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Der lange Weg des Lukas B.

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Arena Verlag GmbHerschienen am01.07.2012

Produkt

Details
Weitere ISBN/GTIN9783401801117
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum01.07.2012
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1230387
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1

»Die Hechte werden bald beißen«, sagte der alte Mann. Sein Wort lockte die Männer aus den warmen Häusern. Noch vor Sonnenaufgang luden sie sich die Geräte auf die Schultern und zogen los. Unter ihren Stiefeln knirschte der Schnee. Das erste Licht stand kalt zwischen den Fichtenspitzen. Wenn sich die frühe Sonne groß und rotfarben über den Waldsaum schob und sich ihr Bild in dem blinden Spiegel des Sees abmalte, hatten die Männer bereits mit schweren Beilen Löcher in die dicke Eisdecke geschlagen und sie legten ihre Schnüre aus. Weit über den See gestreut, hockten sie da, regungslos, schwarze Gestalten, die Köpfe tief in die Pelze geduckt, Katzen vor Mauslöchern. Später füllten sie aus den Säcken Kohle in kleine Eisenkäfige und zündeten Feuer an. Es war, als habe die Sonne helle Glutfunken über den See geworfen. Den Plan für die Käfige hatte der alte Mann, als er noch jung war, mit einem Stift auf einen breiten Holzspan gezeichnet. Der Schmied hatte nach diesem Plan, kopfschüttelnd über den neumodischen Kram, aus dünnen Eisenstangen geschmiedet, was der alte Mann sich ausgedacht hatte. Heute schüttelte kein Schmied in der ganzen Gegend mehr seinen Kopf darüber. Die Feuerkäfige hatten sich weit verbreitet und es gab kaum einen Eisfischer an den Seen, der ohne ein solches Holzkohlengitter zum Fange auszog.

»Die Glut lockt die Fische an«, mutmaßten viele. Sicherer jedoch und wohlig für jeden war die Wärme, die das gefangene Feuer ausströmte, und angenehm war es, dass sich die Männer ein paar Fische über der Glut rösten konnten. Würziger Bratgeruch wehte dann über das Eis und die Reifkristalle in den Schnurrbärten der Männer tauten ab, wenn sie sich die heißen Fischstücke in den Mund schoben.

In diesem Jahr blieb der große Fang lange aus.

»Er wird alt«, spotteten die Männer, aber der alte Mann hörte darüber hinweg.

Bevor sie schließlich heimgingen, warfen sie die wenigen Fischchen, die ihnen während der langen Stunden an den Haken gegangen waren, zornig auf das Eis. »Lieber gar nichts als so was«, riefen sie verächtlich und spuckten auf die handlangen Weißfische, die doch nur Spott im Dorfe herausfordern würden. Lieber kamen sie mit leeren Händen.

Der alte Mann fürchtete keinen Spott und kein hämisches Lachen, wenn er nach Hause kam. Seine Frau kannte die unberechenbaren Launen der Fische, denen jeder Fischer ausgeliefert ist. Sie wusste, dass der alte Mann mit den Fischen große Geduld hatte und sich nicht entmutigen ließ. Auch an diesem Tag waren die anderen Männer längst auf dem Heimweg, als er endlich dem Jungen das Zeichen gab die Schnüre einzurollen.

Der alte Mann schritt von Eisloch zu Eisloch und sammelte die kleinen Fischchen, spülte sie sorgsam ab und steckte sie in einen engmaschigen Netzsack. Als er die letzten Löcher erreichte, zog sich schon ein faltiges, sprödes Eishäutchen über das Wasser.

»Wird kalt heute Nacht, Luke«, sagte er zu dem Jungen.

»Warum sammelst du die Mistfische, die die anderen weggeworfen haben?«, fragte der Junge und er schämte sich für den alten Mann.

»Man muss sie nehmen, wie sie kommen«, antwortete der alte Mann und stapfte los. Stumm und trotzig ging der Junge hinter ihm her. Er wusste noch nicht, warum der alte Mann jeden Pfennig zweimal umdrehte, und ahnte nicht, dass er die Fische mitnahm, um am Abendessen zu sparen.

Aber der alte Mann wusste, dass ein zusammengesuchtes Abendessen wieder ein paar Groschen von der Schuldenlast abtrug, Schulden, die ihm sein Sohn auf den Buckel geladen hatte, Schulden, die den alten Mann zu Boden drücken wollten. Von all dem wusste der Junge noch nichts.

Bald musst du ihm alles sagen, dachte der alte Mann, als er später beim Abendessen bemerkte, wie der Junge die gebratenen Fischchen verächtlich beiseite schob und auf einem Kanten trockenen Brotes herumkaute.

Der alte Mann hatte es immer wieder aufgeschoben, dem Jungen alles zu sagen. Er sah, dass der Junge stolz war, und er war nicht sicher, ob er stark genug sein würde alles zu wissen. Der alte Mann wollte, dass der Junge seinen freien Blick behielt und die Augen nicht niederschlug, wenn er alles gehört hatte. Der älteste Sohn des Mannes war der Vater des Jungen und es war dem alten Mann selbst schwer gefallen, den Blicken derer standzuhalten, die alles wussten.

Seit gestern gingen sie nun allein zum See, der alte Mann und der Junge. »Heute hat er nicht einmal Köderfische mitgebracht«, spotteten die Männer, als der alte Mann mit dem Jungen in der Abenddämmerung des ersten Tages zurückkam.

Der alte Mann erwiderte kein Wort und ging in sein Haus. Die Männer versuchten den Jungen auszuhorchen.

»Gar nichts gefangen?«, fragten sie.

»Nein«, antwortete der Junge einsilbig.

»Nicht mal nen Köderfisch gefangen?«

Der Junge zögerte, antwortete aber dann: »Nein, wir haben heute nichts gefangen.«

Da lachten die Männer und schüttelten ihre Köpfe über den alten Mann. »Seit der Karl weg ist«, sagten sie leise, »seitdem ist mit dem Bienmann nichts mehr los.«

Doch der Junge hörte das nicht. Er hatte sich daran gewöhnt, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde, seit sein Vater fortgegangen war.

Der Junge dachte daran, dass der alte Mann der listigste und erfahrenste Eisfischer im ganzen Dorfe war. Tagelang hatte er mit den Männern auf dem Eis gesessen und sich wie sie mit den mageren Köderfischen begnügt, die der Zufall ihm an den Haken spießte. Aber an dem Tage, als sie zum ersten Mal den See für sich allein hatten, hackte der alte Mann das Eis hinter der Landzunge unter einem trockenen Erlengebüsch auf. Schon dachte der Junge, der alte Mann sei nun wirklich verrückt geworden und wolle dicht unter dem Ufer sein Glück versuchen, da sah er, wie er unter die Eisdecke griff, einen dort verborgenen Strick fasste und einen großen, gelöcherten Holzkasten hervorzog. Der Junge packte zu, denn der Kasten war schwer. Endlich hatten sie ihn auf das Eis gehoben. Der Kasten hatte einen verriegelten Deckel. Den öffnete der alte Mann und sagte: »Schau hinein, Luke.« Der Junge spähte in den Kasten. Das Wasser schoss durch die Löcher auf das Eis. Bald sah der Junge, dass es in dem Kasten von Fischen wimmelte.

»Köderfische! Karauschen!«, jubelte der Junge und umarmte den alten Mann so heftig, dass dieser schwankte.

»Karauschen sind die besten, Luke«, sagte der alte Mann. »Sie haben ein zähes Leben.«

Sie griffen einige etwa viertelpfündige Fische heraus, steckten sie in den Netzsack und versenkten den Kasten wieder unter dem Erlengebüsch. Mit den Fischen zogen sie zu dem Eisloch des alten Mannes und der Junge half ihm beim Ködern der Schnüre.

»Wenn du willst, Luke«, sagte der alte Mann, »dann mach dir auch eine Schnur fertig.«

Der Junge schlug, nicht weit von dem alten Mann entfernt, ein Loch ins Eis und senkte seine Schnur hinein. Sie warteten den ganzen Tag, aber sie fingen nichts.

»Morgen«, sagte der alte Mann, als der Junge ihn am Nachmittag fragte, ob die Hechte aus dem See weggeschwommen seien. »Morgen fangen wir Fische. Ich spüre es in den Knochen. Das Wetter wird bald umschlagen. Wenn es anderes Wetter gibt, dann werden die Fische beißen.«

Was der alte Mann vorausgesagt hatte, traf ein. Gegen elf Uhr am nächsten Morgen hatte er schon vier schöne Barsche und zwei Hechte gefangen, jeder Hecht an die fünf Pfund schwer. Dem Jungen waren zwei Barsche an den Haken gegangen. Einmal war ein mächtiger Ruck durch seine Schnur gefahren, aber er war aufgeregt gewesen und hatte zu schnell den Arm mit der Schnur hochgerissen. Da ließ der Fisch den Köder fahren. Geduldig erklärte ihm der alte Mann, was er falsch gemacht hatte. »Komm ganz leise zu mir und schau«, sagte er, »bei mir hat einer gebissen.« Der Junge band seine Schnur an einen Stecken und legte den quer über das Eisloch. Dann schlich er zu dem alten Mann hinüber. Der hielt die Schnur ganz locker zwischen Daumen und Zeigefinger und der Junge sah, wie die fein geknüpften Pferdehaare gleichmäßig ins Wasser glitten.

»Ein Barsch«, sagte der alte Mann. Die Schnur hing eine Weile still und locker im Wasser.

»Schlag an«, sagte der Junge. »Er wird dir sonst abgehen.«

»Wart es ab, Luke. Er schmeckt gerade die Karausche. Wenn er sie fest gefasst hat und jetzt noch einmal loszieht, dann schlage ich an.«

Es dauerte ein, zwei Minuten und der Junge dachte schon, der Fisch sei längst mit der Beute davon, da straffte sich die Schnur wieder und glitt weiter ins Wasser hinein. Der alte Mann saß in der Hocke, jeden Muskel gespannt. Zwei Meter Schnur ließ er noch weggleiten, dann schnellte er hoch und riss sie empor. Mit ruhigen Zügen holte er den Fang ein. Der Junge sah im Wasser des Eislochs die goldene Bauchseite des Fisches aufschimmern, schob den Käscher unter die Beute und hob sie aufs Eis.

»Ein herrlicher Barsch«, jubelte er. »Und schwerer als die anderen ist er auch.«

Der alte Mann säuberte den Fisch und sagte: »Ich vertrete mir ein bisschen die Beine, Luke. Später bringe ich neue Köderfische mit. Sieh zu, dass du etwas fängst. Wo ein Barsch ist, da sind auch mehrere.«

Er ging über das Eis dem Ufer zu.

Der Junge kehrte zu seinem Eisloch zurück und löste die Schnur von dem Stock. Seine Mutter hatte ihm dicke Wollhandschuhe gestrickt. Nach seiner Anweisung fehlten die Spitzen des Daumens und des Zeigefingers. »Ich habe dann mehr Gefühl für die Angelschnur«, hatte der Junge gesagt. Er hielt die Pferdehaare ganz lose zwischen den Fingern. In großen Schlingen...


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Autor

Willi Fährmann wurde am 18. Dezember 1929 in Duisburg geboren. Nach einer Maurerlehre entschloss er sich zum Besuch des Abendgymnasiums und studierte nach erfolgreichem Abschluss an den Pädagogischen Hochschulen in Oberhausen und Münster. Seit 1988 widmet sich der Schulamtsdirektor a. D. und freie Autor ganz dem Schreiben. Fährmann ist in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen und war lange Zeit in der Katholischen Jugendbewegung aktiv. Zum Schreiben ist er, wie er selbst sagt, eindeutig über das Erzählen gekommen. Sein Vater, der ihm als Kind schon früh fast täglich vorlas und die Großmutter - eine Meisterin des Erzählens - prägten seine Entwicklung. 1956 erschien sein erster Roman, "Kraniche - Kurs Süd", dessen Grundthema in dem 1997 veröffentlichten Werk "Unter der Asche die Glut" wiederkehrt. In seinen Büchern behandelt Fährmann in realistischer Weise Themen wie etwa Vertreibung, Antisemitismus oder das Schicksal von Spätaussiedlern. Besondere Beachtung erfuhren und erfahren seine vierbändige "Bienmann-Saga" sowie der aus drei Titeln bestehende Romanzyklus mit der Figur des Christian Fink. Willi Fährmann wurde mit zahlreichen literarischen Auszeichnungen geehrt, darunter der deutsche Jugendliteraturpreis, der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis, der Österreichische Staatspreis für Jugendliteratur. Mehrere Bücher standen auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Übersetzungsrechte wurden an Verlage weltweit vergeben. Für sein Gesamtwerk erhielt der Autor 1978 den großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Er starb 2017 in seiner Heimatstadt Xanten am Niederrhein.