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Die Glücksparade

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am09.03.20121. Auflage
Simon ist fünfzehn, als sein Vater - ein Mann mit vielen Plänen, die nie ganz aufgegangen sind - auf dem Campingplatz zu arbeiten beginnt. Ein Platzwart soll, sagt er, wo er arbeitet, auch wohnen, und so finden sich Simon und seine Mutter in einem Container wieder, inmitten von Dauercampern, die am Leben der neuen Nachbarn mal mehr, mal weniger Anteil nehmen. Auch sie sind Glücksritter, auf ihre Weise, und darüber ganz allmählich an den Rand der Gesellschaft gelangt. Da ist zum Beispiel «Bubi» Scholz, ein gutherziger Alter, der sich seinen Namen von dem berühmten Boxer geliehen hat. Oder Lisa, die hübsche Tochter der Hellers, von der es heißt, sie werde auf einem Regionalsender eine eigene Fernsehshow bekommen, die «Glücksparade». Zu Lisa fühlt Simon sich hingezogen. Bald unterstellt er seinem Vater eine Affäre mit ihr. Und tatsächlich verbindet die beiden ein Geheimnis, aber eines anderer Art. «Ein Entwicklungsroman en miniature. Eben weil die Traurigkeit, von der dieses Dasein umhüllt wird, so flächig und allumfassend ist, strahlen die Kontrapunkte umso heller.» Süddeutsche Zeitung

Andreas Martin Widmann, 1979 in Mainz geboren, promovierte in Neuerer Deutscher Literatur und unterrichtete mehrere Jahre Deutsche Sprache und Literatur am University College London. Seine Texte erschienen in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien und wurden mehrfach ausgezeichnet - unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis 2010. Für seinen Debütroman, 'Die Glücksparade', erhielt Andreas Martin Widmann den Mara-Cassens-Preis 2013. Er lebt und arbeitet in Berlin.
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Produkt

KlappentextSimon ist fünfzehn, als sein Vater - ein Mann mit vielen Plänen, die nie ganz aufgegangen sind - auf dem Campingplatz zu arbeiten beginnt. Ein Platzwart soll, sagt er, wo er arbeitet, auch wohnen, und so finden sich Simon und seine Mutter in einem Container wieder, inmitten von Dauercampern, die am Leben der neuen Nachbarn mal mehr, mal weniger Anteil nehmen. Auch sie sind Glücksritter, auf ihre Weise, und darüber ganz allmählich an den Rand der Gesellschaft gelangt. Da ist zum Beispiel «Bubi» Scholz, ein gutherziger Alter, der sich seinen Namen von dem berühmten Boxer geliehen hat. Oder Lisa, die hübsche Tochter der Hellers, von der es heißt, sie werde auf einem Regionalsender eine eigene Fernsehshow bekommen, die «Glücksparade». Zu Lisa fühlt Simon sich hingezogen. Bald unterstellt er seinem Vater eine Affäre mit ihr. Und tatsächlich verbindet die beiden ein Geheimnis, aber eines anderer Art. «Ein Entwicklungsroman en miniature. Eben weil die Traurigkeit, von der dieses Dasein umhüllt wird, so flächig und allumfassend ist, strahlen die Kontrapunkte umso heller.» Süddeutsche Zeitung

Andreas Martin Widmann, 1979 in Mainz geboren, promovierte in Neuerer Deutscher Literatur und unterrichtete mehrere Jahre Deutsche Sprache und Literatur am University College London. Seine Texte erschienen in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien und wurden mehrfach ausgezeichnet - unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis 2010. Für seinen Debütroman, 'Die Glücksparade', erhielt Andreas Martin Widmann den Mara-Cassens-Preis 2013. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644017511
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum09.03.2012
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse548 Kbytes
Artikel-Nr.1248819
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


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[4]


Die Wohnwagen und Hänger in der Ecke, in der unser Container stand, waren seit Jahren nicht bewegt worden. Einige hatten keine Räder mehr, sondern Fundamente aus Waschbetonsteinen, an denen schon Moos wuchs. Sie gehörten Leuten, die fast jedes Wochenende herkamen oder sogar den ganzen Sommer über blieben.

Die Ersten, die ich kennenlernte, waren Klaus und Petra Hoffmann. Es war Samstagvormittag, und wir waren dabei, den Geräteschuppen auszuräumen und sauber zu machen. Er war aus Brettern gebaut und sah aus wie eine kleine Berghütte mit schrägem Dach. Mein Vater wollte ihn benutzen, um die Kisten aus meinem Zimmer darin unterzustellen, und er hatte vor, ihn neu zu streichen. Vorher aber mussten der Schmutz und die alte Farbe runter, jedenfalls an den Stellen, an denen sie aufgeplatzt war und abblätterte.

«Ihr habt´s gut, könnt das ganze Jahr Urlaub machen hier», sagte Klaus zu meinem Vater. Er war zu uns herübergeschlendert wie jemand, der noch nicht genau weiß, was er vorhat, und weil ich in die Hocke gegangen war, um an der unteren Hälfte der Wand herumzuscheuern, hatte ich zuerst seine Füße gesehen, seine hellblaue Jeans ungefähr bis zu den Hüften, wo seine Hände in den Hosentaschen steckten. Er hatte kleine blaue Augen und zwei tiefe Furchen um den Mund, die seine Backen aus dem Gesicht herauszudrücken schienen. Mein Vater lachte, sagte tja oder etwas in der Art und machte weiter. Klaus schaute uns zu, und dann wiederholte er, was er gesagt hatte. Wir hatten zwei Drahtbürsten, einen mit Wasser gefüllten Eimer und Lappen hergebracht. Einen davon griff sich mein Vater jetzt, tauchte ihn ins Wasser, wrang ihn aus und wischte dann über die Bretter, mit denen er beschäftigt war.

«Wir hatten früher mal einen VW-Bully», sagte Klaus. «Hab ich auch ´ne Menge dran gemacht, aber wir wollten dann lieber was Festes, so wie hier.»

Ich schwitzte, und was schlimmer war, ich hatte Staub in den Haaren und im Gesicht. Meine Haut spannte, als wäre sie zu eng für mich. Auch mein Vater schwitzte, ich konnte es nicht nur sehen, sondern auch riechen. Seit wir hergekommen waren, ließ er sich wieder einen Bart stehen. Noch war er nicht sehr dicht, gerade dicht genug, dass das kleine Loch in seinem Kinn darunter verschwand. Genau da hatten sich jetzt ein paar winzige rote Farbsplitter verfangen.

«Ist gut, wenn man viel selber machen kann», sagte Klaus.

«Genau», sagte mein Vater. «Selbst ist der Mann.»

«Und der Sohn auch.» Klaus lachte.

Mein Vater stimmte ihm wieder zu. Er war gut darin, Leuten das Gefühl zu geben, sie wären unter Gleichgesinnten, auch wenn er sie in Wirklichkeit für Idioten hielt. Klaus stand noch eine Weile beim Schuppen herum, und zuletzt sagte er, er müsse weiter.

Petra, seine Frau, kam am nächsten Tag zu uns rüber. Sie hatte blondes, dauergewelltes Haar und trug eine Jeans, die ihr bis weit über die Taille reichte. Ihr Hintern sah darin aus wie eine umgedrehte Schaufel, flach und breit. Irgendetwas sei undicht bei ihnen, sagte sie. Mein Vater lachte auf und versprach, sich darum zu kümmern.

 

In der Schule erzählte ich von unserem Umzug erst, als eine Lehrerin auf dem Hof zu mir kam und wissen wollte, warum mich neuerdings immer jemand mit dem Auto abholte. Sie war eine kleine Frau mit igelig aufgestelltem Haar und einer runden Brille. Im Unterricht trug sie immer spitz zulaufende Stoffhosen und dazu Lederschuhe mit kleinen Metallstäben an den Seiten als Verschluss. Wie alt sie war, wusste niemand. Wahrscheinlich ging sie auf die vierzig zu, doch hätte mir jemand gesagt, sie sei schon fünfzig, hätte ich auch das geglaubt. Sie nickte zu dem, was ich sagte, und erklärte dann, es sei ihre Aufgabe als Lehrerin, auf so etwas zu achten. Ich stand nur da und sah sie an.

«Hat es dir die Sprache verschlagen?», sagte sie.

«Nein», sagte ich. «Sie haben mir gesagt, was Ihre Aufgabe ist. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.»

«Soll das ein Witz sein?»

Ich zuckte mit den Schultern.

«Und das mit dem Campingplatz ist auch ein blöder Witz, oder wie?»

«Nein», sagte ich. «Das ist kein Witz, es tut mir leid.»

Ich konnte sehen, dass sie wütend auf mich war, obwohl ich nicht verstand, was ich ihr getan hatte. Sie drehte sich um, und da lachte wirklich jemand.

Jetzt, wo auch andere es gehört hatten, fragte trotzdem niemand weiter nach, und ich war froh darüber. Ich gehörte nicht zu denen, die bedrängt oder erpresst wurden, aber ich hatte auch keine richtigen Freunde gefunden, seit ich vor zwei Jahren auf diese Schule gekommen war. Die beiden, mit denen ich die meiste Zeit verbrachte, hießen Thorsten und Marcel. Genau wie ich waren sie noch nicht lange in der Klasse, und keiner von uns dreien sprach viel. Jeden Montag erzählten sie, wie viel sie am Wochenende gesoffen hatten, und ich hörte ihnen zu. Wir saßen in vielen Fächern nebeneinander und standen in den Pausen zusammen, aber wenn einer mit dem Stuhl kippelte und ein anderer es sah, zog er an der Lehne, sodass der Stuhl umfiel und es etwas zu lachen gab. Außer in der Schule traf ich sie nicht. Thorsten war einer von denen, die ihre eigentlichen Freunde in dem Viertel hatten, aus dem sie kamen, und die in der Schule Leute brauchten, mit denen sie die Zeit verbringen konnten. Ich wusste, dass er sich eigentlich nicht für mich interessierte. Von Marcel wusste ich, dass er schon öfter beim Klauen erwischt worden war und Sozialstunden machen musste. Einmal, im vergangenen Winter, hatte ich ihm sogar angeboten mitzukommen, als er nachmittags irgendwo mit einer langen Zange und einem Eimer Müll aufsammeln sollte. Wir waren ein paar hundert Meter zusammen gegangen, bis zu einem Parkplatz, auf dem um diese Zeit Weihnachtsbäume verkauft wurden, und dort hatte er plötzlich gesagt, er wolle doch lieber allein hingehen, und war davongerannt. Er gab vor allem damit an, was er alles besorgen könne. Wenn jemand etwas erwähnte, egal, ob es ein Computerspiel war oder ein Handy oder eine Jeans, sagte er immer: «Kann ich dir besorgen, wenn du willst.» Angeblich konnte er sogar eine Handgranate oder einen Panzer besorgen. Daran dachte ich immer als Erstes, wenn ich an ihn dachte, ich stellte mir vor, wie er losging, um einen Panzer zu besorgen. Mit den meisten anderen hatte ich nichts zu tun, ich warf sie auch nicht mit dem Stuhl um.

 

Zu Ostern, als der Campingplatz für die Saison öffnete, kamen die ersten Urlauber. Die Wiese jenseits der Hänger und Container, die bis dahin frei gewesen war, füllte sich mit Wohnmobilen. Zum Zelten war es vorläufig noch nicht warm genug, doch mein Vater bekam jetzt tatsächlich etwas zu tun. Er wies die Stellplätze an, zeigte den Leuten die Duschen und wie sie ihre Wagen an den Strom anschließen konnten. Er stellte die Rechnungen, wenn sie wieder abfuhren. Die übrige Zeit, wenn er nicht auf dem Platz unterwegs war, verbrachte er in seinem Büro, wo er Papiere sortierte oder Zeitung las und wartete, bis irgendjemand ihn brauchte.

Meine Mutter fing an, gegen Bezahlung Einkäufe zu machen. Morgens ging sie über den Platz und ließ sich von den Nachbarn, wie sie sie nannte, Listen geben, und dann fuhr sie mit dem Auto in die Stadt und ging zum Supermarkt, bevor sie mich von der Schule abholte. An anderen Tagen, wenn die Leute auf dem Platz spät dran waren mit ihren Bestellungen, fuhren wir zusammen zum Metro-Großmarkt. Dort schob ich den Wagen durch die langen Gänge, während meine Mutter die Zettel durchging. Für uns selbst kauften wir meistens Nudeln, Tomaten in Dosen, Cornflakes oder Honeyloops oder Schokopops. Und Milch, Würstchen, Senf und Brot. Dass wir keinen Backofen im Container hatten, fiel ihr manchmal erst wieder ein, nachdem sie die Sachen schon in den Wagen geräumt hatte. Wenn das passierte, hob sie tiefgefrorene Pizza, Pommes frites - oder was immer es war - hoch, um es mich sehen zu lassen, und legte die Packungen anderswo wieder ab, aus Wut darüber, dass wir nichts damit anfangen konnten.

An einem Abend im Mai bat sie mich, einen Karton mit Lebensmitteln zu einem der Wagen zu bringen. «Ich hab schon geduscht und will nicht mehr raus heute», sagte sie. Mein Vater lag auf dem Bett, ich sah nur seine bloßen Füße auf der Tagesdecke.

«Für wen ist der?», fragte ich.

«Für Scholz», sagte sie. «Das ist der mit der Vogelscheuche.»

Draußen roch es nach angebranntem Essen. Es war noch nicht dunkel, aber die Leute saßen schon in ihren Wagen. Manchmal hörte ich im Vorübergehen den Ton des Fernsehers durch die gekippten Fenster, oder ich sah das blaue Schimmern hinter den Gardinen. Ich konnte weder etwas verstehen noch erkennen, was lief, ich sah nur Umrisse in behäbig wechselndem Licht.

Die Vogelscheuche bestand aus kreuzweise zusammengenagelten Latten, über dem Querbalken hing ein gestreiftes Sakko, und auf der Spitze steckte ein Kochtopf mit einem Loch im Boden. In der Nähe ragten krumme Stäbe aus dem Boden, an denen die Reste von Pflanzenstauden vertrockneten. Ich schaute mir das alles eine Weile an, bevor ich zur Tür ging und anklopfte. Eine Minute wartete ich, und als sich drinnen nichts rührte, klopfte ich noch mal fester und länger, doch es tat sich nichts.

Wie unser Container hatte dieser Hänger eine Treppe vor der Tür, allerdings war er kleiner und sein Dach war gewölbt wie bei einem Eisenbahnwagen. An der Rückseite hatte er keine Fenster, dafür waren dort eine ganze Menge amerikanischer Nummernschilder festgeschraubt, und unter jedem Schild liefen zwei dunkelrote Rostschlieren nach unten. Breite Blätter eines Krauts, das ich nicht kannte, wucherten ihnen entgegen. Der Wagen musste schon ziemlich alt sein,...
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Andreas Martin Widmann, 1979 in Mainz geboren, promovierte in Neuerer Deutscher Literatur und unterrichtete mehrere Jahre Deutsche Sprache und Literatur am University College London. Seine Texte erschienen in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien und wurden mehrfach ausgezeichnet - unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis 2010. Für seinen Debütroman, "Die Glücksparade", erhielt Andreas Martin Widmann den Mara-Cassens-Preis 2013. Er lebt und arbeitet in Berlin.