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Das Schönste am Gedächtnis sind die Lücken

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am26.01.2009
»Was ich noch vergessen wollte ...« PETER ENSIKAT
Peter Ensikat hat über drei Jahrzehnte lang die Kabarettszene der DDR maßgeblich geprägt. In seinem neuen Buch betrachtet er die Welt gelassen, auf verhalten satirische, höchst amüsante Weise. Er rückt Erich Honecker in eine verblüffende Nähe zum letzten sächsischen König, und er entdeckt erstaunliche Parallelen zwischen sich und einem Satiriker aus brauner Zeit. Und er fragt sich, wie System erhaltend seine Rolle als Kabarettautor mit »hohen staatlichen Auszeichnungen« wohl gewesen sein mag, wo er doch effektiv nichts tat, um das ungeliebte Regime zu verhindern.
Peter Ensikat über sein neues, autobiographisch gefärbtes Buch: »Zur falschen Zeit (zur Nazizeit), am falschen Ort (im Osten), in falschen Verhältnissen (armen) geboren und aufgewachsen in einer untergegangenen Gänsefüßchenrepublik, der einst nur so genannten, jetzt ehemaligen Ex-DDR. Mit den Jahren dämmerte mir, dass ich was dafür kann, dass ich nichts dafür konnte. Ich habe die falsche Vergangenheit. Leugnen hilft nicht, ich bleibe auch als Derzeitiger ein Ehemaliger.«
Zwei Fotos in seinem Schreibtisch - eines zeigt den Autor mit Erich Honecker, als der ihm 1988 den Nationalpreis überreichte, das andere seinen Schwiegervater mit dem letzten sächsischen König - bilden den Hintergrund für Geschichten über Geschichte, bieten dem Autor einen brillanten Einstieg für satirische Betrachtungen über zwei Wendezeiten in Deutschland, über fremde und eigene Verstrickungen in nicht gerade menschenfreundlichen Zeiten. Dazu Ensikat: »Mein Schwiegervater empfand die Novemberrevolution von 1918 als persönliche Niederlage. Für mich war die Wende 1989 zugleich Befreiung und doch auch Niederlage. Ich gehörte zu den Ersten, die unter dem Ast lagen, an dem wir so lange gesägt hatten. Auch der Verlust eines Gegners kann ein Verlust sein. Jedenfalls waren es zwei Revolutionen - die eine habe ich erlebt, von der anderen habe ich gelesen. Nachdem ich jetzt lese, was über die von mir erlebte Revolution geschrieben wird, misstraue ich allem, was ich über die andere gelesen habe.«

Peter Ensikat, 1941 in Finsterwalde geboren, besuchte nach dem Abitur die Theaterhochschule in Leipzig. Von 1962 bis 1974 Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Bühnen. Kabarettautor seit 1960, u. a. für die Dresdner Herkuleskeule. Seit 1991 Autor und Regisseur beim Berliner Kabarett-Theater Distel, dessen künstlerischer Leiter er von 1999 bis 2004 war. Zahlreiche Bücher, darunter 'Ab jetzt geb ich nichts mehr zu - Nachrichten aus den neuen Ostprovinzen' (1993), 'Uns gab's nur einmal' (1995) und 'Was ich noch vergessen wollte' (2000 bei Blessing) sowie die Kinderbücher 'Das A steht vorn im Alphabet' (1998) und 'Die Familie Ungeheuer' (1998) mit Illustrationen seines Bruders Klaus Ensikat. Peter Ensikat starb am 18. März 2013 in Berlin.
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Produkt

Klappentext»Was ich noch vergessen wollte ...« PETER ENSIKAT
Peter Ensikat hat über drei Jahrzehnte lang die Kabarettszene der DDR maßgeblich geprägt. In seinem neuen Buch betrachtet er die Welt gelassen, auf verhalten satirische, höchst amüsante Weise. Er rückt Erich Honecker in eine verblüffende Nähe zum letzten sächsischen König, und er entdeckt erstaunliche Parallelen zwischen sich und einem Satiriker aus brauner Zeit. Und er fragt sich, wie System erhaltend seine Rolle als Kabarettautor mit »hohen staatlichen Auszeichnungen« wohl gewesen sein mag, wo er doch effektiv nichts tat, um das ungeliebte Regime zu verhindern.
Peter Ensikat über sein neues, autobiographisch gefärbtes Buch: »Zur falschen Zeit (zur Nazizeit), am falschen Ort (im Osten), in falschen Verhältnissen (armen) geboren und aufgewachsen in einer untergegangenen Gänsefüßchenrepublik, der einst nur so genannten, jetzt ehemaligen Ex-DDR. Mit den Jahren dämmerte mir, dass ich was dafür kann, dass ich nichts dafür konnte. Ich habe die falsche Vergangenheit. Leugnen hilft nicht, ich bleibe auch als Derzeitiger ein Ehemaliger.«
Zwei Fotos in seinem Schreibtisch - eines zeigt den Autor mit Erich Honecker, als der ihm 1988 den Nationalpreis überreichte, das andere seinen Schwiegervater mit dem letzten sächsischen König - bilden den Hintergrund für Geschichten über Geschichte, bieten dem Autor einen brillanten Einstieg für satirische Betrachtungen über zwei Wendezeiten in Deutschland, über fremde und eigene Verstrickungen in nicht gerade menschenfreundlichen Zeiten. Dazu Ensikat: »Mein Schwiegervater empfand die Novemberrevolution von 1918 als persönliche Niederlage. Für mich war die Wende 1989 zugleich Befreiung und doch auch Niederlage. Ich gehörte zu den Ersten, die unter dem Ast lagen, an dem wir so lange gesägt hatten. Auch der Verlust eines Gegners kann ein Verlust sein. Jedenfalls waren es zwei Revolutionen - die eine habe ich erlebt, von der anderen habe ich gelesen. Nachdem ich jetzt lese, was über die von mir erlebte Revolution geschrieben wird, misstraue ich allem, was ich über die andere gelesen habe.«

Peter Ensikat, 1941 in Finsterwalde geboren, besuchte nach dem Abitur die Theaterhochschule in Leipzig. Von 1962 bis 1974 Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Bühnen. Kabarettautor seit 1960, u. a. für die Dresdner Herkuleskeule. Seit 1991 Autor und Regisseur beim Berliner Kabarett-Theater Distel, dessen künstlerischer Leiter er von 1999 bis 2004 war. Zahlreiche Bücher, darunter 'Ab jetzt geb ich nichts mehr zu - Nachrichten aus den neuen Ostprovinzen' (1993), 'Uns gab's nur einmal' (1995) und 'Was ich noch vergessen wollte' (2000 bei Blessing) sowie die Kinderbücher 'Das A steht vorn im Alphabet' (1998) und 'Die Familie Ungeheuer' (1998) mit Illustrationen seines Bruders Klaus Ensikat. Peter Ensikat starb am 18. März 2013 in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641012632
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2009
Erscheinungsdatum26.01.2009
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1406 Kbytes
Artikel-Nr.1414847
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
1;Inhalt;6
2;Das Schönste am Gedächtnis sind die Lücken;10
3;Alte Fotos;14
4;Sein König und mein Staatsratsvorsitzender;21
5;Bruder Honecker;28
6;Die Herrscher und ihre Narren;31
7;Sachsens Kriegshelden;42
8;Die richtige und die falsche Seite;49
9;Die Russen kommen;56
10;Wenn es mal wieder anders kommt;61
11;Was tut man, wenn es anders kommt?;67
12;Wie wäscht man sich rein?;77
13;Opfer gibt es immer wieder;84
14;Bruder Reimann;94
15;Wie emigriert man nach innen?;98
16;Vom vergangenen Glück deutscher Zweistaatlichkeit;111
17;Ein Feind, ein guter Feind;131
18;Sag mir, wo die Blumen sind oder Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?;144
19;Die Unaussprechliche;152
20;Armut ist ein Glanz von innen;164
21;Der Patriot in uns und um uns herum;169
22;Wie ich den Himmel offen sah;182
23;Wir sind das Volk, aber wer sind die anderen?;190
24;Wer hat die Wende gewonnen, wer verloren?;205
25;Freiheit oder soziale Sicherheit;215
26;Wann ist die deutsche Einheit vollendet?;224
27;Wenn wir alle Sachsen wären;227
28;Von der Gnade, eine Zeitenwende zu erleben;238
29;Vom Realitätsverlust der Politik;253
30;Sinn und Form oder Die Banalität des Banalen;263
31;Wenn wir erst alle Rentner sind;272
32;Wie lustig ist die Spaßgesellschaft?;279
33;Von den Vorzügen der Diktatur;284
34;Was bleibt übrig? Eine Fußnote im Geschichtsbuch;294
35;Die wunderbare Zeit der Anarchie;303
36;Multikulti - ein westeuropäischer Irrtum;312
37;Glücklich ist, wer vergisst;318
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Leseprobe

Alte Fotos

Vor mir liegen zwei alte Fotografien. Die eine stammt vom 20. Februar 1908, die zweite vom 6. Oktober 1988. Auf der ersten ist der letzte sächsische König Friedrich August Nummer drei im Kreise Leipziger Geschäftsleute zu sehen. Der Junge links neben dem König, fast verdeckt von seiner Majestät, wurde viel später einmal mein Schwiegervater.

Auf dem zweiten Foto bin ich - ganz im Hintergrund - zu sehen. Neben mir stehen ein paar meiner DDR-Kabarett-Kollegen. Mein direkter Nachbar ist der Vogtländer Jürgen Hart, der einst mit »Sing, mei Sachse, sing« berühmt wurde. Daneben steht Hans Krause, einer meiner Vorgänger im Amte der »Distel«-Direktion. Im Vordergrund ist mein Freund Wolfgang Schaller Hand in Hand mit Erich Honecker zu sehen. Ich habe den versilberten Handschlag im Moment der Aufnahme schon hinter mir.

Wir lassen uns gerade von unserem Staatsratsvorsitzenden den Nationalpreis der DDR überreichen. Zwar nur dritter Klasse und im Kollektiv, aber immerhin - einen Scheck über 8000 Ost- Mark Schmerzensgeld gab es für jeden. In der Urkunde steht, wofür wir den Preis bekamen: »Für das von hoher Qualität getragene Gesamtschaffen des politisch satirischen Kabaretts in der DDR.« Die Auszeichnung fand anlässlich des 39. Jahrestages jener DDR statt, die ein Jahr und ein paar Tage später so plötzlich, wie lang erwartet, untergehen sollte. Wir sind also - wie mein Freund Schaller uns gerne nennt - »Widerstandskämpfer mit hohen staatlichen Auszeichnungen« im Amtssitz des Staatsrates.

Ich erinnere mich noch gut an das mulmige Gefühl während des Festaktes. Satire lebt immer und überall vom Missverständnis. Aber war diese staatliche Anerkennung nicht nur ein weiterer Beweis dafür, dass unsere ganze Satire die reine Hofnarretei war? Machten wir uns mit der Annahme des Nationalpreises nicht selbst zur Lachnummer? Das Foto von der Preisübergabe bekam ich dann von der Protokollabteilung des Staatsrates zugeschickt und habe es tief unten im Schreibtisch mit der Urkunde und den tausend Glückwünschen verstaut. Nein, stolz war ich nicht auf die Auszeichnung, aber mutig genug, sie abzulehnen, eben auch nicht. Dabei wäre die einzige Folge solcher Ablehnung gewesen, dass ich künftig mit weiteren Auszeichnungen nicht hätte rechnen dürfen.

Dass er mit »seinem König« zusammen auf ein Foto kam, darauf war mein Schwiegervater zeit seines Lebens stolz. Auch dann noch, als der König kein regierender Herrscher mehr war, sondern nur noch der komische »Sachsen-Geenich«, ein Unikum, von dem man kaum mehr wusste als das, was von ihm in Form von Anekdoten auf die Nachwelt gekommen war.

Aufgeschrieben, zum Teil wohl auch erfunden, hatte diese Anekdoten ein älterer Kollege von mir - der Leipziger Kabarettist und Schriftsteller Hans Reimann. Mein Schwiegervater kannte viele davon auswendig und sprach gern von »seinem König« und von dieser »sächsischen Ulknudel« Reimann. Der hatte in den Zwanzigerjahren in Leipzig und anderswo so erfolgreich linkes Kabarett gemacht, zwei satirische Zeitschriften herausgegeben - Der Drache und Das Stachelschwein. Außerdem hat er für viele linke Blätter, darunter auch für die Weltbühne, geschrieben. Dass dieser Reimann damals ein Linker war, scheint meinen ganz und gar nicht linken Schwiegervater nicht gestört zu haben. Jedenfalls hat er davon nie gesprochen.

Nicht gesprochen wurde im Leipziger Bürgerhaus auch über die seltsame Wandlung des einst »bürgerlich-radikalen« Satirikers zum »Naziclown«. Der Dramatiker und Emigrant Carl Zuckmayer nannte ihn in seinem Geheimreport, den er im Jahre 1943 im Exil für einen amerikanischen Geheimdienst schrieb, »von allen Nazi-Kreaturen die übelste Erscheinung«. Er hatte ihn aus seiner »linken Zeit« gekannt und war ihm dann zu Nazizeiten bei einem heimlichen Berlin-Besuch noch einmal begegnet.

Achtzig Jahre liegen zwischen den beiden Aufnahmen. Noch zehn Jahre Königreich Sachsen im Kaiserreich Deutschland, die ganze Weimarer Republik, zwölf Jahre »Tausendjähriges Reich«, zwei Weltkriege und fast 40 Jahre DDR. Mein Schwiegervater war in beiden Kriegen Soldat, und er war es gern. Er starb dreiundneunzigjährig in Leipzig, ein Jahr vor jener zweiten deutschen Revolution des 20.Jahrhunderts, die ich dann hautnah und nicht ganz unbeteiligt selbst erleben durfte. Von der ersten deutschen Novemberrevolution 1918 sprach er zeit seines Lebens mit Empörung. Ihm, dem kaiserlichen Offiziersanwärter, der »im Felde unbesiegt« nach Hause gekommen war, hatten auf dem Leipziger Hauptbahnhof irgendwelche Halunken, die sich Soldatenräte nannten, die Rangabzeichen von der Uniform gerissen. So ein Umsturz, der alle Rangfolgen durcheinander brachte, war ganz und gar nicht nach dem Geschmack meines Schwiegervaters.

Seit ich heute lesen kann, was so alles über die von mir erlebte Revolution geschrieben wird, misstraue ich übrigens vielem, was ich über die andere zu lesen bekam. Geschriebene Geschichte ist offensichtlich etwas ganz anderes als das, was der Normalsterbliche so erlebt zu haben glaubt. Aufgeschrieben wird sie nun mal von den jeweiligen Siegern. Da können die Verlierer erzählen, was sie wollen. Weil aber aus Siegern immer mal wieder Verlierer werden, muss die Geschichte auch immer mal wieder umgeschrieben werden. Auch wo das Gute siegt, müssen nicht immer die Besten gewinnen. Aber dass nach siegreichen Revolutionen immer das Gute gesiegt hat, ist allen guten Siegern klar. Von selektivem Erinnerungsvermögen sind eben - wie wir alle - auch die Historiker nicht frei. Sie forschen ja auch selten für sich allein. Meist tun sie es in gesellschaftlichem Auftrag.

Mein Schwiegervater hätte die Revolution von 1989, im Gegensatz zu der von 1918, wohl von Herzen begrüßt, auch wenn er mit Revolutionen im Allgemeinen ganz und gar nichts am Hut hatte. Er hasste jede Art von Durcheinander. Aber dass diese Wende zum »natürlichen« Kapitalismus über kurz oder lang kommen müsste, das gehörte zu seinen festen Überzeugungen. Er, der bekennende Antikommunist, ließ sich auch im real-existierenden Sozialismus von uns Besserwissern seine Kaiserzeit nicht schlecht machen. Für das, was unterm Kaiser besser war, fand er übrigens ganz ähnliche Argumente, mit denen mancher von uns dann die DDR nachträglich so schön zu reden versuchte, wie sie erst in der Erinnerung werden konnte. Was hat seinerzeit das Brötchen gekostet oder die Straßenbahnfahrt? Und solche Kriminalität wie heute gab es früher grundsätzlich nicht - weder unterm Kaiser, noch in der DDR. Mit ruhigem Abstand betrachtet verliert viel Böses seinen Schrecken. Was früher war, wird irgendwann schön.

Dass einer wie ich in seine bürgerliche Familie einheiraten durfte, muss mein Schwiegervater wohl für eine der hinzunehmenden Kriegsfolgen gehalten haben. Standesunterschiede, die für ihn immer eine entscheidende Rolle gespielt hatten, galten im Osten einfach nichts mehr. Seine Liebe zu Adel und Militär hatte wohl vor allem etwas mit seinem Hang zum Hierarchischen zu tun. Ordnung liebte er, klare Regeln und Unterstellungsverhältnisse, wie sie beim Militär selbstverständlich sind. Gern erzählte er von adligen Freunden im Leipzig der Weimarer Republik. Bemerkenswert fand er, dass sie ihn, den Bürgerlichen, wie einen der ihrigen behandelt hätten. Weniger bemerkenswert fand ich, dass er mich schließlich auch nicht mehr als »das Subjekt« betrachtete, das sich in seine Familie eingeschlichen hatte. Nein, nachdem er nicht hatte verhindern können, dass seine Tochter und ich heirateten, ließ er mich zumindest nicht mehr spüren, dass ich eigentlich nicht dazugehörte. Irgendwann gewöhnte er sich an das Unvermeidliche, mag es ihm auch noch so unnatürlich erschienen sein. Am Vorabend der Hochzeit bot er mir - weil seine Frau ihn drängte - sogar das Du an. Es ist uns beiden anfangs gar nicht leicht gefallen, davon Gebrauch zu machen.

Einmal begleitete ich ihn zu einem Nachbarn, der seine Übersiedlung in die Bundesrepublik vorbereitete und uns einige seiner Möbel verkaufen wollte. Zu meiner Verblüffung hörte ich, wie mein Schwiegervater diesen Nachbarn respektvoll mit »Herr Oberst« anredete. Das war Anfang der Sechzigerjahre. Der »Herr Oberst« trug in der eiskalten, aber herrschaftlich eingerichteten Wohnung einen mit Fell gefütterten Offiziersmantel ohne Rangabzeichen. Als er meinen Schwiegervater freundlich aufforderte, ihn doch einfach »Kamerad« zu nennen, war der sichtlich geschmeichelt. Selbst hatte er es nur bis zum Major gebracht. Von Kameraden, mit denen er sich nach dem Krieg immer mal wieder traf, hatte er gehört, dass seine »Beförderung zum Oberstleutnant bereits unterwegs gewesen sei«. Aber in den Wirren der letzten Kriegstage ist sie wohl irgendwie verloren gegangen. Das erzählte er mir mehrmals mit nicht zu überhörendem Bedauern.

Mich nannte er lange Zeit leicht herablassend den »Gaukler«, und das nicht nur, weil ich Schauspieler war. Als eher linker Revoluzzer, der ich damals sein wollte, passte ich so gar nicht in sein deutsch-nationales Weltbild. Ich hatte ja nicht mal »gedient«. Dieses »gedient oder nicht gedient« spielte für ihn auch in DDR-Zeiten eine entscheidende Rolle. Zu seinem Bild vom Manne gehörte einfach die militärische Ausbildung, egal, ob sich die Armee nun kaiserlich nannte, faschistisch oder sozialistisch. Dass seine Enkel dem Dienst in der Nationalen Volksarmee der DDR ablehnend gegenüberstanden, konnte er einfach nicht verstehen. Seinem Vaterland, egal, welchem, hatte man zu dienen. Dass ich solchen Dienst in jeder Armee ablehnte und den in der Nationalen Volksarmee schließlich verweigerte, nahm er kommentarlos hin. Von mir, dem eingeheirateten...

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Autor

Peter Ensikat, 1941 in Finsterwalde geboren, besuchte nach dem Abitur die Theaterhochschule in Leipzig. Von 1962 bis 1974 Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Bühnen. Kabarettautor seit 1960, u. a. für die Dresdner Herkuleskeule. Seit 1991 Autor und Regisseur beim Berliner Kabarett-Theater Distel, dessen künstlerischer Leiter er von 1999 bis 2004 war. Zahlreiche Bücher, darunter "Ab jetzt geb ich nichts mehr zu - Nachrichten aus den neuen Ostprovinzen" (1993), "Uns gab's nur einmal" (1995) und "Was ich noch vergessen wollte" (2000 bei Blessing) sowie die Kinderbücher "Das A steht vorn im Alphabet" (1998) und "Die Familie Ungeheuer" (1998) mit Illustrationen seines Bruders Klaus Ensikat. Peter Ensikat starb am 18. März 2013 in Berlin.