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Die Verteidigung des Menschen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am09.11.20121. Auflage
Eine bisweilen hysterische Angst vor der Religion geht bei uns um - vor muslimischen Kopftüchern, Moscheen und Minaretten, vor bibeltreuen US-Reaktionären und einem stockkonservativen Papst, vor befremdlichen Bräuchen wie der Beschneidung. Zur Furcht kommt die Ignoranz: Aus dem herrschenden Bewusstsein ist die Glaubenstradition weithin verschwunden, auch die christliche. Wir leben nicht nur in einer Gesellschaft mit wachsender Religionsfeindschaft. Wir steuern auf eine Kultur des religiösen Analphabetismus zu. Dabei ist, wie Jan Roß zeigt, die Religion ihrem Wesen nach keine Gefahr für den Menschen, sondern im Gegenteil eine Bastion der Humanität. Die Suche nach Gott hat die kühnsten Gedanken inspiriert, die Ideen von Sünde, Ewigkeit und Gewissen haben unserem Selbstverständnis Tiefe gegeben. Religion ist eine Kraft, ohne die das Leben ärmer, enger und kälter wäre. Ihr zuerst verdanken wir die Utopie von Brüderlichkeit und Gleichheit. Die pure Diesseitigkeit dagegen legt dem Menschen Fesseln an und lässt ihn verkümmern. Eine provozierende Zeitdiagnose - und ein bewegendes Plädoyer für einen neuen religiösen Humanismus.

Jan Roß, 1965 in Hamburg geboren, studierte Klassische Philologie, Philosophie und Rhetorik in Hamburg und Tübingen. Er war Feuilletonredakteur der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und der «Berliner Zeitung» und gehört heute zum politischen Ressort der «Zeit», für die er von 2013 bis 2018 Korrespondent in Indien war. Zuletzt erschienen «Was für eine Welt wollen wir?» (mit Richard von Weizsäcker, 2005), «Die Verteidigung des Menschen» (2012) und «Bildung - eine Anleitung» (2020).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR18,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEine bisweilen hysterische Angst vor der Religion geht bei uns um - vor muslimischen Kopftüchern, Moscheen und Minaretten, vor bibeltreuen US-Reaktionären und einem stockkonservativen Papst, vor befremdlichen Bräuchen wie der Beschneidung. Zur Furcht kommt die Ignoranz: Aus dem herrschenden Bewusstsein ist die Glaubenstradition weithin verschwunden, auch die christliche. Wir leben nicht nur in einer Gesellschaft mit wachsender Religionsfeindschaft. Wir steuern auf eine Kultur des religiösen Analphabetismus zu. Dabei ist, wie Jan Roß zeigt, die Religion ihrem Wesen nach keine Gefahr für den Menschen, sondern im Gegenteil eine Bastion der Humanität. Die Suche nach Gott hat die kühnsten Gedanken inspiriert, die Ideen von Sünde, Ewigkeit und Gewissen haben unserem Selbstverständnis Tiefe gegeben. Religion ist eine Kraft, ohne die das Leben ärmer, enger und kälter wäre. Ihr zuerst verdanken wir die Utopie von Brüderlichkeit und Gleichheit. Die pure Diesseitigkeit dagegen legt dem Menschen Fesseln an und lässt ihn verkümmern. Eine provozierende Zeitdiagnose - und ein bewegendes Plädoyer für einen neuen religiösen Humanismus.

Jan Roß, 1965 in Hamburg geboren, studierte Klassische Philologie, Philosophie und Rhetorik in Hamburg und Tübingen. Er war Feuilletonredakteur der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und der «Berliner Zeitung» und gehört heute zum politischen Ressort der «Zeit», für die er von 2013 bis 2018 Korrespondent in Indien war. Zuletzt erschienen «Was für eine Welt wollen wir?» (mit Richard von Weizsäcker, 2005), «Die Verteidigung des Menschen» (2012) und «Bildung - eine Anleitung» (2020).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644112919
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum09.11.2012
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse470 Kbytes
Artikel-Nr.1249143
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 1 Die Verteidigung des Menschen

Einmal habe ich vor einem Menschen gekniet. Es war im Frühjahr 2000, auf dem Petersplatz in Rom hatten sich Gläubige und Schaulustige versammelt, zur «Generalaudienz», bei der an jedem Mittwoch Gelegenheit besteht, den Papst, damals Johannes Paul II., zu sehen und zu hören. Durch die Vermittlung eines Kardinals hatten wir einen Platz in der «prima fila» bekommen, der «ersten Reihe» von Besuchern, die am Ende der Veranstaltung dem Papst kurz vorgestellt werden. Wir wurden, nachdem Johannes Paul II. seine Ansprache beendet und die Grüße von Pilgergruppen aus der ganzen Welt entgegengenommen hatte, zu einem thronartigen Sessel geleitet, auf dem Seine Heiligkeit uns erwartete. Man trat einzeln vor, der Papst bekam von einem Prälaten den Namen und die Bewandtnisse des Menschen genannt, der zu ihm geführt wurde, und dann - ja dann muss da ein Bänkchen oder eine Art Brett gewesen sein, auf dem ich mich niedergekniet habe. Ich weiß nicht mehr, ob ich dem Papst den Ring geküsst habe, sicher hat er mir seine Hand auf den Kopf gelegt und mich gesegnet; jedenfalls fand das alles statt, während ich kniete. Ein Fotograf der Vatikanzeitung «Osservatore Romano» stand dabei und hat es dokumentiert, damit wir Prima-Fila-Gäste einen Beweis für unsere Papstbegegnung als Andenken mit nach Hause nehmen konnten.

Das Merkwürdige an diesem Kniefall war: Er war nicht peinlich, erniedrigend oder irgendwie unangenehm. Er war in gewisser Weise unvermeidlich; der damals schon alte und kranke Johannes Paul II. konnte schließlich zur Segenspendung für seine Besucher nicht endlos stehen, und wenn nun einmal gesegnet werden sollte (was der Hauptzweck der ganzen Audienz ist), dann musste man als Segensempfänger seinen Kopf irgendwie auf die päpstliche Brusthöhe bringen, was nur durch Knien zu bewerkstelligen war. Aber das ist nicht der eigentliche Grund für die fehlende Beschämung gewesen. Ich hätte auch vor einem gesunden Johannes Paul II. ohne Bedenken gekniet. Vor der englischen Königin oder einem ganzen Saal voller Nobelpreisträger gewiss nicht. Worin besteht der Unterschied?

Nicht im historischen Rang von Johannes Paul II. Sicher, er war einer der größten Männer des 20. Jahrhunderts; die Befreiung Europas und der Welt vom Kommunismus ist zu einem erheblichen Teil sein Werk. Aber hätte ich, wenn eine Zeitmaschine mich in seine Gegenwart versetzt hätte, vor Winston Churchill gekniet, dem die Menschheit wegen seines Kampfes gegen Hitler mindestens so viel zu verdanken hat? Im Leben nicht. Was war bei der Szene auf dem Petersplatz anders?

Es hatte mit dem Amt des Papstes zu tun. Aber nicht mit seiner Würde, seiner Erhabenheit, seiner Vollmacht. Ich bin nicht katholisch, der Chef dieser Kirche hat mir nichts vorzuschreiben. Für Prunk und Pomp bin ich wenig empfänglich, für den langen geschichtlichen Atem, durch den sich der Katholizismus in seinen besten Zügen auszeichnet, sehr wohl - aber doch hoffentlich nicht so, dass ich deswegen irgendeine Freude an der Unterwerfung entwickeln könnte. Es war vielmehr die religiöse, priesterliche Natur des Amtes, die den Kniefall möglich machte. Der Papst ist nach dem Verständnis seiner Kirche «Stellvertreter Christi», was vielleicht verrückt klingt, aber einen klaren Sinn hat: Er ist nicht als Person wichtig, sondern als Repräsentant; er steht für etwas anderes, für einen anderen - vor dem zu knien keine Schande ist. Vor einem Menschen niederzufallen, ist unwürdig; es verstößt gegen die fundamentale, geschwisterliche Gleichheit, die wir alle miteinander teilen. Doch der Mensch war hier gar nicht gemeint.

Religion ermöglicht Verehrung ohne Scham, Demut ohne Demütigung. Mehr noch: Religion ermöglicht sogar Verehrung, die stolz macht; die nicht bloß nicht erniedrigt, sondern erhöht. In Großbritannien, in den USA und überhaupt in der englischsprachigen Welt ist es eine verbreitete Sitte, dass bei Aufführungen von Händels Oratorium «Der Messias» die Zuhörer aufstehen, sobald die ersten Takte des «Halleluja» erklingen, des triumphalen Chors, mit dem Gottes Herrschaft und Herrlichkeit gefeiert werden. Die Ursprünge des Brauchs sind obskur. Angeblich hat der englische König Georg II. sich bei der Londoner Erstaufführung des Stücks im März 1743 an dieser Stelle erhoben, und da die Untertanen nicht sitzen bleiben konnten, während ihr Souverän stand, schloss sich der gesamte Saal an. Das hätte sich dann durch die Jahrhunderte fortgesetzt. Es ist allerdings nicht dokumentiert, dass der Monarch bei dieser Aufführung des «Messias» überhaupt anwesend war, erst recht nicht, dass er aufgestanden ist - und wenn ja, warum: Vielleicht wollte er Gott oder Händels Kunst die Ehre erweisen, vielleicht nur seine Beine ausstrecken, und es gibt sogar die Theorie, dass der schwerhörige König eingeschlafen war und die lauten Töne, die ihn überraschend weckten, mit der Nationalhymne verwechselte.

Das Ganze ist jedenfalls ein hochgradig unzeitgemäßer, mit höfischen Überresten belasteter Brauch, und es scheint keinen vernünftigen Grund zu geben, daran festzuhalten. Nur dass er wunderbarerweise sehr schön ist. Ein Publikum, das sich beim «Halleluja» erhebt, ist ein majestätischer Anblick, und es macht stolz, Teil eines solchen Publikums zu sein. Die Musik und das, wovon sie spricht, wirken beflügelnd auf die Zuhörer, sie spüren einen Anhauch von Leben, Kraft und Größe, der sie über sich selbst hinaushebt. Wenn der Bundespräsident einen Raum betritt und die Anwesenden stehen auf, dann ist das ein (kleines, erträgliches) Opfer der eigenen Würde, ein Rest an Untertanenbescheidenheit. Wenn dagegen in der Kirche die Gemeinde aufsteht, dann bezeugt sie, dass der Mensch eine vertikale Dimension hat, dass er Gott Respekt bezeugt, aber dass er auch für das Höchste geschaffen und berufen ist, «capax Dei», gottfähig. Und wenn die Leute am Ende des Weihnachtsgottesdienstes mit voller Lautstärke, unter dem Donner der Orgel, «O du fröhliche» singen (auch das am besten stehend), dann feiern sie ihren Herrn und Erlöser. Doch sie werden nicht schwächer, indem sie die Stärke eines anderen anerkennen, sie werden selbst stärker.

Der österreichische Erzähler Adalbert Stifter hat diesen eigentümlichen Doppelcharakter der religiösen Verehrung in seiner Beschreibung eines grandiosen Naturschauspiels erfasst: der totalen Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 in Wien. Die Beobachtung der Himmelserscheinung könnte Anlass für menschliches Selbstbewusstsein bieten. Die Astronomie hat die Gesetze der Sternenwelt erforscht und kann solche Phänomene auf die Sekunde genau prognostizieren; exakt so ist es eingetreten - ein Triumph des wissenschaftlichen Geistes. Aber viel stärker ist der Eindruck der Schöpfermacht. Nur ist er wiederum mit dem Menschen verbunden. Und zwar nicht so, dass da einfach ein Gegensatz zwischen göttlicher Überlegenheit und menschlicher Zwergenhaftigkeit entstehen würde: das Himmels-Event als niederschmetternder, plattmachender Donnerschlag. Es ist ganz anders: Die Bedeutung des Moments, seine Zeichenhaftigkeit für die Majestät des Weltschöpfers, kommt erst im Wechselspiel mit dem aufblickenden und sich innerlich gerade machenden Menschen richtig zustande. Nicht wegen irgendwelcher objektiver Gründe, so Stifter, ist dies alles eine Manifestation von Gottes Dasein, «sondern darum, weil es euch in diesem Momente euer Herz schaudernd sagt, und weil dieses Herz sich trotz der Schauer als groß empfindet». Ehrfurcht zu verspüren, ist keine Entwürdigung, im Gegenteil. Und dann, wie in Stein gehauen: «Das Tier hat gefürchtet, der Mensch hat angebetet.»

Gott macht den Menschen klein, sagen die Gegner der Religion. Aber das stimmt nicht. Gott macht den Menschen groß und schützt ihn. Wahrscheinlich ist das sogar die wichtigste, die eigentliche Aufgabe der Religion in der Gegenwart: die Verteidigung des Menschen. Der Glaube ist die Bastion des Humanismus.

Der Gott, der am ehesten für kleinmachende Über- und Unmenschlichkeit in Frage kommen könnte, ist Allah. In keiner anderen Religion ist Gott so transzendent, so erhaben und undurchdringlich wie im Islam: so «göttlich». Sein Wille ist absolut, an keine Gesetze gebunden, keiner Rechtfertigung bedürftig. Muslimische Theologen sagen wenig über das Wesen Gottes, nur über seine Befehle; sie müssen einfach befolgt werden. Kritiker aus anderen Religionen, besonders Christen, haben diesen Allah zu einer Art Willkürherrscher erklärt. «Islam» heißt eigentlich «Ergebung», «Unterwerfung»; das klingt wie ein sicheres Rezept für die Geringschätzung und Erniedrigung des Menschen. Er wird offenbar als Untertan eines orientalischen Despoten gedacht.

Stattdessen liest man im Koran, in der 2. Sure, wie Gott am Anfang der Zeiten die Einsetzung eines irdischen Stellvertreters oder Statthalters ankündigt. Die Engel reagieren beleidigt, sie wollen sich nicht in die zweite Reihe drängen lassen und sehen voraus, dass es mit diesem neuen Vorzugsgeschöpf Ärger geben wird: «Willst Du jemanden auf [der Erde] einsetzen, der Unheil auf ihr anrichtet und Blut vergießt - wo wir Dir Lobpreis singen und Dich heiligen?» Gott aber ist nicht davon abzuhalten, den Urmenschen Adam mit seiner Gunst auszuzeichnen. Er offenbart ihm die Namen der Lebewesen, die selbst die Engel nicht kennen, und lässt ihn dann seine frisch gewonnenen Informationen ausbreiten: Die Engel müssen erleben, dass dieses Geschöpf weiß, was sie nicht wissen, dass es privilegierten Zugang zu den Gottesgedanken bekommen hat....
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Autor

Jan Roß, 1965 in Hamburg geboren, ist Mitglied der politischen Redaktion der «Zeit» in Hamburg, für die er zuvor Korrespondent in Delhi war. 1998 erschien «Die neuen Staatsfeinde», 2000 «Der Papst. Johannes Paul II. - Drama und Geheimnis», 2005, gemeinsam mit Richard von Weizsäcker, «Was für eine Welt wollen wir?» und 2008 «Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft», sowie 2012 «Die Verteidigung des Menschen».