Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Big Mäc

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
227 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am10.12.2012Deutsche Erstausgabe
Spätestens seit dem Erfolg seiner 'Hymne der demokratischen Jugend' hat sich Serhij Zhadan als originellste Gegenstimme zum poetischen Landvermesser Juri Andruchowytsch etabliert. In seiner sechsteiligen Erzählung 'Big Mäc' kehrt er der Anarchie der postsowjetischen Umbruchzeit den Rücken und flaniert durch die Straßen alter Städte - Orte der Subkultur, Mitteleuropa entmythologisiert. Im »Berlin, das wir verloren haben« lauern Irrsinn und Einsamkeit hinter jeder Toreinfahrt. In Wien meditiert er über »Zehn Arten, John Lennon umzubringen«. Es zieht ihn nicht nur zu den hedonistischen Außenseitern, die unter kalten europäischen Himmeln herumwandern, sondern auch in die eigene Vergangenheit: eine Welt des Lachens und endlosen Fliegens »am Orangenhimmel, der sich über unserer Heimat ausspannte«.


Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw, Ukraine.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextSpätestens seit dem Erfolg seiner 'Hymne der demokratischen Jugend' hat sich Serhij Zhadan als originellste Gegenstimme zum poetischen Landvermesser Juri Andruchowytsch etabliert. In seiner sechsteiligen Erzählung 'Big Mäc' kehrt er der Anarchie der postsowjetischen Umbruchzeit den Rücken und flaniert durch die Straßen alter Städte - Orte der Subkultur, Mitteleuropa entmythologisiert. Im »Berlin, das wir verloren haben« lauern Irrsinn und Einsamkeit hinter jeder Toreinfahrt. In Wien meditiert er über »Zehn Arten, John Lennon umzubringen«. Es zieht ihn nicht nur zu den hedonistischen Außenseitern, die unter kalten europäischen Himmeln herumwandern, sondern auch in die eigene Vergangenheit: eine Welt des Lachens und endlosen Fliegens »am Orangenhimmel, der sich über unserer Heimat ausspannte«.


Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw, Ukraine.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518796702
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum10.12.2012
AuflageDeutsche Erstausgabe
Seiten227 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1235118
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Das Berlin, das wir verloren haben

Wir hatten so viel verschiedene Musik eingepackt, dass keiner mehr was hören wollte. Serbische Volksorchester, alte Soundtracks, dazu Silvi mit ihren Taschen voll abartigem neuen Jazz, den sie jedem empfahl und den außer ihr niemand hörte, weil man diesen neuen Jazz einfach nicht hören kann. Wenn sich jemand lang und breit über etwas auslässt, zeugt das meiner Meinung nach höchstens davon, dass er es gerade selbst erfunden hat, neuen Jazz zum Beispiel; vielleicht hat Silvi die Aufnahmen in irgendeinem Studio bei sich in Prag ausgegraben, die Platten gehörig zerkratzt, und jetzt gibt sie das Ganze als atonale Musik aus. Zwischen den Sitzen unseres Renault, unter Cola-Dosen und Reiseführern mussten irgendwo noch ein paar Alben vom guten alten Lou Reed liegen, aus der Zeit seiner größten Erfolge und Abstürze, das waren übrigens auch tschechische Kassetten, die Plattenfirma Globus war Ende der Achtziger der großen europäischen Transformation auf der Spur und hatte die goldenen Schätze der Popmusik gehoben, auch Lou Reed war Teil der Beute. Aber der wird wohl kaum zum Zuge kommen, so energisch, wie Silvi den Rhythmus auf das Lenkrad klopft wenn man das überhaupt Rhythmus nennen kann, diesen atonalen Brei, der aus den heiseren Verstärkern quillt wie aus einem Fleischwolf.

»Silvi, das ist einfach das Ende der Zivilisation«, rufe ich vom Rücksitz, »hörst du dir das in deiner Freizeit echt freiwillig an?«

Silvi lacht, aber sie hat meinen Witz offenbar nicht verstanden, war ja auch ein Scheißwitz, ungefähr so witzig wie ihr atonaler Jazz. Gapar, unser Freund und Autobesitzer, lümmelt auf dem rechten Vordersitz und verfolgt vage den Verlauf der Ereignisse um sich herum. Wir hatten uns gestern Nacht gegen halb drei getrennt, nach viel Alkohol und langen Diskussionen, wann wir am besten losfahren sollten. Das letzte Sixpack Bier hatten wir an der Tankstelle gekippt, Gapar gönnte sich hin und wieder solche kleinen Freuden sich volllaufen lassen und durch das schlafende Wien brettern, die Kurven schneiden und einsame Gendarmen anhupen. Mögliche Strafen schreckten ihn nicht, daheim in Ljubljana besorgte er sich einen neuen Führerschein so mühelos wie ein Sixpack Bier an einer nächtlichen Wiener Tankstelle. Wir kappten die Verschlüsse noch mit unseren Feuerzeugen, obwohl man sie einfach abschrauben konnte; im vereinigten Europa wird sogar Bier in Fastfood verwandelt mit special effects wie Bierflaschen mit Schraubverschluss und grünem Eistee in Dosen wollen die Amis die ganze Welt für dumm verkaufen. Zum Schluss erzählte Gapar Bosnier-Witze, und dann verabredeten wir uns für morgens um neun mit Sack und Pack an seinem Auto, um aus dem märzkalten Wien in Richtung Berlin aufzubrechen.

Gapar traute sich noch nicht wieder ans Steuer, er musste erst zu sich kommen, also überließ er Silvi den Fahrersitz, die wie es sich für eine anständige junge Tschechin gehört das nächtliche Tankstellenbier ausgelassen hatte und daher keine besonderen Symptome zeigte, sie setzte sich ans Steuer, und wir gurkten durch die morgendliche Stadt auf der Suche nach der Ausfahrt Richtung Berlin, denn natürlich kannte keiner von uns die Strecke, das heißt Gapar im Prinzip schon, nur nicht in diesem Zustand.

Er war offensichtlich abgeklappt, tief atmete er ein, ebenso tief wieder aus, und an der Frontscheibe bildete sich warmer, dichter Dampf. Silvi schaltete unverdrossen die Scheibenwischer ein, sie verstand nicht, wieso die Scheiben beschlugen.

»Silvi, das sind Luftdruckveränderungen«, sagte ich zu ihr. »Scheibenwischer bringen da nichts. Jazz übrigens auch nicht.«

So muss ich allein trinken. Silvi und Gapar haben ausgemacht, dass er sie irgendwo hinter der österreichisch-deutschen Grenze am Steuer ablöst, und auf der Autobahn traut er sich dann doch nicht zu trinken, also reiße ich die nächste Dose auf und versuche, das Gespräch in Gang zu halten. Die ersten hundert Kilometer kenne ich im Prinzip, ich bin hier letztes Jahr getrampt, damals hat mich ein durchgeknallter Punk mitgenommen, der die ganze Zeit hektisch seine Sprite trank, wahrscheinlich war er bekifft, aber er raste gen Westen, weil er musste, wohin genau er musste, weiß ich nicht mehr, vielleicht zu seiner Mutter, jedenfalls sah er hundserbärmlich aus. Als ich eine Wasserflasche aus meinem Rucksack holte, fragte er, ob das Wodka sei, bei euch da, in Russland, trinken sie doch alle Wodka, nein, ist es nicht, sagte ich, und er lachte auf, das amüsierte ihn irgendwie. Ein blöder Punk, an den ich da geraten war. Das alles versuche ich Silvi zu erzählen, um ihre Aufmerksamkeit von den atonalen Riffs und Kliffs abzulenken, sie stimmt mir zu, ja, ein blöder Punk, aber echt, das Gespräch versickert, ich mache die nächste Dose auf, im Moment gibt es sowieso nichts zu sehen leere Weiden, kahle Baumgruppen, ein trauriges Österreich-Ungarn im März, so hat es sich den Infanteristen im Frühjahr 45 eingeprägt, eine ziemlich depressive Landschaft, dort haben sie rechts und links die Elitetruppen der armen Nationalsozialisten zur Schnecke gemacht. Die Kassette ist zu Ende und läuft in Gegenrichtung weiter, der neue Jazz springt einem wieder an die Gurgel, und ich fange an, unter den Sitzen nach dem vergessenen und mit Pistazien übersäten guten alten Lou Reed zu suchen. »Jazz ist was für Dicke«, sage ich zu Silvi und wechsle die Kassette.

Wir sind schon in Deutschland, als wir eine Armeekolonne überholen, die sich gut zwanzig Kilometer auseinanderzieht. Die Sattelzüge und Jeeps rollen gemächlich von Ost nach West, in den geräumigen Fahrerkabinen sitzen kurzgeschorene Militärs, die unwirsch auf die allgemeine Aufmerksamkeit reagieren. Kampfhubschrauber überfliegen die Kolonne und jagen die bayerischen Krähen auseinander, die sich über so viel massierte Kampftechnik wundern. Gapar, dessen angeborene Dreistigkeit zurückgekehrt war, saß am Steuer und hupte die verschlafenen Feldwebel fröhlich an, die sich jedes Mal aus dem Fenster beugten und, eine billige Gauloise zwischen den Lippen, unseren Kleinwagen musterten. Wohin wird diese massierte Kampftechnik transportiert? Wahrscheinlich wollte die Bundeswehr wegen der agrarpolitischen Scharmützel in der EU ein paar Einheiten der schnellen Eingreiftruppe in die Nähe von Freiburg verlegen, um den vor der Globalisierung eingeknickten Franzosen in gewohnter Weise einen Tritt in ihren fetten Hintern zu geben, ein paar grenznahe Städte zu besetzen, Kommunisten und Araber zu erschießen, sich mit den Zionisten zu verbünden, ein paar Supermärkte abzufackeln und dann einfach abzuhauen und hinter den Rauchschwaden zu verschwinden. Ich teile Gapar meine Gedanken mit.

»Ach, woher denn«, Gapar ist noch nicht ganz zu sich gekommen, spricht aber bereits deutlich. »Guck sie dir doch an, die wissen nicht mal, wo Frankreich liegt.«

In dem Sattelzug, den wir gerade überholt haben, sitzt ein dicker Militär, eher kastriert als rasiert, und trinkt aus einer Mineralwasserflasche. Ich wische mit der Hand die angelaufene Scheibe blank und sehe zu ihm hoch. Er merkt es und antwortet mit einem zackigen militärischen Blick. Ich schließe die Augen und versuche, ihn zu vergessen.

Vor München steuert Gapar eine Tankstelle an, und ich hole neues Bier. Morgens zu fahren ist mühsam, selbst wenn es eine Autobahn ist, keine holprige osteuropäische Schnellstraße, von Schotter übersät, grau und kalt wie am Meer, trotzdem ist es mühsam, vor allem, wenn es nichts zu tun gibt, das Bier alle, sogar der Jazz aus, alles Gute im Leben geht nach drei, vier Stunden Autofahrt zu Ende, bleibt noch, zu verfolgen, wie sich die Aussprache der DJs im Radio ändert, je weiter wir nach Norden kommen, auch die Musik ändert sich, obwohl es ja genau genommen immer derselbe Scheiß ist. Im Tankshop sind ein paar junge Schwule, die sprechen Russisch mit leicht weißrussischem Akzent und probieren Sonnenbrillen auf. In jeder Hand zwei Flaschen, bleibe ich stehen, um zu sehen, ob sie eine nehmen oder nicht. Fünf Grad und dichte Wolken bis Berlin, da ist es doch immerhin interessant, zu sehen, was sie mit den Dingern vorhaben. Einer dreht sich plötzlich um und führt mir eine Sonnenbrille in dämlichem Rosa vor, fragt mich, wie ich sie finde, ob sie ihm steht, passt, sage ich, genau zur Farbe deiner Augen. Beleidigt legt er die Brille zurück. Ich gehe zum Auto und öffne die erste Flasche.

Wir fahren noch drei Stunden auf einer guten Straße, die an verschiedenen Stellen weiter ausgebaut wird, Dojczland wächst und erstarkt, ein gutes Land, da gibt es nichts, ein paar Japaner weniger mit ihren Kodaks, und es wäre überhaupt super, noch nicht einmal ein halber Tag ist vergangen, und schon fahren wir durch die Außenbezirke, Gapar behauptet, er kenne hier ein paar gute, billige Hotels, so was gibt es nicht, antworten wir ihm, entweder gut oder billig, kombiniert kannst du das vergessen.

Dann haben wir uns verfahren. Gapar brettert durch die Straßen, jedes Mal weiß er angeblich wieder, wo wir sind, seine guten und sogar billigen Hotels liegen gleich um die Ecke, es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis wir einchecken, doch allmählich wurde er nervös, trat an jeder Ampel scharf auf die Bremse und fragte jeden Fußgänger, der uns an diesem dunklen, regnerischen Abend auf dem Bürgersteig entgegenkam, nach dem Weg, ein paar Mal hielt er sogar neben den Nutten an, die in weißen Strümpfen, Ledermontur und hohen Grenadierstiefeln an jeder Kreuzung standen und riesige Regenschirme in der Hand hielten. Die Nutten verstanden Gapars Frage nach dem Hotel zuerst als Anspielung, aber wenn sie Silvi bemerkten, die ihnen aus dem Inneren...
mehr

Autor

Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw, Ukraine.