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Der Eindringling

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
291 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am22.10.2012Originalausgabe
Gerade ist Daniel aus der Provinz nach Berlin gezogen. Auch um sich Fil zu nähern, der für ihn bisher mehr ein Gerücht war als ein Vater. Aber ausgerechnet jetzt erkrankt dieser schwer, und wieder ist der Sohn allein: mit allen Fragen - und dem Schlüssel zu Fils Wohnung. Nur widerwillig dringt Daniel in das Leben des Vaters vor, zu Freunden, Leidenschaften und Idealen. Als ihm dann noch die eigensinnig mysteriöse Dem über den Weg läuft, weiß Daniel bald nicht mehr, was wahr ist und was zählt. Aus der Suche nach dem Vater wird eine Suche nach sich selbst, die Daniel quer durch Europa, von der Facebook-Gegenwart zum Westberliner Untergrund der achtziger Jahre führt. Doch wie kommt man von dort zurück? Als wer? Und wohin?

Raul Zelik erzählt von aufeinanderprallenden Welten, von Konsequenzen und Rücksichtslosigkeit, von Anpassung und Aufbegehren. Inmitten der Krise fragt er nach dem Wagnis eines anderen, besseren Lebens.



Raul Zelik, 1968 in München geboren, ist Schriftsteller und Politikwissenschaftler und publiziert seit vielen Jahren zu den sozialen Konflikten in Lateinamerika. Bis 2013 lehrte er als Associate Professor an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Seit 2016 ist er Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die Linke.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextGerade ist Daniel aus der Provinz nach Berlin gezogen. Auch um sich Fil zu nähern, der für ihn bisher mehr ein Gerücht war als ein Vater. Aber ausgerechnet jetzt erkrankt dieser schwer, und wieder ist der Sohn allein: mit allen Fragen - und dem Schlüssel zu Fils Wohnung. Nur widerwillig dringt Daniel in das Leben des Vaters vor, zu Freunden, Leidenschaften und Idealen. Als ihm dann noch die eigensinnig mysteriöse Dem über den Weg läuft, weiß Daniel bald nicht mehr, was wahr ist und was zählt. Aus der Suche nach dem Vater wird eine Suche nach sich selbst, die Daniel quer durch Europa, von der Facebook-Gegenwart zum Westberliner Untergrund der achtziger Jahre führt. Doch wie kommt man von dort zurück? Als wer? Und wohin?

Raul Zelik erzählt von aufeinanderprallenden Welten, von Konsequenzen und Rücksichtslosigkeit, von Anpassung und Aufbegehren. Inmitten der Krise fragt er nach dem Wagnis eines anderen, besseren Lebens.



Raul Zelik, 1968 in München geboren, ist Schriftsteller und Politikwissenschaftler und publiziert seit vielen Jahren zu den sozialen Konflikten in Lateinamerika. Bis 2013 lehrte er als Associate Professor an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Seit 2016 ist er Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die Linke.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518790304
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum22.10.2012
AuflageOriginalausgabe
Seiten291 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1214532
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
1;Cover ;1
2;Informationen zum Buch oder Autor
;2
3;Titel
;3
4;Impressum
;4
5;Der Eindringling;5
6;I;7
7;II;25
8;III;65
9;IV;79
10;V;107
11;VI;115
12;VII;157
13;VIII;191
14;IX;223
15;X;243
16;XI;277
17;Dank;291
18;Quellen;291
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Leseprobe




I




Als Daniel das Krankenhauszimmer betritt, fällt sein Blick zuerst auf den Bildschirm, den flimmernden Zeichentrickfilm, eigentlich hat der Vater nie Vormittagsfernsehen geschaut, und dann auf den Bettnachbarn, einen Mann, Mitte vierzig, blond, eine türkische Tageszeitung aufgeschlagen neben sich auf dem Bett, der still, zufrieden lächelt.

Weil er es hinter sich hat.

Hinter sich und überlebt.

Die Hand des Mannes, des Blonden, des Lesers der Hürriyet, gleitet am Saum des Pyjamas hinunter, an der Naht auf dem Brustbein entlang, mit den Fingerkuppen über den schwarzen, unter dem Wundverband hervorschimmernden Schorf. Es heißt, nach Herz- und Lungenoperationen würden die Rippen mit Metallklammern verhakt. Damit das Innerste nicht herausfallen, nicht aus dem Brustkorb stürzen kann.

Das Innerste.

Was ist das? Wo fängt eine Persönlichkeit an, ab welcher Stelle ist sie nicht mehr austauschbar, nicht mehr zu ersetzen?

Unter den Rippen schlägt das Herz.

Der Mann mit der frischen Naht, dem fahlen Gesicht, dem unter dem Wundverband hervorschimmernden Schorf, steht langsam auf, schreitet, das Gestell mit der Infusionsflasche hinter sich herziehend, durch den Raum, nickt Daniel noch einmal zu und verschwindet dann auf den Gang. Triumphierend, er hat es geschafft. Der Vater würde sagen: Man's death's end.

Ein Bypass, erklärt der Vater mit einem demonstrativen Grinsen, sein dritter. Der Mann mit der fahlen Haut, der blonde Türke, ein Türke, der deutscher aussieht als die meisten Deutschen, aber was heißt das schon?, merkt der Vater mit dünner Stimme an, sei als Notfall eingeliefert und sofort operiert worden, vor gar nicht langer Zeit, vor vier oder fünf Tagen, weil er seine Medikamente abgesetzt habe, eigenmächtig, was für ein Leichtsinn. Die Medikamente, fragt Daniel, blickt irritiert auf den Fernseher, Tom und Jerry, hört: Marcumar, als müsse man wissen, was das ist, und dann, als nachgeschobene Erklärung: Blutverdünner, muss man sein Leben lang nehmen.

Marcumar: Was weiß man als 25-Jähriger von lebenslänglich verschriebenen Medikamenten?

Wetten, dass der rauchen gegangen ist, sagt der Vater. Der weiß, was er will, auch wenn es für ihn das Falsche ist.??

Und dann versucht der Vater zu klingen, wie er früher klang: No risk, no fun.

Früher. Als Daniel in den Schulferien noch zum Vater nach Berlin fuhr: ein bemaltes Treppenhaus, der strenge Geruch von Hundepisse, die Aufhebung aller Regeln. Während sich die Klassenkameraden mit den Eltern, der Reihenhausbilderbuchfamilie, in Spanien in der Sonne aalten. Nach der Rückkehr erzählten sie stolz vom Süden, einem Strandurlaub, den alle machten, alle außer Daniel.

Er blickt am Krankenbett vorbei in den Park, wo sich Pappeln im Wind biegen, ihre Laubköpfe hin- und herwerfen. Ein herbstlicher Tag - dabei ist Juni.

Und?

Eigentlich keine Frage. Keine, auf die man eine Antwort erwartet. Der Vater atmet flach und zu schnell.

Was haben die Ärzte gesagt?

Daniel ahnt, was der Vater gleich antworten wird. Dass in Krankenhäusern nicht mehr viel geredet wird, seit die Norm-Visite auf 150 Sekunden beschränkt worden ist, die Sparpolitik in Kürze zur Einstellung jedes direkten Kontaktes zwischen Arzt und Patienten führen wird, die Finanzkrise noch dafür sorgen wird, dass zur Rettung des Kapitals Kranke zum kollektiven Exitus bewegt werden.

Was der Vater sagen würde, wenn er nicht so kurzatmig wäre.

Auf dem Rolltisch neben dem Krankenbett liegt ein Buch: Der Eindringling. Jean-Luc Nancy, ein philosophischer Verlag. Auf der Rückseite ist etwas von Fremdheit zu lesen, von Krankheit, einem transplantierten Organ.

Und Daniel denkt, dass auch das zu erwarten war: dass der Vater bei einer Krankheit genau so ein Buch lesen würde.

Immerhin liest er. Als Daniel acht oder neun war, schien es für den Vater nur risk and fun zu geben: Lebe wild und gefährlich.

Daniel blickt hinaus in den Park und hört das Rascheln der Pappeln durchs geschlossene Fenster. Ein Geräusch, das im Kopf entsteht. Das vom Bild sich biegender Pappeln ausgelöst und wie ein Tonband im Gehirn abgespielt wird. Denn tatsächlich ist es totenstill im Raum.

Totenstill.

Auch wenn der Vater in Daniels Leben keine große Rolle gespielt hat, sein Verschwinden gar nicht weiter auffallen dürfte, ist es doch nicht so, als ließe Daniel das unberührt.

 

Sie gehen gelb gestrichene Krankenhausgänge hinunter, Betten werden vorbeigeschoben. Leere, frisch bezogene Betten, deren letzte Belegung soeben entlassen wurde oder verstarb, Betten, in denen Patienten liegen, die mehr oder weniger zuversichtlich auf Heilung hoffen.

Ein eigenartiger Gedanke, dass Heilung nicht eintreten könnte. Dass es Krankheiten gibt, die mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tod führen. Was weiß man als 25-Jähriger vom Tod?

Aber weiß man mehr über ihn, wenn man 48 ist?

Sie fahren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und spazieren durch die ans Krankenhaus grenzenden Grünanlagen. An einem Kinderspielplatz vorbei, einem Piratenschiff mit Kettenseilzug, auf dem man sich selbst über einen Abgrund ziehen kann. Auf dem Daniel sich jetzt gern selbst über den Abgrund zöge.

Er fragt sich, ob der Vater das Krankenhaus überhaupt verlassen darf. Ob ihm nicht strengste Bettruhe verschrieben worden ist.

Der Vater, der Philippe heißt, aber von allen Fil genannt wird, sieht ein wenig aufgeschwemmt aus, durch Medikamente aufgedunsen, doch Daniel erkundigt sich nicht nach der Krankheit, weiß auch so, dass der Vater nur schlecht Luft bekommt, sein Kreislauf schwach ist, die Ärzte wenig Hoffnung auf eine baldige Genesung machen.

Daniel fragt nicht weiter nach und hat doch so viel verstanden, dass die entzündete Lunge sich verhärtet und ihr Volumen allmählich abnimmt, bis man erstickt.

Man.

Sie schreiten still nebeneinander her, das Rascheln der Pappeln ohrenbetäubend, und Daniel denkt: nicht der richtige Augenblick für Sentimentalitäten, große Vater-Sohn-Gefühle, denkt: es wäre Sache des Vaters, zu sprechen. Sich zu erklären, verständlich zu machen, ihm nach all den Jahren zu sagen, was in seinem Leben so wichtig war, dass Daniels Existenz so unwichtig war. Es läge beim Vater, sich zu entschuldigen.

Die Bäume biegen sich scharf im Sturm, werfen Äste hin und her, Laubbüschel, immer wieder knackt es bedenklich im Holz.

Fil exklamiert: Scheißbäume, Pappeln sind Scheißbäume, ein bisschen Wind und die fallen um. Könnte man ins Sparprogramm integrieren, spart man sich teure Operationen mit, man stellt die teuren Patienten einfach im Sturm unter Pappeln ab.

Dann bleibt er stehen, hält sich die Brust. Bekommt mitten in diesem Sturm, dieser Luftwalze, keine Luft mehr. Hört aber trotzdem nicht auf:

Andererseits ein dankbarer Tod … Irgendwie spirituell … Hast du schon mal Bäume umarmt? Ich habe ja gehört, junge Leute machen heute so was: Bäume umarmen, sich in den Baumwipfeln festketten …

Ein herausfordernder Blick.

Ihr seid eine niedliche Generation.

An Bäumen festketten?

Junge Globalisierungskritiker machen so was, behauptet der Vater.

Ich bin kein Globalisierungskritiker.

Stimmt. Fil grinst. Erschöpft, aber übers ganze Gesicht. Daniel weiß, was er denkt, aber nicht ausspricht: Stimmt, für Politik hast du dich noch nie interessiert, du stehst auf Facebook, Trendsportarten, setzt auf etwas Sicheres, studierst auf Lehramt.

Eigentlich hat es die bei uns auch schon gegeben, schiebt er hinterher. Spirituelle Baumfreunde. Sind nur nicht so aufgefallen.

Damals.

Auf der anderen Seite vom Park gebe es einen Biergarten, wechselt er unvermittelt das Thema, und er habe Appetit auf Brezeln. Torkelnd setzt er sich in Bewegung, und Daniel fragt sich, ob der Vater Angst hat, ob das Motto »Lebe wild und gefährlich!« auch dann gilt, wenn man fast nicht mehr lebt.

Sie lassen den Kinderspielplatz hinter sich und stapfen über eine nasse Wiese, der Stoff der Hose saugt sich mit Feuchtigkeit voll. Daniel versucht so wenig wie möglich mit der Natur in Berührung zu kommen, stakst wie ein Storch, Fil dagegen schlurft, zieht die Füße faul hinter sich her, hat innerhalb kürzester Zeit nasse Turnschuhe und Jeans. Der Vater sollte auf dem Weg bleiben, denkt Daniel, Acht geben, dass er sich keine Erkältung einfängt. In seinem Zustand kann jeder harmlose Schnupfen zu einer Lungenentzündung werden, doch offensichtlich genießt Fil das Gefühl, durch das Gras zu laufen, mit den Fingern nach den geschlossenen Blüten zu greifen, Blüten, die nur einen Strich Klatschmohnrot erahnen lassen; genießt den Wind, der durch die Sträucher fährt und Tropfen von den Büschen schleudert.

Er wirkt gar nicht so krank, denkt Daniel, als sie die Kneipe erreichen, und spricht den Gedanken dann auch aus.

Ich bin gar nicht so krank, antwortet Fil.

Ich sterbe nur.

Um dann plötzlich doch wieder niedergeschlagen, ängstlich, verloren auszusehen.

 

Seit vier Monaten sehen sie sich öfter, seit Daniel nach Berlin gezogen ist. Öfter: einmal in vierzehn Tagen. Gehen ins Kino, reden über einen Film, über Ausflugsziele in der Umgebung, Fahrradtouren, die man dann doch nicht macht, weil man nichts Festes vereinbart, nichts Rechtes miteinander anzufangen weiß, das Wetter zu schlecht ist. Der Vater hat Daniel ein bisschen bei...

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Kritik
»Intensiv und berührend erzählt er aus Daniels Perspektive von der Suche nach dem Vater, wie dieser in sein Leben eindringt, wie er sich innerlich dagegen wehrt...«mehr