnahmen der Klinik des berühmteren Dr. Blanche genießen würde - auch wenn er sarkastisch knurrte, vor dreißig Jahren sei dort ein gewisser Nerval eingeliefert worden (seines Erachtens ein bedeutender Dichter), den die Pflege in der hochberühmten Klinik von Blanche zum Selbstmord getrieben habe.

Zwei andere Tischgenossen, mit denen ich gute Beziehungen angeknüpft hatte, waren die Doktoren Bourru und Burot, zwei einzigartige Typen, die wie Zwillingsbrüder aussahen, immer in Schwarz gekleidet mit fast dem gleichen Anzugsschnitt, den gleichen schwarzen Schnauzern und glattrasiertem Kinn, die Hemdkragen immer leicht schmutzig, was nicht zu vermeiden war, denn in Paris waren sie auf der Reise, ihren normalen Dienst taten sie an der École de Médecine von Rochefort und kamen nur jeden Monat für ein paar Tage in die Hauptstadt, um die Experimente von Charcot zu verfolgen.

»Was, heute gibt´s keinen Porree?« fragte Bourru eines Tages ärgerlich. Und Burot setzte empört nach: »Keinen Porree?!«

Während der Kellner sich noch entschuldigte, mischte ich mich vom Nachbartisch ein: »Aber es gibt sehr guten Bocksbart, den ich dem Porree vorziehe.« Und dann trällerte ich fröhlich: »Tous les légumes / au clair de lune / étaient en train de s´amuser / et les passants les regardaient. / Les cornichons / dansaient en rond, / les salsifis / dansaient sans bruit...«

So hatte ich sie überzeugt, die beiden Tischgenossen nahmen die salsifis, und das war der Beginn einer schönen Gewohnheit, für jeweils zwei Tage im Monat.

»Sehen Sie, Monsieur Simonini«, erklärte mir Bourru, »Doktor Charcot erforscht die Hysterie, eine Form von Neurose, die sich in verschiedenen psychomotorischen, sensorischen und vegetativen Reaktionen manifestiert. Früher hatte man sie für ein ausschließlich weibliches Phänomen gehalten, ausgelöst durch Störungen der Uterusfunktion, aber Charcot hat erkannt, dass die hysterischen Manifestationen unter beiden Geschlechtern gleichermaßen verbreitet sind und Paralyse, Epilepsie, Blindheit, Taubheit, Atem-, Sprech- und Schluckbeschwerden umfassen können.«

»Der Kollege«, mischte Burot sich ein, »hat noch nicht gesagt, dass Charcot auch behauptet, eine Therapie entwickelt zu haben, die ihre Symptome zu heilen vermag.«

»Dazu wollte ich gerade kommen«, sagte Bourru pikiert. »Charcot hat den Weg der Hypnose gewählt, der bis gestern noch Sache von Scharlatanen wie Mesmer gewesen war. Die Patienten sollen sich in hypnotisiertem Zustand an traumatische Erlebnisse erinnern, die ihrer Hysterie zugrunde liegen, und durch deren Bewusstmachung gesund werden.«

 

 

»Und werden sie gesund?«

»Das genau ist der Punkt, Monsieur Simonini«, sagte Bourru, »für uns riecht das, was in der Salpêtrière geschieht, oft mehr nach Theater als nach klinischer Psychiatrie. Verstehen wir uns recht, nicht um die unfehlbaren diagnostischen Qualitäten des großen Meisters in Frage zu stellen...«

»Nicht um sie anzuzweifeln«, bestätigte Burot. »Es ist die Technik der Hypnose an sich, die...«

Bourru und Burot erklärten mir die verschiedenen Methoden des Hypnotisierens, von den noch scharlatanhaften eines gewissen Abbé Faria (dieser Dumas´sche Name ließ mich aufhorchen, aber Dumas hat bekanntlich reale zeitgeschichtliche Chroniken geplündert) bis zu den wissenschaftlichen von Doktor Braid, einem echten Pionier.

»Inzwischen«, sagte Bourru, »befolgen die guten Magnetiseure einfachere Methoden.«

»Und wirkungsvollere«, präzisierte Burot. »Man lässt vor dem Kranken eine Medaille oder einen Schlüssel pendeln und sagt ihm, er solle ihn unverwandt ansehen. Nach ein bis drei Minuten fallen die Pupillen des Patienten in eine oszillierende Bewegung, der Blutdruck sinkt, die Augen schließen sich, das Gesicht bekommt einen entspannten Ausdruck, und der Schlaf kann bis zu zwanzig Minuten dauern.«

»Allerdings«, korrigierte Bourru, »hängt das vom Patienten ab, denn Magnetisierung entsteht nicht durch Übertragung mysteriöser Ströme, wie dieser Scharlatan Mesmer meinte, sondern durch Phänomene der Autosuggestion. Die indischen Fakire kommen zum selben Ergebnis, indem sie aufmerksam die eigene Nasenspitze betrachten, oder die Mönche vom Athos, indem sie ihren Bauchnabel fixieren.«

»Wir glauben nicht sehr an diese Formen von Autosuggestion«, sagte Burot, »auch wenn wir nichts anderes tun, als Intuitionen in die Praxis umzusetzen, die Charcot gehabt hatte, bevor er anfing, soviel auf Hypnotisierung zu geben. Wir beschäftigen uns mit Fällen von Persönlichkeitsspaltung, das heißt mit Patienten, die sich an einem Tag für die eine Person und an einem anderen Tag für eine andere halten, ohne dass die beiden Personen etwas voneinander wissen. Letztes Jahr ist ein gewisser Louis in unsere Klinik gekommen.«

»Ein interessanter Fall«, präzisierte Bourru, »er litt an Paralyse, partieller Gefühllosigkeit, Kontrakturen, Muskelkrämpfen, Hyperästhesie, Stummheit, Hautreizungen, Hämorrhagie, Husten, Übelkeit, epileptischen Anfällen, Katatonie, Somnambulismus, Veitstanz, Sprachstörungen...«

»Manchmal hielt er sich für einen Hund«, fügte Burot hinzu, »oder für eine Dampflokomotive. Außerdem hatte er paranoische Halluzinationen, Blickfeldverengungen, Halluzinationen des Geschmacks-, Geruchs- und Gesichtssinns, pseudotuberkulöse Lungenkongestionen, Kopfschmerzen, Bauchweh, Verstopfung, Anorexie, Bulimie und Lethargie, Kleptomanie...«

»Kurzum«, schloss Bourru, »ein normaler Befund. Aber anstatt nun auf Hypnose zu rekurrieren, haben wir am rechten Arm des Patienten eine stählerne Schiene angelegt, und siehe da, auf einmal erschien er uns wie durch Zauber als eine neue Person. Paralyse und Gefühllosigkeit waren auf der rechten Seite verschwunden, um sich auf die linke zu verlagern.«

»Wir standen vor einem anderen Menschen«, präzisierte Burot, »der sich an nichts von dem erinnerte, was er eben noch gewesen war. In einem seiner Zustände war Louis abstinent und im anderen wurde er geradezu trunksüchtig.«

»Man beachte«, ergänzte Bourru, »dass die magnetische Kraft einer Substanz auch auf Distanz wirkt. Zum Beispiel stelle man, ohne dass der Patient es weiß, ein Fläschchen mit einer alkoholischen Substanz unter seinen Stuhl. In diesem Zustand des Somnambulismus wird der Patient alle Symptome der Betrunkenheit zeigen.«

»Sie sehen, dass unsere Praktiken die psychische Unversehrtheit des Patienten respektieren«, schloss Burot. »Hypnose raubt dem Patienten das Bewusstsein, während beim Magnetisieren keine heftige Erschütterung eines Organs stattfindet, sondern eine zunehmende Aufladung der Nervengeflechte.«

Dieses Gespräch brachte mich zu der Überzeugung, dass Bourru und Burot zwei Spinner waren, die arme Geistesverwirrte mit ätzenden Substanzen quälten, und in dieser Überzeugung wurde ich bestärkt, als ich den am Nebentisch sitzenden Dr. Du Maurier, der dem Gespräch gefolgt war, mehrmals den Kopf schütteln sah.

»Lieber Freund«, erklärte er mir zwei Tage...

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Autor

Umberto Eco wurde am 5. Januar 1932 in Alessandria (Piemont) geboren und starb am 19. Februar 2016 in Mailand. Er zählte zu den bedeutendsten Schriftstellern und Wissenschaftlern der Gegenwart. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt u.a. der Roman Nullnummer (2015), Pape Satàn (Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen, 2017), Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis (2019), Der ewige Faschismus (2020) und Der Name der Rose (Jubiläumsausgabe, 2022).