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Der Himmel fängt über dem Boden an

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am27.02.2013Auflage
Wieder einmal hat Urs seinen Job verloren. Doch nun packt er seine Koffer und fährt nach Freiburg zu seiner Schwester Irene, die gerade eine Buchhandlung aufmachen will. Sie kann seine Unterstützung gut gebrauchen, und Urs beschließt zu bleiben. Er hilft im Laden, erkundet die Musikszene und macht neue Bekanntschaften. Doch die Beziehungen und Verhältnisse sind nicht gerade einfach: Irene ist gar nicht seine wirkliche Schwester, und dann taucht auch noch die rätselhafte Marie auf, die Irene und Urs gleichermaßen in ihren Bann schlägt. Zwischen den Dreien entspinnt sich eine Liebesgeschichte, so zärtlich und leicht wie der Sommer, der am besten niemals enden sollte ...

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm die Romane »Das Glück meiner Mutter«, »Das innere Ausland« und der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman »Eine kurze Geschichte vom Glück«.und zuletzt »Einer fehlt«. Thommie Bayer lebt mit seiner Frau in Staufen bei Freiburg.
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Produkt

KlappentextWieder einmal hat Urs seinen Job verloren. Doch nun packt er seine Koffer und fährt nach Freiburg zu seiner Schwester Irene, die gerade eine Buchhandlung aufmachen will. Sie kann seine Unterstützung gut gebrauchen, und Urs beschließt zu bleiben. Er hilft im Laden, erkundet die Musikszene und macht neue Bekanntschaften. Doch die Beziehungen und Verhältnisse sind nicht gerade einfach: Irene ist gar nicht seine wirkliche Schwester, und dann taucht auch noch die rätselhafte Marie auf, die Irene und Urs gleichermaßen in ihren Bann schlägt. Zwischen den Dreien entspinnt sich eine Liebesgeschichte, so zärtlich und leicht wie der Sommer, der am besten niemals enden sollte ...

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm die Romane »Das Glück meiner Mutter«, »Das innere Ausland« und der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman »Eine kurze Geschichte vom Glück«.und zuletzt »Einer fehlt«. Thommie Bayer lebt mit seiner Frau in Staufen bei Freiburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492960304
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum27.02.2013
AuflageAuflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2199 Kbytes
Artikel-Nr.1235729
Rubriken
Genre9201
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Inhalt/Kritik

Leseprobe

ZWEI

Schade, daß ich sein Tagebuch nicht mehr lesen kann, dachte Irene, mein Bär ist irgendwie anders geworden. War was auf der Tournee? Hat er da was erlebt, das ihn stiller, souveräner und gelassener macht? Als er ankam aus Köln, war er wie aus dem Nest gefallen, und jetzt möchte ich manchmal meinen Kopf an seine Schulter lehnen.

Oder hatte sie sich selbst verändert? War sie vor lauter Buchhandlung stumpf geworden? Blind? Bemerkte sie nur seine Verlorenheit nicht mehr, oder war die wirklich verschwunden? Ein Segen jedenfalls, daß dieses Mädchen aufgetaucht war. Irgendwas hatte die an sich, daß es hell wurde in ihrer Umgebung. Genau das Richtige für uns. Ein Laden ist so gut, wie die Kunden in die Verkäuferin verliebt sind. Marie ging wunderbar mit ihnen um. Sensibel, geduldig, frech, wo es ankam und seriös, wo es sein mußte. Sie war perfekt. Wenn sie wieder eingearbeitet wäre, wieder auf dem neuesten Stand, dann würde sie Irene ebenbürtig sein. Eine Spitzenkraft.

Irene war allein. Nicht-Alfons war schon wieder bei Sylvie, Urs im Kino und Marie dabei, sich einzurichten. Das Ausziehsofa im Büro machte sich schon bezahlt. Sie schaltete den Fernseher ein und setzte sich mit ihren Ravioli davor. Tatorte vom Südwestfunk versäumte sie nie. Sie mochte die Kommissarin. Sie lächelte in sich hinein.

Vor einer Stunde hatte der Vertriebsleiter des Verlages angerufen, dessen Vertreter sie vor einem Monat rausgeworfen hatte. Er hatte sich entschuldigt und ihr erklärt, der Mann sei durcheinander, seit ihn seine Frau mit zwei Kindern verlassen habe, er sei sonst kein Schnösel, sie möge ihm doch bitte noch eine Chance geben. Auf der Frühjahrsreise. Was ihr daran so gefiel, war, daß der Verlag offenbar mit ihr rechnete, sie nicht als Quantite negligeable abtat. Es geht schon gut los, dachte sie zufrieden und stellte mit der Fernbedienung den Ton lauter, als Sabine Christiansen vom Bildschirm verschwand.

Ich bin ein Kindskopf und will nicht erwachsen werden, dachte Yogi und lehnte sich müde in seinen IntercitySitz zurück. Aber irgendwann demnächst mal muß ich's dann doch langsam einsehen. Es wird peinlich. Jeden Morgen find ich dreißig Haare im Waschbecken, jedes Jahr an meinem Geburtstag fahr ich ein Stückchen weiter weg - ich bin erwachsen, ob's mir gefällt oder nicht. Ich lebe von einem Mietshaus, habe Geld auf der Bank, dieses Geld arbeitet irgendwo gegen Menschen, da kann ich meine Mieten noch so gering halten, kann eine Tannenschonung stiften, Hochsitze legen, Kornkreise walzen und Mercedessterne sammeln: Ich bin auf der falschen Seite gelandet. Kein Rinaldo Rinaldini. Und kein Robin Hood.

Gestern war er im Morgengrauen mit seinem Miniflugdrachen in der Nähe von Dresden aus einem Roggenfeld gestartet und hatte drei schöne Kreise zurückgelassen. Die Drachenmethode war die beste. Auch mit Stelzen hatte er schon ganz gute Ergebnisse erzielt, aber wenn man auf windige Nächte warten konnte, war der Drachen das Eleganteste. Perfekt.

Ein gutgekleideter, aber ramponiert aussehender alter Herr betrat das Abteil, setzte sich und zog ein kleines Schnapsfläschchen aus der Plastiktüte zwischen seinen Beinen. Er trank es in einem Zug leer, wischte sich den Mund, schraubte den Deckel auf das Fläschchen, betrachtete es unschlüssig und begann zu weinen. Er saß da mit entspanntem Gesicht, zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen, aus denen zwei stetige Tränenbäche flossen und Flecken auf seinem Rollkragenpullover hinterließen.

»Was ist los?« fragte Yogi, aber der Mann winkte ab.

Hoffentlich schläft sie schon, dachte Urs, als er leise nach oben stieg und versuchte, die Treppe so zu belasten, daß die Stufen nicht knarren würden. Er machte kein Licht in seinem Zimmer und zog sich leise aus. Durch den Spalt der Schwingtür drang ein Streifen Helligkeit, aber es war so still nebenan - sicher schlief sie schon. Das Licht konnte sie ja vergessen haben.

Linse ich durch den Türspalt, dachte er, nein, das tu ich nicht. Ich bin keine fünfzehn mehr, und was ist, wenn sie mich hört? Aber er fühlte sich wie fünfzehn. Es war aufregend, daß dieses Mädchen mit den hellen Brüsten so nahe bei ihm schlief. War sie nackt im Bett? In Unterwäsche? Nachthemd oder Pyjama?

Er legte sich ins Bett und genoß die Anspannung. Ich war so stumpf, dachte er, habe jahrelang vegetiert und mich daran gewöhnt, das Fasziniertsein von den Frauen für eine abgelegte Jugendtorheit zu halten, etwas ebenso Vergängliches wie den Traum, eines Tages mit Chick Corea oder Paul Simon zu spielen. Es war einfach eine Sache, die man tat oder ließ. In meinem Falle, was die letzten Jahre betrifft, ließ man sie. Er stand leise auf, schaltete die Tischlampe ein und zog sein Heft aus der Schublade.

Es ist so schön, Marie in meinem Bannkreis schlafen zu wissen. Schlafen zu wissen? Rede ich so? Mein Kuli redet so, und ich quatsch ihm nicht rein. Sie schläft, ich bin wach. Ich bin wach, weil sie schläft. Ich schaue nicht durch den Türspalt. Sie soll sicher sein vor mir. Ich denke durch den Türspalt, lausche hindurch, ich spüre, daß sie da ist und warte darauf, daß sie sich umdreht im Schlaf. Ich würde ein Geräusch von ihr als Vertrauen und Zuneigung empfinden. Sag mal Kuli, unter uns, es hört ja niemand zu, muß es echt so geschwollen sein? Geht's nicht ein bißchen moderner? Empfinden, Zuneigung, lausche hindurch - ich muß schon sagen: ich hätte gern, daß du ein bißchen Bewußtsein entwickelst, für wen du eigentlich arbeitest. Ich bin Trommler, ja? Drummer. Check? Geil.

Irgendwas an ihr erinnert mich daran, daß Frauen und Männer wie zwei Hälften einer Kugel sein könnten. Nicht Feinde in zwei Schützengräben, die sich mit Verachtung beschießen und begeistert wie Kinder in der Turnhalle johlen, wenn vom Scherenfernrohr eine Treffermeldung kommt. Mein Gott, ich bin auf dem besten Wege, mich zu verknallen. (Kuli, jetzt versuchst du's mir zu flott. »Verlieben« hättest du ruhig sagen dürfen).

Seit Verbania ist die Welt auf einmal wieder voller Liebespaare. Vorher, in den letzten Jahren, war ich überzeugt, daß kein Mensch mehr mit einem andern schläft. Ich sah Männer und Frauen sich anschweigen im Lokal, geradeaus starren, wenn sie nebeneinander in der U-Bahn saßen, sofort in ihren Taschen fummeln oder irgendwas zerkrümeln, wenn ihre Blicke sich zufällig trafen; alle, bis auf die ganz Jungen, deren Hundeblicke einem auf andere Weise peinlich sind, benahmen sich, als wollten sie die Traumbesetzung abgeben für einen Videoclip zu Warren Zevons Song »Nobody 's in love this year, not even you and I«.

Mit vierzehn war ich davon besessen. Mit fünfzehn, sechzehn, siebzehn und so weiter - ich weiß nicht, wie lange, weiß nicht, wann die Besessenheit aufhörte, nur, daß ich ihr Fehlen irgendwann bemerkte, als Sarah neben mir saß und sich die Fußnägel lackierte. Als ich vierzehn war, schienen alle es zu tun. Jeder Mann, jede Frau, immerzu. Ich weiß noch, daß ich dachte, wenn ich still genug bin und mich richtig konzentriere, dann spüre ich den Rhythmus aller Paare; und könnte ich nur laut genug den Takt schlagen, sie alle synchronisieren, dann rüttelten wir, Millionen Liebende in einem wilden sich steigernden Takt, die Erde aus ihrer Umlaufbahn, so wie marschierende Kolonnen eine Brücke zum Einsturz bringen. Und dann? Irgendwann: nobody 's in love this year und das nächste und übernächste auch nicht. Alle waren Neutren. Kein Signal, kein Funke; Mann, Frau, Junge, Mädchen, sogar die Hunde sahen aus, als seien sie einfach nur müde, hätten einen harten Tag gehabt und wollten sich jetzt dann gleich mal 'ne Runde aufs Ohr hauen. Vielleicht noch bißchen Fernsehen. Bist du auch so groggy, Schatz?

Ich bin wieder auf Empfang. Ich höre, wie es gluckst in den Adern, es glitscht und schmatzt und raschelt, und jeder will jeden verführen. Ich bin wieder da. Liegt das am Trommeln? An Freiburg? An Marie?

(Kuli, den Absatz besprechen wir noch)

Es ist warm hier, dachte Marie und betrat vorsichtig den äußersten Rand der Stufen. Es ist warm bei diesen beiden. Die haben sich gern. Und sie haben mich gern. Solche Geschwister hätte ich gewollt. Bei denen es warm ist, allein vom Gernhaben. Als Musikerin, die jahrelang auf Tournee gewesen war, hatte sie ein Gefühl dafür entwickelt, was es bedeutete, irgendwo gelitten zu sein, sich bewegen zu dürfen ohne Angst, die unsichtbare heilige Ordnung eines anderen zu stören. Sie wußte, wie es war, sich heimat- und wurzellos zu fühlen und wußte, wie dankbar und verliebt man wurde in jeden, der einen aufnahm und willkommen hieß.

Diese Mischung aus Dankbarkeit und Verliebtsein, oder besser, diese Verwechslung von beidem hatte ihr ja das alles eingebrockt. Sie war auf Gerald geflogen. Seine Gelassenheit war ihr wie ein Raum vorgekommen, in dem Platz für sie war und Stille, wenn sie Stille brauchte.

Vier Jahre waren sie zusammen gewesen. Marie hatte ihr Geld in seine Kneipe gesteckt, als er den Buchhalterjob bei der EMI aufgab, um den Laden in der Ehrenfelderstraße zu übernehmen. Zehntausend Mark. Für sie war das viel Geld. Erst nach etwa anderthalb Jahren bemerkte sie, daß seine Gelassenheit gespielt war und seine Augen ihr überallhin folgten.

Es dauerte noch einige Monate, bis seine Eifersucht offen ausbrach und dann nur noch Wochen, bis er sie zum erstenmal schlug.

Und wieder mißverstand sie sein Benehmen, hielt seine Gewaltausbrüche für ein Zeichen von Leidenschaft, und seine Tränen und Rosensträuße für Liebe. Sie gab die Musik auf und übernahm die Küche, putzte den Laden und kaufte für ihn ein. Dreimal floh sie nach einem seiner Wutausbrüche, und dreimal fand er sie und holte sie zurück.

Zwar begriff sie, daß sie wie das Kaninchen vor der...
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Autor

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm "Die gefährliche Frau", "Singvogel", der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman "Eine kurze Geschichte vom Glück" und zuletzt "Das innere Ausland".