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Der Seiltänzer

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Hoffmann und Campe Verlagerschienen am28.09.2011
'Warum hast du diesen Weg eingeschlagen? Was fasziniert dich an der Welt der Riten, der Heiligen und des Kreuzes?' Voller Sorge und Empörung fordert der Priester Andreas Wingert von der Kanzel herab Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche - bis er selbst unter Verdacht gerät. Nun sucht er Rat und Hilfe bei seinem Freund aus Kindertagen, aber Thomas liegt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus. Auf der Rückfahrt von einem Besuch bei Thomas erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, als Thomas und er unzertrennlich waren, an die siebziger Jahre in Berlin und Köln, Wales und München. Danach schlägt Andreas einen ungewöhnlichen Weg ein: Fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche, geht er ins Priesterseminar, während Thomas heiratet und als Geisteswissenschaftler Karriere macht. Die Anfechtungen des Alltags und des modernen Lebens, das Verzicht kaum noch kennt, werden Andreas zur ständigen Herausforderung. Michael Göring erzählt von einer großen, lebenslangen Freundschaft, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters heute.

Michael Göring, geboren 1956 in Lippstadt/Westfalen, ist seit 2005 Vorsitzender des Vorstandes der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in Hamburg und Honorarprofessor der Forschungsstelle Stiftungswesen am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. 'Der Seiltänzer' ist sein erster Roman.
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Produkt

Klappentext'Warum hast du diesen Weg eingeschlagen? Was fasziniert dich an der Welt der Riten, der Heiligen und des Kreuzes?' Voller Sorge und Empörung fordert der Priester Andreas Wingert von der Kanzel herab Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche - bis er selbst unter Verdacht gerät. Nun sucht er Rat und Hilfe bei seinem Freund aus Kindertagen, aber Thomas liegt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus. Auf der Rückfahrt von einem Besuch bei Thomas erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, als Thomas und er unzertrennlich waren, an die siebziger Jahre in Berlin und Köln, Wales und München. Danach schlägt Andreas einen ungewöhnlichen Weg ein: Fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche, geht er ins Priesterseminar, während Thomas heiratet und als Geisteswissenschaftler Karriere macht. Die Anfechtungen des Alltags und des modernen Lebens, das Verzicht kaum noch kennt, werden Andreas zur ständigen Herausforderung. Michael Göring erzählt von einer großen, lebenslangen Freundschaft, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters heute.

Michael Göring, geboren 1956 in Lippstadt/Westfalen, ist seit 2005 Vorsitzender des Vorstandes der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in Hamburg und Honorarprofessor der Forschungsstelle Stiftungswesen am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. 'Der Seiltänzer' ist sein erster Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783455810202
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2011
Erscheinungsdatum28.09.2011
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1036924
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Es hatte zu regnen begonnen. Ein gleichmäßiger Landregen mit großen Tropfen, wie er diesen Teil Westfalens immer wieder heimsucht. Entgegenkommende Wagen, die das Licht eingeschaltet hatten, blendeten ihn. Die Scheibenwischer schlugen gleichmäßig im Takt. Langsame Herzfrequenz.

Andreas hatte Langenheim bereits hinter sich gelassen, als im Autoradio noch die 17-Uhr-Nachrichten liefen. Ein Journalist des WDR beendete seinen ausführlichen Kommentar über die Wahl des neuen und den überraschenden Abgang des alten Bundespräsidenten mit der ironischen Floskel: »Ich bin dann mal weg.« Als ob das so einfach wäre. Viel Zeit für den Besuch bei seinem Vater würde Andreas nicht bleiben, schon am Vormittag musste er zur Beerdigung von Maria Strate zurück in Waldenburg sein, in den Diensten seiner Gemeinde St. Laurentius. Er stellte das Radio ab, lauschte dem Takt der Scheibenwischer und beschleunigte den Wagen. »Ich bin dann mal weg«, dachte er und sah vor seinem inneren Auge den Sarg von Frau Strate in der Friedhofskapelle, die Trauergemeinde in den Bankreihen, doch sein Platz am Altar war leer. Da schlurfte die alte Strate mit ihrem Rollator nach vorn, reckte ein Holzkreuz in die Höhe und rief: »Wo ist er denn, unser Herr Pfarrer, wo versteckt er sich denn?« Andreas lachte über sein Phantasiebild. Endlich konnte er sich einmal seinen Tagträumereien hingeben, jetzt, wo er sich dazu entschlossen hatte, mit seinem Vater zu reden. Er hätte dem Achtzigjährigen die Aufregung und sich selbst all die unschönen Erklärungen gern erspart. Aber wen konnte er sonst um Rat fragen? Diese verrückten Vorwürfe der Frau Wahnmut! Und er musste ihm von Thomas berichten. Gleich nach seinem Besuch in der Uniklinik in Münster, das Bild des Freundes im Krankenbett auf der Intensivstation noch vor Augen, hatte er den Entschluss gefasst, direkt zum See zu fahren, um seinen Vater zu besuchen, statt den Abend allein in seinem Pfarrhaus in Waldenburg zu verbringen. Allein mit diesen Krankenhausbildern und diesen Ängsten. Thomas war gerade erst fünfzig geworden, und er hatte auch sonst im Leben nicht nur Glück gehabt. Ausgerechnet er musste nun so früh einen Infarkt bekommen.

Doch zuerst hatte Andreas mit Lisa gesprochen. Sie war überrascht, ihn so unerwartet an ihrem Arbeitsplatz in der Jugendpsychologie in Brilon am Telefon zu haben, und sie war leider nicht allein in ihrem Dienstzimmer, sodass sie sich nur schnell, ohne große Erklärungen, für 18.30 Uhr am Höhleneingang der Warsteiner Tropfsteinhöhle verabredeten. Das lag auf dem Weg zu seinem Vater, der mit Regine ins Sauerland gezogen war, nachdem er seine Praxis in Langenheim aufgegeben hatte. Das Haus seines Vaters, das »Haus mit Seeblick«, wie Regine immer wieder betonte, lag am Hennesee. Es war nur ein schlichter Stausee, aber immerhin ein See mit Segelbooten, einer bescheidenen Anmutung von Eleganz in dieser doch eher spröden Region Deutschlands. Zehn Jahre lebte sein Vater mit Regine nun schon dort, gut siebzig Kilometer von Andreas entfernt.

»Ist was nicht in Ordnung? Bist du krank?«, hatte er gefragt, als Andreas seinen überraschenden Besuch ankündigte. Andreas war im letzten Jahr selten dort gewesen und kein einziges Mal über Nacht geblieben, weil sich Regines fortschreitende Demenz kaum länger als einen halben Tag ertragen ließ. Sein Vater hatte einen Fehler gemacht, damals mit ihr an den Hennesee zu ziehen, doch es war Regines sehnlichster Wunsch gewesen. In Langenheim hätten sie sehr viel mehr Abwechslung gehabt. Jetzt war es nur eine Frage der Zeit, bis Regine nicht mehr zu Hause gepflegt werden konnte.

»Ich komme gerade aus dem Krankenhaus, Vater. Thomas hatte einen Herzinfarkt. Die Ärzte sind zuversichtlich, aber er sieht schlimm aus!«

»Einen Herzinfarkt! Thomas? Das ist ja furchtbar! Kann ich etwas tun? Weißt du, wie schlimm es ist? Ich werde gleich morgen versuchen, den behandelnden Arzt zu erreichen«, sagte er in alter Entschiedenheit, obwohl er ja schon lange nicht mehr praktizierte.

»Er ist in Münster in der Uniklinik, Vater, die wissen dort, was sie tun«, sagte Andreas und hoffte, dass er seinen Vater damit von einem Anruf würde abhalten können.

»Ihr seid doch noch so jung, viel zu jung für einen Herzinfarkt. Hatte Thomas beruflich zu viel Stress?«

»Glaub' ich nicht, Vater, er hatte sich längst mit der Fachhochschule arrangiert, er hat an einer größeren Publikation gearbeitet.«

»Hatte er vorher schon Beschwerden?«

»Nicht dass ich wüsste, Vater, der Infarkt kam wohl völlig überraschend. «

Insgeheim wartete sein Vater seit Monaten auf ein Signal von ihm, ein Signal, ob er zu ihm nach Waldenburg ziehen könne, sobald sich Regines Zustand verschlechtern würde. Andreas hatte sich bisher vor einer Entscheidung gedrückt, und Annette hatte es gleich abgelehnt, ihren Vater bei sich aufzunehmen. Als Andreas kurz nach Ostern bei ihr in München war und sie über Vaters Zukunft sprachen, sagte sie nur: »Wir haben gar nicht den Platz.« Das war nur die halbe Wahrheit. Annette hatte seit Mutters Tod und erst recht seit Vaters Hochzeit mit Regine kein inniges Verhältnis mehr zu ihm gefunden.

Andreas überholte einen Bierlastzug. Er drückte das Gaspedal ganz durch. Der Laster war länger als gedacht, sein Golf eher brav motorisiert. Vor ihm lag die erste längere Steigung. Der erste Höhenzug des Sauerlandes zwang die Bundesstraße jetzt zu einigen Windungen. Immer wieder gab es Überholverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die parallel laufende Bahnstrecke trennte sich vom Straßenverlauf, nahm größere Kurven, längere Anläufe, um von 75 auf gut 400 Höhenmeter zu gelangen. Mehrfach würde die Bahnstrecke die Bundesstraße kreuzen. Vor dreißig Jahren hatte er Silke mit seinen Überholmanövern auf dieser Straße oft erschreckt. Der rote Käfer, den er damals fuhr, hatte kaum Reserven, aber die Lastwagen waren auch um einiges langsamer und kürzer. Für einen Moment stellte er sich vor, er würde seinen fünfzigsten Geburtstag in zwei Wochen mit Silke an seiner Seite feiern, auf der Terrasse eines kleinen bescheidenen Reihenhauses und umgeben von ihren drei oder vier Kindern, statt im großen Garten des Pfarrhauses in Waldenburg mit dem Pfarrgemeinderat und den treuen Mitgliedern der Laurentiuskirche. Vielleicht würde es aber gar keine Geburtstagsfeier geben, wenn diese verrückten Missbrauchsvorwürfe der Wahnmut erst einmal in die Welt getragen wären.

Thomas und er waren für kommenden Mittwoch verabredet gewesen, um die Vorwürfe in Ruhe durchzugehen und Strategien zu entwickeln. Jetzt würde Thomas nicht einmal zu seinem Geburtstag kommen können, er würde in zwei Wochen sicher noch im Krankenhaus liegen oder bestenfalls gerade eine erste Rehamaßnahme beginnen. Als Ratgeber waren ihm nur sein Vater und Lisa geblieben, die er beide nur ungern belästigte. Doch die Gespräche waren dringlich, nachdem vor einigen Tagen auch noch diese unseligen Fotos aus dem Jungencamp aufgetaucht waren. Alles völlig harmlos, aber was galt in dieser aufgepeitschten Atmosphäre schon als harmlos?

Silke hatte er zu seinem Geburtstag nicht eingeladen. Genauso wenig wie Lisa, mit ihr würde er etwas später allein feiern, in einem Hotelzimmer, wie immer. Aber warum hatte er nicht an Silke gedacht? Der Fünfzigste war doch eine wunderbare Gelegenheit für solche Treffen. Und eine alte Freundin, eine Schulkameradin einzuladen, galt auch beim Geburtstag eines katholischen Priesters als unverfänglich. Sie hatten sich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, aber Jahr für Jahr Weihnachtskarten ausgetauscht, denen Silke immer eine Seite mit knappen Familiennachrichten beigefügt hatte.

Thomas und er waren achtzehn und bereiteten sich auf das Abitur vor, als sie Silke eines Abends im Chassis kennenlernten, der wichtigsten Disco der Stadt. Andreas wollte gerade gehen, als Thomas das auffallend blonde Mädchen auf der Tanzfläche ansprach. Thomas und Silke tanzten dann wie zwei Derwische aus Tausendundeiner Nacht noch eine Stunde lang, und er sah ihnen dabei zu. In den kommenden Monaten trafen sie sich oft zu dritt, im Café, im Chassis, im Kino.

Als sie das Abitur in der Tasche hatten und Andreas kurz vor Beginn seines Zivildienstes stand, machten Silke und er eine große Radtour. Fünf Tage fuhren sie durch Schleswig-Holstein. Thomas wollte eigentlich mitkommen, hatte sich aber zwei Tage vorher den Fuß verstaucht. Silke entschied, dass sie dennoch fahren würden, und ihre Eltern hatten nichts dagegen, obwohl sie noch keine achtzehn war. Sie fuhren mit dem Zug nach Plön und übernachteten in der Jugendherberge. Gleich am nächsten Tag, ihrem ersten Radeltag, überraschte ihn Silke mit einem weiten weißen Rock. Die blaue Latzhose, die sie sonst immer trug, war im Gepäck geblieben. Für Regentage. Andreas ließ sie vorfahren. Silke hatte ihre halblangen blonden Haare für die Radtour zu einem Zopf gebunden, der ihr großartig stand. Ein hellgolden leuchtender Zopf, ein blaues T-Shirt und ein weiter weißer Rock! Als er hinter ihr herradelte, spürte er eine große Sehnsucht: Mit dieser Frau würde alles leicht werden. Da war es doch, dieses große Gefühl zu einer Frau, das er oft vermisst hatte und das doch alles ändern konnte. Er hatte sich geirrt! Hier, vor ihm, fuhr das Leben. Es gab keinen Zweifel!

In Heiligenhafen gingen sie nicht in die Jugendherberge, sondern in eine kleine Pension. Die Wirtsleute wollten Silkes Personalausweis gar nicht erst sehen. Am nächsten Tag schrieb Andreas eine Postkarte an Thomas. »Gestern Nacht war es so weit« war alles, was auf der Karte stand.

Silke hatte ihm zu Weihnachten geschrieben, dass ihre Älteste nun im Staatsexamen stand, der Junge machte ein Auslandsjahr in Australien. Sie hatte einen Mathematiker...

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Autor

Michael Göring, geboren 1956 in Lippstadt/Westfalen, ist seit 2005 Vorsitzender des Vorstandes der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in Hamburg und Honorarprofessor der Forschungsstelle Stiftungswesen am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. "Der Seiltänzer" ist sein erster Roman.