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Lebt wohl, Genossen!

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
174 Seiten
Deutsch
Beck C. H.erschienen am26.01.20121. Auflage
Vor gut zwanzig Jahren, im Dezember 1991, hat Gorbatschow das Ende der Sowjetunion verkündet. Dieses einschneidende Ereignis der Weltgeschichte ist Anlass für eine große filmische Retrospektive (ARTE, 6 Folgen, Sendebeginn im Januar 2012). Und Anlass für den Schriftsteller György Dalos - den Film begleitend - Glanz und Untergang dieses historischen Experiments näher zu beleuchten. Nur 16 Jahre nach dem Höhepunkt der sowjetischen Machtausdehnung 1975, als fast die Hälfte der Weltbevölkerung in ihrem Einflussbereich lebte, kam das unspektakuläre Ende. Welche Kräfte dazu beitrugen oder welche Episoden am Rande die Risse offenbar werden ließen - in einer außergewöhnlichen chronologischen Erzählung wird der Sowjetunion und ihrer Satelliten noch einmal gedacht.


György Dalos, 1943 in Budapest geboren, lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1995 der «Adelbert-von-Chamisso-Preis», 2000 die «Goldene Plakette der Republik Ungarn» und 2010 der «Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung».
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Produkt

KlappentextVor gut zwanzig Jahren, im Dezember 1991, hat Gorbatschow das Ende der Sowjetunion verkündet. Dieses einschneidende Ereignis der Weltgeschichte ist Anlass für eine große filmische Retrospektive (ARTE, 6 Folgen, Sendebeginn im Januar 2012). Und Anlass für den Schriftsteller György Dalos - den Film begleitend - Glanz und Untergang dieses historischen Experiments näher zu beleuchten. Nur 16 Jahre nach dem Höhepunkt der sowjetischen Machtausdehnung 1975, als fast die Hälfte der Weltbevölkerung in ihrem Einflussbereich lebte, kam das unspektakuläre Ende. Welche Kräfte dazu beitrugen oder welche Episoden am Rande die Risse offenbar werden ließen - in einer außergewöhnlichen chronologischen Erzählung wird der Sowjetunion und ihrer Satelliten noch einmal gedacht.


György Dalos, 1943 in Budapest geboren, lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1995 der «Adelbert-von-Chamisso-Preis», 2000 die «Goldene Plakette der Republik Ungarn» und 2010 der «Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung».
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406621796
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum26.01.2012
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.1996
Seiten174 Seiten
SpracheDeutsch
Illustrationenmit 65 Abbildungen
Artikel-Nr.1050190
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

II.
KRÄNKELNDE STAATSMÄNNER,
MARODE STAATEN
 (1980-1985)

Bereits der erste Mensch war krank, obwohl er dissimulierte,
und selbst dem Schöpfer ging es schlecht, als er die Welt kreierte.
Verzweifeln Sie doch bitte nie, das macht alles zunichte!
Des Landes ganze Historie ist eine Krankengeschichte.

Wladimir Wyssozki, Barde
DIE «POLNISCHE LÖSUNG» - VERSUCH EINER MILITÄRDIKTATUR

Am frühen Sonntagmorgen des 13. Dezember 1981 erschien im polnischen Fernsehen ein uniformierter Moderator und sagte eine Erklärung des KP-Chefs, Ministerpräsidenten und Verteidigungsministers General Jaruzelski an. Dieser verkündete in einer kurzen Rede die Gründung eines «Militärrates der nationalen Errettung» (WRON) und die Verhängung des Kriegsrechts. Polen stehe «am Rand eines Abgrunds», sei durch «Chaos und Demoralisierung» bedroht, «ein Weiterbestehen dieses Zustandes würde unweigerlich zur Katastrophe führen». 5000 Oppositionelle und SolidarnoÅc-Aktivisten wurden verhaftet oder interniert, Gewerkschaftsführer Lech WaÅÄsa unter Hausarrest gestellt. Die Militärs besetzten alle strategischen Punkte, patrouillierten auf den Straßen und verfügten ein Ausgehverbot in den späten Abendstunden. Telefonverbindungen wurden für 29 Tage eingestellt, und selbst danach konnte mitten im Gespräch eine Tonbandstimme warnen: «Dieses Gespräch wird abgehört.» In den darauffolgenden Auseinandersetzungen wurden elf Personen von den Spezialeinheiten des Innenministeriums ZOMO getötet. Die Weltöffentlichkeit war empört und sprach von sowjetischem Druck, der diesen Schritt erwirkt habe. Der Westen reagierte mit einem Kreditboykott gegen praktisch alle Ostblockstaaten.


Zum Polenbesuch des Papstes Johannes Paul II. im Sommer 1982 ließ die Untergrund-SolidarnoÅc diese Postkarte drucken


Die Einführung einer Militärdiktatur im zweitgrößten Land des Warschauer Vertrags bedeutete nach Ungarn 1956 und der ÄSSR 1968 zunächst das Scheitern des dritten Versuches, Änderungen gegen die KP und die sowjetischen Machthaber durchzusetzen. Dennoch: Zum ersten Mal war die Niederschlagung nicht mit einer direkten sowjetischen Präsenz verbunden - man sprach vielmehr von einer «Autoinvasion». Die Konflikte zwischen Staat und Gesellschaft in Polen wurden mit der diskreten Vermittlung der katholischen Kirche ausgetragen, und es war klar, dass die Gewerkschaftsbewegung zwar geschwächt, nicht aber vernichtet werden konnte. Polnische Untergrundstrukturen - Gewerkschafts- und Oppositionsgruppen, Verlage, Journale und «freie Universitäten» - zählten laut Geheimdienstberichten Mitte der Achtzigerjahre 40.000 Mitglieder.

Zudem wurde die wirtschaftliche Lage des Landes, auch durch den weltweiten Boykott des tief verschuldeten Staates, immer schwieriger. 1985 erreichte die Verschuldung pro Kopf der Bevölkerung 893 US-Dollar und fraß 252 Prozent der Exporterlöse. Im Konsumbereich herrschte außerhalb der Schattenwirtschaft eine elementare Lebensmittelknappheit. So gab es im schlesischen Wintersportort Szczyrk in den Beskiden eine Drahtseilbahn zwischen zwei Bergen. An beiden Stationen stand ein Büfett, an dem die Wintertouristen bei Eiseskälte ausschließlich Tee und Krautsuppe bekamen. So hofften und beteten die Polen den nächsten Papstbesuch herbei. Dieser folgte im Juni 1983 und endete mit einem Treffen Johannes Pauls II. mit dem immer noch stark isolierten Gewerkschaftsführer Lech WaÅÄsa. Schon bald nach diesem Ereignis wurde das Kriegsrecht offiziell aufgehoben.
DER SCHLECHT VERSCHLEIERTE BANKROTT - UNGARN

Ungarn, das Land des «Gulaschkommunismus», befand sich früher und in einem höheren Maße in der Schuldenfalle als alle anderen Ostblockstaaten. Die Verschuldung pro Kopf der Einwohner betrug 1985 immerhin 1311 US-Dollar. Die Besonderheit des Donaustaates bestand nach wie vor darin, dass eine relative innere Liberalität herrschte, der intellektuelle Dissens zunehmend geduldet wurde und eine ängstliche, aber sichtbare Annäherung an den Westen erfolgte. So trat Ungarn 1981 dem Internationalen Währungsfonds bei - ein Schritt, dessen Vorbereitung angeblich mit strengster Geheimhaltung gegenüber den Sowjets erfolgte.

Trotzdem wurde Ungarn im August 1982 zahlungsunfähig und war bis zuletzt auf Dollarinjektionen des Westens angewiesen. Bei einem internen Dissidententreffen wurde der Ökonom Pál Juhász gefragt, ob die demokratische Opposition unter Umständen die Reformbestrebungen der Regierung unterstützen sollte oder nicht. Er antwortete, das sei völlig egal. Selbst wenn das System sofort mit den Reformen beginnen würde, prophezeite er, dass die Sanierung ungefähr bis 1997 dauern würde. Diese Vorhersage entpuppte sich letztendlich als zu optimistisch.

Tatsächlich war es bereits fünf vor zwölf: Mit dem bereits auf elf Milliarden Dollar angestiegenen Schuldenberg erwies sich das Land als zahlungsunfähig und hielt sich in diesem unangenehmen Schwebezustand bis zum Ende des Jahres 1982, als es endlich den Überbrückungskredit vom IWF abrufen konnte. Anderthalb Jahre später erinnerte sich der stellvertretende Ministerpräsident Ferenc Havasi in einem Fernsehinterview an diese Zitterpartie: «Wissen Sie, damals befand sich unsere Wirtschaft im Zustand des klinischen Todes.» Der Journalist Tamás Vitray kommentierte kopfschüttelnd: «A betyárját!» (etwa: Heiliger Strohsack!). Dieses augenzwinkernde Hinwegwitzeln über die drohende Katastrophe, dieses gemütliche Vabanquespiel à la Adelskasino war der speziell ungarische Beitrag zum Untergang des osteuropäischen Sozialismus - die Apokalypse in der Operettenversion.


Eine ungarische Erfindung, die die Welt eroberte: der Rubikwürfel


Die triste Wirtschaftslage war durch die immer lascher werdende Zensur schwer zu verheimlichen und bedrohte den unausgesprochenen Konsens zwischen der Gesellschaft und ihrer Führungsspitze. Der einzige Faden, der die eine mit der anderen verband, war das Materielle. Die offizielle Ideologie interessierte in den Achtzigerjahren fast niemanden mehr.

Die erste Hälfte der Achtzigerjahre stand noch ganz im Zeichen der Ära Kádár: Der über 70 Jahre alte Partei- und Staatsführer galt als «guter König», und die verhältnismäßig saturierte Mittelklasse war mit Aerobic beschäftigt und kaufte bei Westbesuchen die dazu notwendige Ausstattung. Allerdings schaute die Führung nicht bei allem tatenlos zu. Versuche zum Beispiel, den Nudismus in der Nähe von Délegyháza unter dem Namen «Naturalismus» neu zu beleben, stießen auf den Widerstand der Polizei. Ebenso wurde ein Treffen ungarischer und westlicher Friedensaktivisten durch Ordnungskräfte aufgelöst. Trotzdem erwies sich das Kádár sche Ungarn in den Achtzigerjahren immer noch als Bastion der kleinen Freiheiten mit einer besonderen kulturellen Ausstrahlung: 1981 erhielt der Trickfilmregisseur Ferenc Rófusz für sein dreiminütiges Werk «Die Fliege» einen Oscar. Ein Jahr später durfte István Szabó für seinen «Mephisto» die goldene Statue entgegennehmen.

Als wahrer Welterfolg erwies sich aber der Zauberwürfel des Architekten ErnÅ Rubik: Das sechsfarbige Geduldsspiel wurde 1975 vollendet und vom Budapester Patentamt 1977 genehmigt, sein Weg zum Welterfolg erwies sich jedoch als steinig. Bürokratie und Inkompetenz der zuständigen Behörden führten dazu, dass die Erfindung erst relativ spät auf den Weltmarkt kam. Ungarn war außerstande, die bestellten zwei Millionen Exemplare zu liefern, und schloss einander widersprechende Lizenzverträge mit westlichen Partnern ab. Gleichzeitig begannen fernöstliche Firmen mit der «schwarzen» Massenproduktion des Würfels, dessen insgesamt 100 Millionen Exemplare weder dem Erfinder noch dem Staat den zu erwartenden Gewinn sichern konnten. Der Volksmund reagierte auf dieses Desaster mit dem Witz: «Was ist ein kommunistischer Zauberwürfel? Er hat sechs Seiten, alle sind rot, und man kann sie trotzdem nicht zusammenbringen.»

Die drei kritischen Strömungen - Dissidenten, nationale gesinnte «volkstümliche» Intellektuelle und Reformökonomen - trafen sich im Sommer 1985 in Monor und führten dort Gespräche über die keineswegs rosig erscheinende Zukunft des Landes, die nach den damaligen Gesetzen als illegal galten. Nach Aussagen von Sicherheitsleuten waren unter einigen Stühlen der 45 Teilnehmer Abhörgeräte befestigt, die Führung saß also praktisch mit am Tisch. Es zeichnete sich so etwas wie ein Minimalkonsens über die Notwendigkeit von Reformen ab. Die Wirtschaftswissenschaftler arbeiteten bereits an ihrem Papier «Reform und Wende», das sie jedoch erst Jahre später veröffentlichen...
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Autor

György Dalos, 1943 in Budapest geboren, lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1995 der «Adelbert-von-Chamisso-Preis», 2000 die «Goldene Plakette der Republik Ungarn» und 2010 der «Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung».