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Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
400 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am23.02.20121. Auflage
Risiken abzusichern ist ihr Geschäft. Doch sie verstrickt sich in Unsicherheiten, trügerische Phantasien und Ängste. Brillant, packend und raffiniert erzählt Thomas von Steinaeckers großer Zeitroman von unserer Welt, in der alle Sicherheiten endgültig abhanden gekommen sind und unsere Sehnsüchte in die Irre führen. Ein schlau-präzises und gespenstisch-surreales Porträt unserer Gegenwart. Renate Meißner wird versetzt, befördert und gewinnt für ihre Versicherungsgesellschaft einen großen Auftrag. Doch eine interne Evaluierung ergibt, dass in ihrer Abteilung Stellen gestrichen werden. Vielleicht war die Versetzung ein abgekarterter Spiel, um sie loszuwerden? Der große Auftrag ein Test? Sie reist nach Russland, um die Grande Dame hinter dem Projekt kennenzulernen, die Herrin über ein generationenaltes Vergnügungspark-Imperium. Die Greisin scheint erstaunliche Ähnlichkeiten mit Renates verschwundener Großmutter zu haben. In einer Welt futuristischer Jahrmarktsattraktionen verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Welcher Wirklichkeit ist noch zu trauen? Thomas von Steinaeckers Roman entwirft ein großes Panorama, das mit Fotos, Zeichnungen und Tabellen die Möglichkeiten realistischen Erzählens auslotet und ein phantastisches Paranoia-Spiel in Gang setzt.

Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextRisiken abzusichern ist ihr Geschäft. Doch sie verstrickt sich in Unsicherheiten, trügerische Phantasien und Ängste. Brillant, packend und raffiniert erzählt Thomas von Steinaeckers großer Zeitroman von unserer Welt, in der alle Sicherheiten endgültig abhanden gekommen sind und unsere Sehnsüchte in die Irre führen. Ein schlau-präzises und gespenstisch-surreales Porträt unserer Gegenwart. Renate Meißner wird versetzt, befördert und gewinnt für ihre Versicherungsgesellschaft einen großen Auftrag. Doch eine interne Evaluierung ergibt, dass in ihrer Abteilung Stellen gestrichen werden. Vielleicht war die Versetzung ein abgekarterter Spiel, um sie loszuwerden? Der große Auftrag ein Test? Sie reist nach Russland, um die Grande Dame hinter dem Projekt kennenzulernen, die Herrin über ein generationenaltes Vergnügungspark-Imperium. Die Greisin scheint erstaunliche Ähnlichkeiten mit Renates verschwundener Großmutter zu haben. In einer Welt futuristischer Jahrmarktsattraktionen verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Welcher Wirklichkeit ist noch zu trauen? Thomas von Steinaeckers Roman entwirft ein großes Panorama, das mit Fotos, Zeichnungen und Tabellen die Möglichkeiten realistischen Erzählens auslotet und ein phantastisches Paranoia-Spiel in Gang setzt.

Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104008585
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum23.02.2012
Auflage1. Auflage
Seiten400 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse9962 Kbytes
Illustrationen100 schwarz-weiße Abbildungen
Artikel-Nr.1250410
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Angenommen, ein Bauarbeiter kommt zu spät zur Arbeit. Er ist in eine Kontrolle geraten, die die Polizei routinemäßig an seiner Stammstrecke durchführt. Das Auto des Mannes ist das letzte, das an jenem Morgen überprüft wird. Zum ersten Mal in seinem Leben trifft er auf der Baustelle mit Verspätung ein. Er stellt sich zu seinen Kollegen, die sich im Halbkreis um den Vorarbeiter versammelt haben, der bereits dabei ist, Anweisungen für den heutigen Tag zu geben.

Kurz darauf ein Zufall: Beim Zementmischen geht das Wasser aus. Ein Kollege ruft dem Mann zu, er solle unverzüglich für Nachschub sorgen, der Zement bröckle. Der Mann eilt mit zwei Eimern durch den Matsch der Baustelle zum Wasserhahn, der hinter einem Container liegt und damit für seinen Kollegen nicht sichtbar ist. Den Hahn lässt der Mann der Einfachheit halber aufgedreht. Unbemerkt färbt sich im Lauf des Vormittags ein 0,5 Quadratmeter großes Stück der Kellermauer, knapp 10 Meter entfernt, dunkel ein. Kurz vor der Mittagspause hat die Feuchtigkeit den Mörtel komplett durchweicht. Binnen Sekunden sackt die Mauer in sich zusammen und begräbt vier Arbeiter in der Grube unter sich. Einer von ihnen stirbt noch im Krankenwagen an seinen inneren Verletzungen. Und so weiter.

Im Taxi nach Bogenhausen sortierte ich im Kopf nochmals die Worst-Case-Szenarien, die ich mir in den Tagen zuvor zurechtgelegt hatte. Vorausgesetzt, dass unsere Konkurrenten, die, obwohl Utz sie am Telefon nicht erwähnt hatte, zweifelsohne existierten, sicherlich Talanx, wahrscheinlich auch die Versicherungskammer oder die Allianz, vorausgesetzt also, dass unsere Konkurrenten nicht ebenfalls auf die Idee gekommen waren, in ihren Verkaufsgesprächen auf die Vergangenheit des Unternehmers anzuspielen, würde die Schwierigkeit im Folgenden darin bestehen, herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt die Trumpfkarte, die Erinnerung an das Schicksal des Vaters, ihre größtmögliche Wirkung entfalten könnte; zudem ob Utz ein Mann fürs Grobe war, der den offenen Schlagabtausch suchte und den es argumentativ niederzuringen galt, worauf ich hoffte. Sehe ich es doch mittlerweile als Vorteil an, als Frau in meinem Beruf als Außenseiterin zu gelten. So steht die Rollenverteilung scheinbar von vornherein fest. Das notorische Unterschätzwerden ebenso. Das ermöglicht Operationen aus dem Hinterhalt. Es existieren keine Statistiken, die besagen, dass Frauen öfter weinen oder lauter lachen. Ich war eine Freundin des Blitzkriegs.

Da ich etwas zu früh ankam, ließ ich das Taxi zwei Blöcke von Utz´ Domizil entfernt anhalten, um das restliche Stück zu Fuß zu gehen. Die Birken, Buchen und Eichen in den Gärten warfen bereits lange Schatten, obwohl es erst kurz nach Mittag war. Für einen Moment schloss ich die Augen, bis mein Gesicht von der Sonne warm wurde und zu spannen begann. Es war möglich, ja wahrscheinlich, dass es sich um den letzten schönen Herbsttag des Jahres 2008 handelte. Die Aussicht, dass nun tatsächlich endgültig und für Monate der Winter Einzug halten würde, schon morgen, ließ in mir trotz des Fluctins plötzliche und heftige Unruhe aufsteigen. Wie ich es in der eigentlich unsäglichen Fortbildung »Auf den Punkt - Konzentrieren leicht gemacht« gelernt hatte, stellte ich mir vor, die Gedanken, die in meinem Kopf unablässig durcheinanderklangen, in einen Karton zu packen und von der Reling eines Ozeandampfers ins dunkle Wasser tief unter mir zu werfen.

Am Abend zuvor hatte ich mich auf Google Earth an die Utz-Residenz herangezoomt. Aus dem Google-Weltraum war ich immer näher auf die Google-Erde und das Gebäude zugefallen, bis der Computer nur mehr bunte Schraffuren gezeigt hatte, auf denen es nichts zu entdecken gab. Jetzt stand ich in einer menschenleeren Straße vor einem metallenen Zauntor mit vergoldetem Klingelschild, auf dem sich der Name Utz auffallend winzig ausnahm. Vom Stil her orientierte sich die Villa an den neoklassizistischen Bauten, mit deren Rekonstruktion Utz´ Vater sein Geld gemacht hatte: drei Stockwerke, deren schmucklose, vor circa einem Jahr Van-Dyck-braun verputzte Mauern gleichermaßen massiv wie abweisend wirkten. Das Dach darüber in seiner schönen geometrischen Gleichmäßigkeit erinnerte mich spontan an die kleinen, von meiner Großmutter bemalten Holzhäuser, mit denen die Zwillinge so gern gespielt hatten.

Einige Meter entfernt, über der Haustür, registrierte ich den langen Hals einer Überwachungskamera, im ungepflegten Garten hinter Büschen im Rasen eingelassene Lampen, eine Beleuchtungsanlage mit Bewegungsmelder. Der Gedanke, dass ich gerade auf einem grauen Monitor zu sehen war und Sensoren erfassten, wie ich meine Hand zum Klingelknopf führte, verwandelte meine angestrengte Miene in eine entspannte. Im Haus ertönte Bellen, das sich näherte. Ein Irish Setter schoss aus der Tür, die Stufen herunter, auf mich zu, um kurz vor dem Zaun schlagartig zum Stehen zu kommen, als sei ein Stecker aus ihm herausgezogen worden.

»Da sind Sie ja.«

Die tiefe bayerische Stimme vom Telefonat tags zuvor. Utz stand ein paar Schritte hinter dem Setter, der Hund hatte mich abgelenkt. In den zwei, drei Sekunden, die mir blieben, bevor Utz die Situation anormal erscheinen konnte, glitt mein Blick wie zuvor über seine Villa über seinen Körper, seine Arme, die Schultern, den Kopf. Die nicht mehr aktuellen Fotos in der CAVERE-Datei hatten mir fälschlicherweise eine gewisse körperliche Ähnlichkeit mit Walter suggeriert, die mich auch von charakterlichen Parallelen ausgehen hatte lassen. Der Bauherr war aber kleiner als ich und von robuster, zum Übergewicht neigender Statur. Sein Kordsakko, seine ausgebeulte Jeans und die verdreckten Gummistiefel passten zu seinem Quadratschädel mit dem Dreitagebart, dem spärlichen, nach hinten gekämmten Haar und den grasgrünen Augen, die unter den buschigen grau-braunen Brauen hervorblitzten. Allerdings: Der Widerspruch zwischen der Jugendlichkeit des Gesichts, diesen hellen Augen und den vielen Falten, erinnerte mich nun doch wieder für einen Augenblick an Walter, wovon ich mich freilich nicht weiter irritieren ließ. Kein schöner Mann, aber eine gewisse Erscheinung mit einer intensiven Ausstrahlung von physischer Macht.

»Nehmen wir meinen Wagen«, schnauzte Utz mich an und deutete durch den Zaun hindurch auf einen alphablauen Range Rover am Straßenrand. Der kurze, durchdringende Blick, den er mir dabei zuwarf. Im Auto wurde ich hinten platziert, der Setter auf dem Beifahrersitz. »Alles voller Haare vorne«, erklärte Utz knapp.

Auf der Fahrt blieb er einsilbig. In unregelmäßigen Abständen räusperte er sich, hustete, räusperte sich erneut, als würde er zu einem Satz anheben. Doch ich wartete vergebens. Auch keine Reaktion auf meine Soft-Sell-Versuche: »Ich habe ja schon Ihre Villa bewundert«, »Ist Ihr Hund aber brav« und so weiter. Von dort wollte ich beiläufig ins Geschäftliche überleiten: Nehmen Sie den denn mit auf die Baustelle? Apropos, wenn Sie noch Fragen haben zu unserem Angebot und so weiter. Kein: Let´s talk business, sondern: We´re already talking and it´s all business. Doch anstatt dass Utz darauf einging: kaum verständlich gemurmelte Antworten, »Ja, müssen wir dann schauen«, »Ich hab´ ja die Unterlagen, die Sie gefaxt haben, dabei«, Räuspern, Husten. Schnell merkte ich, dass momentan jedes Wort zu viel war. Der Nachteil eines Außentermins ist, dass man sich auf dem Spielfeld des Kunden bewegt, auf dem nur seine Regeln gelten.

Irgendwann, nach Bürogebäudearealen, die sich in Wohnsiedlungen verwandelten, die sich in Bürogebäudeareale verwandelten, passierten wir das Schild, das die Grenze Münchens markierte, obwohl die Peripherie dahinter dasselbe Bild bot wie zuvor. Dann bogen wir in einer weiten Kurve ab und waren plötzlich mitten auf dem Land: umgepflügte Äcker, einsame Trauerweide, davor ein Marterl oder eine Bank, Dorfränder. Schnurgerade und schwarz führte von der Straße ein frisch geteerter Weg, der Platz für drei Jeeps nebeneinander bot, ohne Mittelstreifen oder Seitenpfosten, flankiert von noch nicht funktionstüchtigen Laternen und einem Hydranten, ins neblige Nirgendwo.

Ich hatte nochmals meine Unterlagen aufgeschlagen und dabei begonnen, vom Tier vor mir auf seinen Besitzer zu schließen. Dass Utz ab und zu über die Schnauze des Setters strich, verriet, wie ich meinte, einen weichen Kern. Auffallend war, wie die feinen Hände, die mich an Walters Hände erinnerten, ansonsten förmlich am Lenkrad klebten. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Utz auch heute noch hin und wieder beim Tritt aufs Gaspedal der Gedanke an den Unfall heimsuchte, der sein Leben verändert hatte. Zumindest mir ging es so, als mir jetzt einfiel, dass Utz auf jenem Platz saß, an dem damals am Tag des Autounfalls - ein Wort, bei dem ich immer noch das nie gesehene Wrack des grünen Renaults vor Augen hatte - meine Großmutter gesessen hatte, laut der Erzählung meiner Eltern, an deren Richtigkeit ich bis vor kurzem niemals zu zweifeln gewagt hätte. Ich besaß keinen Führerschein.

Als die Straße wie säuberlich abgefräst endete und wir ausstiegen, fröstelte mich. Die Sonne eine matt-silberne Scheibe über uns im Dunst. Auf der zerfurchten Grasfläche steckten einige lange, dünne Metallpfosten, zwischen denen weiß-rotes Absperrband flatterte. Lisa hatte mir einmal das Foto eines Landart-Projektes mit dem Titel »Das Nadelkissen« gezeigt, das ähnlich aussah. Die Künstler seien zu der Aufstellung erst durch komplizierte, wochenlange Computerberechnungen gelangt, hatte sie erklärt. In der Ferne war der...
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Autor

Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.