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Zonenkinder

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am01.06.20121. Auflage
«Ein Bericht aus einem Land, fremder als der Mond.» (Elke Heidenreich) Jana Hensel war dreizehn, als die Mauer fiel. Von einem Tag auf den anderen war ihre Kindheit zu Ende. Die vertrauten Dinge des DDR-Alltags verschwanden gleichsam über Nacht - plötzlich war überall Westen, die Grenze offen, die Geschichte auch. Eine ganze Generation machte sich daran, das veränderte Land neu zu erkunden. Jana Hensel erzählt von ihrem Leben in der Schwebe zwischen Ost und West. «Jana Hensel hat der ersten gesamtdeutschen Generation schon jetzt ein kleines Denkmal gesetzt - mit sprachlicher Lakonie, Leichtigkeit und einer Transparenz, die leuchtet.» (Der Spiegel) «Eine Kindheit vor dem Verschwinden zu retten und somit das kollektive Gedächtnis der ?Wendekinder? zu archivieren, das ist die große Leistung dieses Buches. Eindringlich und poetisch, mit kühlem Kopf und warmem Herzen geschrieben.» (Emma) «Das Buch schafft etwas, was zum Überwinden eines großen Missverständnisses der deutschen Einheit beitragen könnte.» (Angela Merkel)

Geboren 1976 in Leipzig, Studium in Leipzig, Marseille, Berlin und Paris. Anschließend (1999) Herausgeberin der Leipziger Literaturzeitschrift 'Edit', 2000 der Internatanthologie 'Null' (zusammen mit Thomas Hettche). Jana Hensel lebt heute in Berlin.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

Klappentext«Ein Bericht aus einem Land, fremder als der Mond.» (Elke Heidenreich) Jana Hensel war dreizehn, als die Mauer fiel. Von einem Tag auf den anderen war ihre Kindheit zu Ende. Die vertrauten Dinge des DDR-Alltags verschwanden gleichsam über Nacht - plötzlich war überall Westen, die Grenze offen, die Geschichte auch. Eine ganze Generation machte sich daran, das veränderte Land neu zu erkunden. Jana Hensel erzählt von ihrem Leben in der Schwebe zwischen Ost und West. «Jana Hensel hat der ersten gesamtdeutschen Generation schon jetzt ein kleines Denkmal gesetzt - mit sprachlicher Lakonie, Leichtigkeit und einer Transparenz, die leuchtet.» (Der Spiegel) «Eine Kindheit vor dem Verschwinden zu retten und somit das kollektive Gedächtnis der ?Wendekinder? zu archivieren, das ist die große Leistung dieses Buches. Eindringlich und poetisch, mit kühlem Kopf und warmem Herzen geschrieben.» (Emma) «Das Buch schafft etwas, was zum Überwinden eines großen Missverständnisses der deutschen Einheit beitragen könnte.» (Angela Merkel)

Geboren 1976 in Leipzig, Studium in Leipzig, Marseille, Berlin und Paris. Anschließend (1999) Herausgeberin der Leipziger Literaturzeitschrift 'Edit', 2000 der Internatanthologie 'Null' (zusammen mit Thomas Hettche). Jana Hensel lebt heute in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644019010
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum01.06.2012
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse4910 Kbytes
Artikel-Nr.1248782
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1. Das schöne warme Wir-Gefühl

Über unsere Kindheit


Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und drei Monate alt, verließ ich gemeinsam mit meiner Mutter am frühen Abend das Haus. Es war bereits dunkel, man sah den Atem vor dem Gesicht, Nieselregen fiel vom Himmel. Ich musste hohe Schuhe, Strumpfhosen und zwei Pullover unter meinen blauen Thermoanorak ziehen und niemand wollte mir so richtig sagen, wo es hingehen sollte. Auf dem Weg zur Straßenbahn, den wir immer liefen, um in die Leipziger Innenstadt zu kommen, mussten wir über ein Bahngelände, und ich weiß nicht mehr, ob ich es mir heute einbilde oder ob wir tatsächlich keinem Menschen begegnet sind und ob ich damals schon dachte, dass der Regen, den man nur im gelben Licht der Laternen erkennen konnte, sehr schön aussah, wie er da so ruhig und gleichmäßig vor sich hin fiel.

In der alten Straßenbahn, deren Türen man mit der Hand aufziehen musste und die sich nie richtig schließen ließen, sodass der Wind eiskalt hereinpfiff, während man sich auf den beheizten Ledersitzen den Hintern verbrannte, waren alle Leute so komisch dick angezogen, als gäbe es an diesem Abend ein Fußballspiel oder ein Feuerwerk. Ein paar Frauen hatten Ohrenschützer, die man seit kurzem auch in unseren Läden kaufen konnte, über den Kopf gezogen, andere selbst gestrickte Stulpen an den Füßen, und seltsamerweise hatte niemand eine Tasche bei sich. Als nach einigen Stationen der Fahrer die vorderste Tür des Wagens aufzog und rief, dass die Bahn jetzt hier halten und nicht mehr weiterfahren würde, stiegen alle aus und liefen, ohne dass jemand ein Wort gesagt hätte, weiter in die Innenstadt, so als hätten heute Abend alle dasselbe Ziel.

Später, am Ziel, das mir immer noch niemand wirklich nennen konnte, waren viele Leute dicht zusammengedrängt und strebten zur Nikolaikirche und vor die Oper, auf den Karl-Marx-Platz. Dass man hier vereinzelt Transparente und Plakate ausmachen konnte und dass sich alle, als gäbe es einen unsichtbaren Regisseur, zu einem Zug formierten und den Ring entlangzogen und dass das der Anfang vom Ende war, das kennt man aus dem Fernsehen. Ich weiß selbst auch nicht mehr genau, was ich mit eigenen Augen und was ich, an diesem Abend zum ersten und dann unzählige Male später, in den Tagesthemen sah. Fest eingeprägt allerdings habe ich mir - und das weiß ich vielleicht deshalb noch, weil ich es nie jemandem erzählt habe -, dass ich den Studenten, der ziemlich lange neben mir lief, gern an der Hand gefasst hätte und die Soldaten, die am Straßenrand auf uns aufpassen mussten, gern gefragt hätte, ob sie nicht mit zu uns rüberkommen wollten, wir seien doch viel mehr als sie.

Stattdessen lief ich brav zwischen dem Studenten und meiner Mutter den Ring entlang und dachte wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, dass mit dem Land, das immer meine Heimat gewesen war, gerade etwas geschah, von dem ich gar nicht wusste, was es war, und dass gewiss kein Erwachsener mir erklären konnte, wohin es führen würde. Hätte der Student neben mir gesagt: Dies hier sei erst der Anfang, künftig würden von Montag zu Montag mehr Leute auf den Straßen zu finden sein, und all das würde dazu führen, dass die Mauer fallen und unser Land bald verschwinden und alles mitnehmen werde, sodass nichts mehr von ihm übrig bliebe, dann hätte ich ihn bestimmt verwundert angeschaut und im Stillen bei mir gedacht, unser Land könne das ruhig versuchen. Doch nie im Leben werde es das schaffen.

 

Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen ich damals natürlich noch nicht wusste, dass sie die letzten sein würden, für uns wie Türen in eine andere Zeit, die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden. Eine Zeit, die sehr lange vergangen scheint, in der die Uhren anders gingen, der Winter anders roch und die Schleifen im Haar anders gebunden wurden. Es fällt uns nicht leicht, uns an diese Märchenzeit zu erinnern, denn lange wollten wir sie vergessen, wünschten uns nichts sehnlicher, als dass sie so schnell wie möglich verschwinden würde. Es war, als durfte sie nie existiert haben und als schmerzte es nicht, sich von Vertrautem zu trennen. Eines Tages schlossen sich die Türen dann tatsächlich. Plötzlich war sie weg, die alte Zeit.

Heute, mehr als zehn Jahre später und nach unserem zweiten halben Leben, ist unser erstes lange her, und wir erinnern uns, selbst wenn wir uns anstrengen, nur noch an wenig. Ganz so, wie unser ganzes Land es sich gewünscht hatte, ist nichts übrig geblieben von unserer Kindheit, und auf einmal, wo wir erwachsen sind und es beinahe zu spät scheint, bemerke ich all die verlorenen Erinnerungen. Mich ängstigt, den Boden unter meinen Füßen nur wenig zu kennen, selten nach hinten und stets nur nach vorn geschaut zu haben. Ich möchte wieder wissen, wo wir herkommen, und so werde ich mich auf die Suche nach den verlorenen Erinnerungen und unerkannten Erfahrungen machen, auch wenn ich fürchte, den Weg zurück nicht mehr zu finden.

 

Als nach dem Mauerfall zuerst die Bilder von Erich Honecker und Wladimir Iljitsch Lenin aus den Klassenzimmern verschwanden, gab es lange kein anderes Gesprächsthema. Tagein, tagaus hatten wir die Männer angeguckt wie das Testbild im Fernsehen, doch erst als sie nicht mehr da waren, fielen sie uns plötzlich auf. Wann der Milchdienst ging, wann jeder seine Milchtüte allein beim Hausmeister kaufen und nicht wie früher den ganzen Monat im Voraus bezahlen musste, weil das marktwirtschaftlich betrachtet uns Neukunden eher hätte abschrecken können, habe ich dann schon gar nicht mehr bemerkt. Ich weiß noch, dass es ein Ritterschlag gewesen war, wenn man es zum ersten Mal hinbekommen hatte, so in der zweiten oder dritten Klasse, den glibberigen, immer leicht stinkenden Beutel hinter dem Rücken der Lehrer lässig mit zwei Zähnen aufzureißen und direkt aus der Öffnung zu trinken, während die anderen noch ihren Kindergartenstrohhalm benutzen mussten.

Ich erinnere mich nicht, wann es plötzlich keine Samstage mehr gab, an denen wir in die Schule gehen mussten. Nachdem die meisten Mitschüler es vorgezogen hatten, mit ihren Eltern in den Westen zu fahren, um das Begrüßungsgeld abzuholen, und bestenfalls noch die halbe Klasse in die Schule kam, hatten irgendwann auch die Lehrer die Nase voll und wollten endlich ihre 100 DM abholen. Da musste man die Samstage gar nicht erst abschaffen; sie verschwanden einfach, ohne ein Wort zu sagen. Die Dienstagnachmittage bald danach, denn ohne AG Popgymnastik, Junge Historiker, Schach oder Künstlerisches Gestalten waren sie sowieso ein bisschen funktionslos geworden. Mittwochs um 16 Uhr ging ich auch nicht mehr mit Halstuch und Käppi zum Pioniernachmittag, so wie die Großen nicht mehr zur FDJ-Versammlung gingen. Ich sah meine Patenbrigade nicht wieder, der Milchgeldkassierer war verschwunden, der Gruppenratsvorsitzende, sein Stellvertreter und die Pionierleiterin auch.



Die Bedeutung der Zipfel des Halstuchs habe ich vergessen. Die drei roten Streifen an ihrem Ärmel lassen jedenfalls auf eine sehr hohe Amtsträgerin schließen.



Über Nacht waren all unsere Termine verschwunden, obwohl doch unsere Kindheit fast nur aus Terminen bestanden hatte. Es passierte nicht mehr, dass wir morgens vor der ersten Stunde eine Exkursion, einen Feueralarm oder einen Fahnenappell auf dem Tagesplan vorfanden. Die Reihenuntersuchung hatte man abgeschafft, und geschlossen im Klassenverband, wie unsere Lehrer immer sagten, ging niemand mehr mit uns zum Zahnarzt in den Schulkeller. Er hatte seine Praxis mit den langen Turnbänken und den endlosen Kleiderhakenbrettern im Wartezimmer längst verlassen, und ich war ganz froh, dass ich nun die ständigen Bohrgeräusche nicht mehr hörte oder wegen der antiseptischen Gerüche mit zugehaltener Nase durch das Treppenhaus hetzen musste.

Niemand sagte uns, wohin man die schweren schwarzen Turnhallenboxen brachte, aus deren Lautsprechern frühmorgens olympische Hymnen verkündet hatten, dass der große Tag der Spartakiade gekommen war. Immer gegen sieben Uhr, die Sonne war noch gar nicht richtig aufgegangen und der Sportplatz ziemlich kalt, hatten wir in Reih und Glied gestanden und es kaum erwarten können, uns für die Stadtbezirksspartakiade im Schlagballweitwurf, im Dreisprung oder im 60-m-Lauf zu qualifizieren. Den Turnbeutel drückte ich da, wo die warme Teeflasche lag, ein bisschen fester gegen den Bauch, dachte an Heinz Florian Oertel, und die anderen schlugen ihre Hände kraftvoll gegen die Oberarme, so wie sie es bei den Friedensfahrern im Fernsehen gesehen hatten.

Nun war Leistungssport zum Schimpfwort geworden. Keiner von uns ging mehr nach der letzten Unterrichtsstunde zum Training. Das war gar nicht so schlecht, denn es hatte uns immer ein bisschen geärgert, dass das Training so früh begann und wir, nach der Schule gerade zu Hause angelangt, stets nur den ersten Teil von Unsere kleine Farm oder Fury gucken konnten, weil wir schon wieder losmussten. Ich kam auch nicht mehr abends nach sechs Uhr geschlaucht und fertig nach Hause, trank meine Flasche Milch nicht mehr im Stehen aus und erledigte nicht mehr allzu rasch meine Hausaufgaben. Das freute unsere Mütter, endlich hätten wir genug Zeit gehabt, Medizin nach Noten, Jockey Monika oder Das Krankenhaus am Rande der Stadt bis zum Schluss zu gucken. Aber die gab es ja auch nicht mehr.

Nach und nach waren die ABC-Zeitungen der Kleinen von den Schulhöfen verschwunden und damit nicht nur Rolli, Flitzi und...

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