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Simulative Demokratie

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am15.04.2013Originalausgabe
Sind die Proteste gegen Stuttgart 21 oder die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ein weiterer Beleg für die Krise der Demokratie? Oder doch eher für ihre Lebendigkeit? Und ist »Krise« überhaupt noch das richtige Wort? Immerhin bezeichnet der Begriff einen vorübergehenden Zustand, aber über Politikverdrossenheit oder gar »Postdemokratie« wird nun schon seit Jahren lamentiert. Ingolfur Blühdorn schlägt eine andere Lesart vor: Wir erleben, so Blühdorn, einen schleichenden Formwandel des Politischen, den Übergang zur »simulativen Demokratie«, in der demokratische Werte, demokratische Verfahren, ja sogar der demokratische Souverän lediglich simuliert werden.

Ingolfur Blühdorn, geboren 1964, ist Professor für soziale Nachhaltigkeit und Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. In der edition suhrkamp erschien zuletzt Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende (es 2634).
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR23,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR22,99

Produkt

KlappentextSind die Proteste gegen Stuttgart 21 oder die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ein weiterer Beleg für die Krise der Demokratie? Oder doch eher für ihre Lebendigkeit? Und ist »Krise« überhaupt noch das richtige Wort? Immerhin bezeichnet der Begriff einen vorübergehenden Zustand, aber über Politikverdrossenheit oder gar »Postdemokratie« wird nun schon seit Jahren lamentiert. Ingolfur Blühdorn schlägt eine andere Lesart vor: Wir erleben, so Blühdorn, einen schleichenden Formwandel des Politischen, den Übergang zur »simulativen Demokratie«, in der demokratische Werte, demokratische Verfahren, ja sogar der demokratische Souverän lediglich simuliert werden.

Ingolfur Blühdorn, geboren 1964, ist Professor für soziale Nachhaltigkeit und Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. In der edition suhrkamp erschien zuletzt Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende (es 2634).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518733080
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum15.04.2013
AuflageOriginalausgabe
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4293 Kbytes
Artikel-Nr.1261929
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2. Die Gegenposition: Demokratischer Optimismus

Die im einleitenden Kapitel nachgezeichnete Diagnose der Krise und Erschöpfung der Demokratie ist verbreitet und besorgniserregend, aber keineswegs unumstritten. Negativbotschaften haben stets höheren Aufregungswert und bessere Vermarktungsperspektiven als vorsichtige und differenziertere Beurteilungen. Schon allein um die Dramatisierungsfalle zu vermeiden, ist es daher ratsam, der Darstellung und Diskussion der Gegenperspektive breiten Raum zu geben. Darüber hinaus werden aber auch die Notwendigkeit und der Nutzen einer grundsätzlich neuen Theoretisierung der Demokratie in fortgeschritten modernen Wohlstandsgesellschaften erst dann richtig deutlich, wenn die Grenzen sowohl der Erzählung von der Krise der Demokratie als auch die des gegenteiligen Narrativs von ihrer Lebendigkeit und Innovationskraft voll ausgeleuchtet werden. Tatsächlich kann der Aufstand der Wutbürger ja auch als positives Zeichen für die Demokratie gewertet werden: So viel Beteiligung und Engagement war schon lange nicht mehr! Die Renaissance der Protestbewegungen scheint die Klagen über Entpolitisierung und Bürgerapathie unmittelbar zu widerlegen. Die Menschen scheinen sich um sich und ihre Zukunft sehr wohl zu sorgen und sich entsprechend zu engagieren. War noch Anfang der nuller Jahre verbreitet vom bevorstehenden Ende der grünen Protest- und Bewegungspartei die Rede (z.B. Ditfurth 2000; Raschke 2001; Fuchs 2005; Richter et al. 2007), scheint die elektorale Entwicklung der Grünen - und auch der zwischenzeitliche Erfolg der Piraten - in die entgegengesetzte Richtung zu zeigen, auf die Erschöpfung der »neuen Politik« jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Direktdemokratische Mittel wie Volksbegehren und Volksentscheide werden immer populärer und sind, zumindest in Deutschland, inzwischen flächendeckend in allen Landesverfassungen verankert. Die wiedererstarkte Anti-Atomkraftbewegung erzwang eine Kehrtwende in Merkels Atompolitik. In Baden-Württemberg regiert seit dem Frühjahr 2011 der erste grüne Ministerpräsident. Und die Gründungsforderung von Attac, die Finanztransaktionssteuer (Tobin-Steuer), wird auf EU-Ebene mittlerweile von vielen Seiten befürwortet.

Bereits die älteren Debatten um die sogenannte Politik-, Politiker- und Parteienverdrossenheit wurden in Teilen der Sozialwissenschaften mit einiger Skepsis betrachtet, ließen diese eher journalistischen Begriffe doch unklar, was genau sie eigentlich bezeichnen, auf welche sozialen Gruppen sie sich beziehen, was die Ursachen der entsprechenden Phänomene sind und welche Interessen diejenigen verfolgen, die solche Begriffe verwenden. Was für die Medien einigen Aufregungswert hatte, erschien manchem Sozialwissenschaftler eher als eine zu erwartende Normalisierung. Die Vertreter dieser Normalisierungstheorie gehen davon aus, dass »bei stabilen Verhältnissen über einen längeren Zeitraum, bei Vertrauen in das politische System und seine Institutionen und einer allgemeinen Zufriedenheit mit der Funktionsweise des Systems« (Roth und Hoffmann-Jaberg 1994, 133f.) ein relativ niedriges Niveau der Wahlbeteiligung und sonstigen politischen Aktivität völlig normal, zu erwarten und unbedenklich ist. Bereits in den fünfziger Jahren hatten einige Beobachter gesagt, ein gewisses Maß an politischer Apathie sei sogar durchaus nützlich und wirke systemstabilisierend, da es den politischen Verantwortungsträgern erlaube, ihre Aufgaben ungestörter und zielgerichteter zu erledigen (z.B. Berelson et al. 1954, 316). Wie im ersten Kapitel ausgeführt, hielt ja bereits Schumpeter eine gewisse »demokratische Selbstkontrolle« und eine Enthaltung von der Versuchung des »Hineinregierens« sogar für eine »Vorbedingung für einen Erfolg der Demokratie«.

Ähnliche Skepsis ist von einigen Seiten daher auch der neueren Diskussion um die angebliche Repräsentationskrise und Demokratieverdrossenheit entgegengebracht worden. Von einer solchen Krise, behaupten zum Beispiel Bernhard Weßels oder Ulrich Sarcinelli, könne überhaupt keine Rede sein (vgl. Weßels 2009; Sarcinelli 2011). »Der Wutbürger à la Kurbjuweit«; die These, die Bürger hätten das Vertrauen in die Demokratie und darüber hinaus vielleicht sogar in die Politik überhaupt verloren, sei »eine Chimäre« (Stürmer 2011, 13). Solche skeptischen Aussagen können sich durchaus auf empirische Untersuchungen stützen: Laut der bereits erwähnten Bertelsmann-Studie bekundeten mehr als die Hälfte der Befragten starkes oder sogar sehr starkes Interesse an der Politik, und deutlich mehr als zwei Drittel halten die Demokratie für die beste Staatsform. Dem »Unmut über Parteien, politische Akteure und sonstige Führungskräfte sowie der Unzufriedenheit mit dem aktuellen Politikoutput« stehe ein »hohes Politikinteresse, eine generell hohe Systemakzeptanz« gegenüber (Bertelsmann 2004, 13). »Selbst wenn die aktuelle politische Stimmung von heftiger Kritik an politischen Institutionen, den Leistungsträgern und am gesamten Systemoutput überlagert wird«, impliziere dieser verbreitete Unmut »keinesfalls generelle Distanz gegenüber dem politischen System oder gar eine Entfremdung zwischen Staat und Bürgergesellschaft« (15). Trotz aller Klagen über demokratische Defizite werde »die Demokratie als optimale Staatsform nicht in Frage gestellt« (ebd.). Sogar bei den jungen Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren, deren Einstellungen oftmals als Indikator für sich abzeichnende gesamtgesellschaftliche Entwicklungstrends verstanden werden, habe sich das Interesse an Politik seit einem Tiefpunkt Anfang der nuller Jahre inzwischen wieder deutlich erhöht. Etwa 40 Prozent der Befragten bezeichneten 2010 ihre Bereitschaft zur Beteiligung an politischen Aktivitäten als hoch oder sehr hoch. Und über 80 Prozent hielten die Demokratie für eine gute Staatsform (Shell 2010, 129-164).

Gestützt auf solche Befunde, stellen viele Beobachter fest, dass nicht nur in Deutschland, sondern »in vielen westlichen Demokratien« das Interesse an politischen Fragen in den letzten Jahrzehnten »deutlich zugenommen« habe und ein genereller Trend der Politikverdrossenheit »nicht diagnostiziert werden« könne (Schaal 2010, 6). Bereits in den neunziger Jahren hatten Ulrich Beck oder auch Chantal Mouffe daher von der Erfindung des Politischen (Beck 1997) oder vom Return of the Political (Mouffe 1993) gesprochen, nicht von dessen Ende (Boggs 2000) oder Verschwinden (Fach 2008). In den frühen nuller Jahren war dann bei Lipset und Lakin von einem heraufziehenden »demokratischen Jahrhundert« die Rede (Lipset und Lakin 2004). Und der sogenannte »Arabische Frühling« ist in den Medien immer wieder als Zeichen dafür gewertet worden, dass die Zeit der Entwicklungsdiktaturen nun auch im arabischen Raum ihrem Ende zuneige. Nach der »dritten Welle« der Demokratisierung (Huntington 1991), die zunächst Südeuropa, dann Lateinamerika und schließlich Osteuropa erfasst hatte, scheint nunmehr eine vierte Welle angerollt zu sein. Zwar stellte Freedom House weltweit einen leichten Rückgang der Zahl demokratisch verfasster Länder fest (2011 waren es 45 Prozent aller Staaten, 2007 noch 47 Prozent) und beobachtet in mehr Staaten einen Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten als einen Zugewinn (26 gegenüber 12), aber selbst angesichts der Finanz- und Schuldenkrise blieb die Organisation 2011 und 2012 optimistisch: Sogar in den Ländern, die am stärksten betroffen waren, habe die Krise »keine Trendwende in Bezug auf die Einstellungen gegenüber den demokratischen Institutionen ausgelöst« (Freedom House 2011, 10). Und auch in autoritär regierten Ländern hätte die andauernde Repression es nicht geschafft, den »Geist des demokratischen Widerstands« zu zerstören (ebd.).

2.1 Modernisierung und Demokratisierung

Gesellschaftstheoretische Schützenhilfe erhalten solche Positionen des demokratischen Optimismus vor allem von den Vertretern der klassischen Modernisierungstheorie, nach der Modernisierung und Demokratisierung fest miteinander verbunden sind und der gesellschaftliche Fortschritt die Bedingungen für die Demokratie kontinuierlich verbessert. Bereits Ende der fünfziger Jahre hatte Lipset in einem epochemachenden Aufsatz die These aufgestellt: »[J]e besser es einer Nation ökonomisch geht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Demokratie dort dauerhaft Fuß fasst« (Lipset 1959, 75). Lipset verstand Modernisierung vor allem aus der ökonomischen Perspektive. Die mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergehende Industrialisierung, Urbanisierung, Bildungsexpansion etc., so sein Argument, veränderten die sozialen Bedingungen in einer Weise, die insgesamt der Demokratie förderlich sei. Zudem mache die Modernisierung die Gesellschaft empfänglicher für Normen und Werte der Toleranz, der friedlichen Konfliktlösung und der ideologischen Mäßigung (83f.). Überdies verringere die wirtschaftliche Entwicklung die Einkommensunterschiede, begünstige die Herausbildung einer starken Mittelklasse und mäßige soziale Spannungen. Zusammen bildeten diese verschiedenen Dimensionen der Modernisierung für Lipset »einen...
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