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Nichts Weißes

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
259 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am13.08.20122. Auflage
Der Roman einer Generation, für die das Hereinbrechen des Computerzeitalters identisch ist mit dem eigenen Erwachsenwerden. Randscharf, raffiniert, brillant. Dies ist die Geschichte von Marleen, die sich, noch ehe sie lesen lernt, in die Welt der Buchstaben verliebt. Hineingeboren in eine erfolgreiche Werber- und Illustratorenfamilie, träumt sie früh von wahrhaft Großem: der perfekten Schrift. An der Kunsthochschule hat sie Rückenwind, kann Marleen sich selbst Kontur verleihen. Ihr Pioniergeist treibt sie voran, bald steckt sie mittendrin in der Jobwelt der Achtziger - und erliegt deren Verheißungen. Die Medien erfahren einen Schub, plötzlich geht alles rasend schnell, schon hat man den Halt verloren. Sie muss erste Rückschläge einstecken, berufliche wie private. Flexibilität ist gefragt, schon in den Anfangszeiten der Globalisierung, und Marleen gibt sich flexibel, koste es, was es wolle - in der Hoffnung, dass ihr Traum weniger flüchtig ist als die Welt, gegen die es gilt, ihn wahrzumachen.


Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman Hamburger Hochbahn stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien Nichts Weißes, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDer Roman einer Generation, für die das Hereinbrechen des Computerzeitalters identisch ist mit dem eigenen Erwachsenwerden. Randscharf, raffiniert, brillant. Dies ist die Geschichte von Marleen, die sich, noch ehe sie lesen lernt, in die Welt der Buchstaben verliebt. Hineingeboren in eine erfolgreiche Werber- und Illustratorenfamilie, träumt sie früh von wahrhaft Großem: der perfekten Schrift. An der Kunsthochschule hat sie Rückenwind, kann Marleen sich selbst Kontur verleihen. Ihr Pioniergeist treibt sie voran, bald steckt sie mittendrin in der Jobwelt der Achtziger - und erliegt deren Verheißungen. Die Medien erfahren einen Schub, plötzlich geht alles rasend schnell, schon hat man den Halt verloren. Sie muss erste Rückschläge einstecken, berufliche wie private. Flexibilität ist gefragt, schon in den Anfangszeiten der Globalisierung, und Marleen gibt sich flexibel, koste es, was es wolle - in der Hoffnung, dass ihr Traum weniger flüchtig ist als die Welt, gegen die es gilt, ihn wahrzumachen.


Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman Hamburger Hochbahn stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien Nichts Weißes, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518790403
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum13.08.2012
Auflage2. Auflage
Seiten259 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1195239
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Bleisatz

Dies ist der Moment, in dem aus den aufgeschwungenen Türen der Waggons Menschen heraussteigen, einige wenige, denkt man zuerst, schon Sekunden später mehr, als man zählen kann, gefolgt von dem Gefühl, dass die erwartete Person nicht dabei sei, man würde sie spüren. Auf dem Bahnsteig steht man immer falsch, vorn oder hinten, weil der Zug so lang ist, dass er die Leute am anderen Ende zu schattenhaften Winzlingen macht, und falsch in der Mitte, weil man sich hin- und herwenden muss; schon ist die Ankommende auf der Treppe verschwunden. Menschen reichen sich die Hände, höfliche und stürmische Umarmungen rechts und links. Der Bahnsteig lichtet sich. Dann, genau dort, wo Marleen wie angewurzelt steht, steigt die Schwester als Letzte aus dem Zug, ein Hauch von Madonna, und darunter ihre leichte, aber unlenkbare Mädchenhaftigkeit, Aquarellspuren von Traurigkeit in den Augen, das bemerkt Marleen sehr wohl, als die Blicke der Schwestern sich begegnen. Sie umarmen sich, als hätten sie sich Monate nicht gesehen.

Zwei Wochen zuvor, die beiden Schwestern noch zu Haus, Neuss, Pomona 133: Marleen geht auf die steinerne Treppe mit dem weißen Metallgeländer und der schwarzen Kunststoffreling zu, als das Telefon klingelt. Cristina nimmt ab, Marleen ist schon halb oben, als die Schwester ruft, »Ein Herr Wolbe für dich.« Marleen nimmt den Hörer von der Schwester durch das Metallgeländer entgegen und setzt sich auf die Treppe, die der Düsseldorfer Architekt absichtlich breit gezogen hat. Getönt hat er damals, »Kommste op emol rop un runger«.

»Hier ist Marleen Schuller.«

Wem, wenn man Großes vorhat, schüttet man sein Herz aus? Nicht einmal ihrer eigenen Mutter würde Marleen gestehen, dass sie sich berufen fühlt, eine Schrift zu entwerfen, die alle Vorzüge aller existierenden Schriften hat und alle Nachteile Buchstabe für Buchstabe überwindet. Wenn es gelänge, würde die Futura im Vergleich aussehen wie Lego, die Helvetica wie Angst, die Garamond wie geschnitzt. Eine Schrift ohne Stil soll es sein, eine Schrift, die man gar nicht bemerkt. So etwas wie die neue, weiße Ware im Supermarkt, da steht »Zucker« drauf oder »Salz«, kein Bild, nichts. Es ist auch nicht so, als hätte Marleen etwas darüber in ihr Tagebuch geschrieben, sie führt gar keins, oder unvorsichtig erwähnt in einem Brief an die Großmutter in Gruiten, das würde ihr nicht passieren. Sie ahnt, dass ihr Plan Hohn auf sich ziehen könnte, je mehr, desto weniger einer von der Sache versteht. Deshalb hat sie sich in Kassel eingeschrieben und bei Volpe um ein Praktikum beworben. Der druckt noch Bücher wie früher, der Einzige in der Republik. Sieht ein bisschen altmodisch aus das Zeug, aber macht ja nichts.

»Volpe. Ich habe Ihren Brief bekommen. Ich sage Ihnen gleich, dass ich nicht weiß, wie wir Sie einsetzen können. Aber es gibt genug zu tun. Fünfzehnhundert Mark für acht Wochen ist Maximum.«

»Das geht schon, Herr Volpe. Nur die Praktikumsbescheinigung ist wichtig.«

»Im Bleisatz mit Goldschnitt, wenn es sein muss. Rufen Sie mich an, wenn Sie da sind.«

Marleen sitzt auf der Treppe, es ist Juni. Sie strahlt. Sie leuchtet. Der Hörer schaukelt an der Spiralkordel, die sie mit links gedankenverloren hält. So einfach ist das, von zu Hause wegzukommen. Tut tut tut. Dass Cristina am Wandtelefon stehengeblieben ist, merkt sie erst, als die Schwester durch das Geländer greift, um den Hörer zurückzulegen.

Noch am selben Abend packte Marleen den dunkelblauen Kunstlederkoffer, den ihr Vater bei seiner Reise nach Indien zehn Jahre zuvor zurückgelassen hatte, und nahm in der Frühe die S-Bahn nach Köln. Sie musste sich zwingen, dem Dom beim Abschied nicht zuzuwinken. Das Abteilfenster, querformatig, doch leicht gerundet, das obere Drittel heruntergelassen, schloss Marleen bei flotterer Fahrt. Linksrheinisch ging es bis Mainz, durch die Agglomeration bis in die Eisenhalle des Frankfurter Hauptbahnhofs, Portal zur Welt mit Junkies, und dort sah sie im Schaufenster der Bahnhofsbuchhandlung 1984 liegen. Nur, weil man das Jahr 1984 zählte, deshalb. Im Eurocity nach Nürnberg las sie die ersten zwei Kapitel und ein drittes beim Warten auf dem Bahnsteig. Menschen mit dicken Gesichtern und schwerer Zunge im Zug nach Treuchtlingen, der pünktlich war, das war damals üblich, ratternd wie eine Fabrik, aber pünktlich. Auf dem letzten Teilstück Richtung Nördlingen wurde die Zeit eine andere. Nicht, dass man die Uhr umstellen musste, nur seinen Sinn für die Landschaft.

Ulrich Steidle nahm »das Fräulein Schuller« in Empfang und zeigte diesem sogleich »das Haus«, eine labyrinthische Manufaktur, eingefasst in schweres Mauerwerk. Da saßen wirklich die Setzer an Maschinen, neben sich einen Behälter mit flüssigem Blei. Da klapperte die Heidelberger Druckmaschine und spuckte Rohbögen aus, sechzehn Buchseiten in kurioser Anordnung auf einem Blatt wie ein Mosaik. Marleen hatte sich den Betrieb größer vorgestellt, dabei beschaulicher, Brunnen und Pferd im Hof, so ungefähr. Dies war eher die schematische Darstellung einer Druckerei aus dem Handbuch für Papier, Schrift und Druck bei der Großmutter Fleck in Gruiten, übertragen in die Wirklichkeit: die schnellste Art, mit herkömmlichen Mitteln zum Buch zu kommen. Der Drucker fragte sie, ob sie einen Rohbogen »mit nach Hause« nehmen wolle. Erst jetzt dachte sie an ihr Gepäck. Das lag immer noch auf dem groben Fliesenboden, wo sie es hingeworfen hatte (auch die Schultasche mit fünfhundert Mark von Mama drin), die Holztür zur Straße stand offen, Abendlicht fiel herein. Steidle und sie staunten gleichzeitig, wie es sie fortgetragen hatte reine Begeisterung. Er zeigte ihr die billigste Herberge, aber untersagte sich eine Einladung zum Essen. Als Marleen später einen Gasthof betrat, scheu, ihre Nase in den Raum zeigend wie ein Keil, hockte er allein an einem Tisch. Ohne zu fragen, setzte sie sich zu ihm.

Drei Tage haben sie Angst, die Berufsanfänger, dann kommt der Übermut. Bei Marleen war es nicht anders. Sie winkte den Lastwagen in die Einfahrt, der zehn Paletten frischer Druckbögen abholen sollte, um sie zum Buchbinder zu bringen. Dazu kam die flach bepackte Palette mit den Banderolen. Der Fahrer sprang aus dem Führerhaus »Heilandsack!« , baute sich vor ihr auf und erläuterte in tiefstem gurgelnden Schwäbisch: dass es nur drei Zeichen gebe. Arm nach rechts raus heißt nach rechts. Arm nach links raus heißt nach links. Beide hoch heißt Halt. Nicht rumhampeln dabei, und nur ein Zeichen zur Zeit. Am Ende stand der Lastwagen gerade und ließ die Stahlwand, die den Laderaum von hinten schloss, auf die Rampe sinken. Marleen griff nach einer Palette, die auf den Gabeln des Staplers bedrohlich schwankte: Grob fasste der Fahrer ihre Hand und riss sie zurück, während der Mann im Gabelstapler einen weiteren ihr unbekannten Fluch ausstieß. Erste Regel: Nie dich selbst gefährden!

Im Büro bekam sie dreihundert Mark Vorschuss. Den Rest des Tages sah sie den Setzern zu, Männern in Schürzen an Maschinen, die im 19. Jahrhundert erfunden worden waren, und so sahen die Dinger auch aus. Ein Klingeln, Scheppern und Wummern begleitete die Arbeit, die darin bestand, Textzeilen aus Blei herzustellen, die wie silberne Würmer ins Satzschiff schlüpften. Das hätte sie nicht gewusst, gestand sie Steidle. Sie hätte gedacht, die Buchstaben würden einzeln aus dem Setzkasten genommen und kombiniert.

»Werden sie auch, für die Titelei zum Beispiel. Aber für den eigentlichen Text wäre das viel zu langsam.«

»Stimmt.«

Am Abend isst sie Wurst und Brot auf dem Zimmer und sieht dabei auf die Gasse runter. Bei Dämmerung verlässt sie die Pension, geht bis zur Stadtmauer, sucht den Aufstieg und sieht sich fünf Jahrhunderte von oben an, jenseits der Mauer eine neuere Vorstadt, die auf die Kreisform der frühen Bebauung nicht mehr Bezug nimmt. Marleen macht ein Drittel der Runde und steigt am Turm in die Altstadt herab, Funzeln hinter Sprossenfenstern. Die kleinen Betriebe und Läden sind geschlossen, die Straßenlaternen werfen müde Kegel auf rissige Gassen. Aber es gibt da noch ein unwirkliches, kaltes Licht, das sie anzieht; dem versucht sie näher zu kommen. In einer Quergasse sind die Fassaden beleuchtet, als würde ein Film gedreht. Als sie dort einbiegt, liegt rechter Hand eine altertümliche, vollverglaste Fabrikhalle, in der riesige, blitzende Druckmaschinen stehen. Die Bögen werden vom Stapel gesaugt, eingefädelt, eingezogen, rasen durch die Walze, werden ausgespuckt, abgestoppt, eingefädelt Vier Maschinen hintereinander, am Ende der Stapel. Es geht schnell zischend, klickend, fauchend. Man kann mit den Augen kaum folgen. Es ist auch niemand mehr in der Halle. Die Einzige, die zuschaut, ist Marleen Schuller aus Neuss. Sie steht im grellen Schein und regt sich nicht. Wir sind froh, sie so zu sehen. Sie sieht glücklich aus.

Es ist Sommer, aber lieblicher als am Rhein. Man riecht, wie die Früchte reifen. Die Wolken lösen sich zu breiten Bändern, die später Schlaufen bilden, ein halbtransparenter Stillstand. Der Sonnenuntergang kommt etwas schneller als zu Haus, trotzdem bleibt es länger warm. Die Leute machen ein Spiel draus, wenn man fragt, wie die Landschaft heiße. Es ist nicht Franken und auch nicht Schwaben, sagen sie.

»Sie sind aber aus Schwaben, oder?«, fragt Marleen. (Schon macht sie das »oder« nach.)

»Noo gor net«, antwortet Steidle.

Er ist Hohenloher. Hohenloher sind keine Schwaben. Sie sind so anders, so besonders, dass man fast meinen könnte, sie wären das Gegenteil von Schwaben, ja noch nicht einmal wirklich zu...
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Kritik
»Ein solide gebautes Buch, ein Entwicklungsroman, historisch wertvoll, implizit gesellschaftskritisch, großzügig recherchiert, bewältigbar, schnörkellos, klar strukturiert mit einer auf Abstand gehaltenen und nicht zu exotischen Identifikationsfigur als Heldin. Wer liest, um lehrreich unterhalten zu werden, ist hier schon richtig.«mehr

Autor

Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman Hamburger Hochbahn stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien Nichts Weißes, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.