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Ich nicht

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am30.10.20091. Auflage
Kaum ein anderer hat unser Verständnis vom Dritten Reich so sehr geprägt wie Joachim Fest. Doch wie hat er selbst diese Zeit und die Nachkriegsjahre erlebt? In seinen als Meisterwerk gefeierten Erinnerungen erzählt er vom katholischen Elternhaus in Berlin, dem Berufsverbot für den Vater, dem eigenen Schulverweis, Kriegsdienst und Gefangenschaft. Entstanden ist das Porträt einer Familie, die sich den Nazis verweigerte. «Ein außerordentliches Erinnerungsbuch.» Der Spiegel «Das Bild dieser Familie mit ihrem unverwechselbaren Ton ist schlechterdings hinreißend. Man schaut sich um in der deutschen Literatur nach einer Parallele und findet keine.» Süddeutsche Zeitung

Joachim Fest (1926 - 2006) war einer der bedeutendsten Autoren und Historiker der Bundesrepublik. Ab 1963 arbeitete er als Chefredakteur des NDR und von 1973 bis 1993 als Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Seine Hitler-Biographie wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Weitere Werke: «Speer» (1999), «Der Untergang» (2002), «Begegnungen» (2004), «Ich nicht» (2006), «Bürgerlichkeit als Lebensform» (2007).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR19,90
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextKaum ein anderer hat unser Verständnis vom Dritten Reich so sehr geprägt wie Joachim Fest. Doch wie hat er selbst diese Zeit und die Nachkriegsjahre erlebt? In seinen als Meisterwerk gefeierten Erinnerungen erzählt er vom katholischen Elternhaus in Berlin, dem Berufsverbot für den Vater, dem eigenen Schulverweis, Kriegsdienst und Gefangenschaft. Entstanden ist das Porträt einer Familie, die sich den Nazis verweigerte. «Ein außerordentliches Erinnerungsbuch.» Der Spiegel «Das Bild dieser Familie mit ihrem unverwechselbaren Ton ist schlechterdings hinreißend. Man schaut sich um in der deutschen Literatur nach einer Parallele und findet keine.» Süddeutsche Zeitung

Joachim Fest (1926 - 2006) war einer der bedeutendsten Autoren und Historiker der Bundesrepublik. Ab 1963 arbeitete er als Chefredakteur des NDR und von 1973 bis 1993 als Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Seine Hitler-Biographie wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Weitere Werke: «Speer» (1999), «Der Untergang» (2002), «Begegnungen» (2004), «Ich nicht» (2006), «Bürgerlichkeit als Lebensform» (2007).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644004214
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2009
Erscheinungsdatum30.10.2009
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1433894
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




1. KAPITEL
Wie alles zusammenkam


Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, lautet Erinnerung. Die Mehrzahl der Erlebnisse und Erfahrungen meines Daseins sind, wie bei jedem, ins Vergessen zurückgefallen. Denn das Gedächtnis ist unausgesetzt dabei, das eine auszusondern, anderes an dessen Stelle zu rücken oder durch neue Einsichten zu überlagern. Der Prozeß hat kein Ende; blicke ich die lange Strecke zurück, drängt eine Flut von Bildern heran, alle wirr und zufällig. Im Augenblick des Geschehens verband sich kein Gedanke damit, und erst nach Jahren gelangte ich dazu, die verborgenen Wasserzeichen in den Lebenspapieren zu entdecken und womöglich zu lesen.

Aber selbst dann noch schieben die Bilder sich, zumal für die frühen Jahre, nach vorn: das Haus mit dem wildnishaften, später vom Ordnungssinn der Eltern zu unserem Kummer entfernten Gestrüpp an den Seiten; das Krebsefangen in der Havel; das geliebte Kindermädchen Franziska, das eines Tages in seine Lausitzer Heimat zurückmußte; die Lastwagen, die mit einer knallenden Fahne durch die Straßen jagten und von grölenden Uniformleuten besetzt waren; die Ausflüge nach Sanssouci oder Gransee, wo mein Vater uns von einer preußischen Königin erzählte, bis es uns zu langweilen begann. Unvergessen alles. Und wer von uns Kindern zehn Jahre alt war, wurde jeweils an einem Sonntag im Sommer, wenn die Musikkapelle spielte und vor dem «Kaiserpavillon» die meist zweirädrigen Adelsgespanne herumstanden, zur Rennbahn mitgenommen. Sie war, wie Karlshorst im ganzen, aus dem abgelegenen Treskowschen Vorwerk von meinem Großvater weiterentwickelt worden und später zum Ruf der größten Hindernisbahn des Landes gelangt. Wie gestern sehe ich das Defilee der riesigen Pferde mit den kleinen, seidenbunten Männern im Jockeydreß sowie die feierlich stolzierenden Herren im mausgrauen Cut mit Schleifen am Hals und gewölbten Steifbrüsten. Die Damen hingegen blieben meist unter sich und betrachteten einander lauernd im Schatten rädergroßer Hüte: ob irgendeine Rivalin zu entdecken und mit einer vernichtenden Bemerkung zu erledigen sei.

Es war eine fremdartige, vornehme Welt, die mein Großvater nach Karlshorst gebracht hat. Er stammte aus der angesehenen Aachener Tuchhändlerfamilie Straeter, die am Niederrhein verbreitet und so wohlhabend war, daß sie sich alle zwei Jahre einen Zug für eine Pilgerfahrt nach Rom mieten konnte und vom Papst zur Privataudienz empfangen wurde. Die Umstände hatten ihn frühzeitig mit dem Hochadel in Verbindung gebracht, mit Anfang Zwanzig war er bereits «Reisemarschall» des Herzogs von Sagan und ging wenig später als «Fürst Fürstenbergischer Inspektor» nach Donaueschingen. Seine frühen Jahre verbrachte er vornehmlich auf den Adelssitzen Frankreichs, und auf Schloß Valençay, dem einstigen Besitz Talleyrands, hatte er meine Großmutter kennengelernt, die aus einer Donaueschinger Familie stammte und bei den Fürstenbergs als Hofdame tätig war. Es war eine große Liebe; sie hielt bis in das Philemon-und-Baucis-Alter, ehe der Krieg alles zersprengte. Lange Zeit noch wurde in der Familie vorwiegend Französisch gesprochen, und französisch war auch die Küche des Hauses mit Zwiebelsuppe, Entenpastete und Crème caramel. In der Bibliothek des Großvaters standen in ehrfurchtgebietenden Lederausgaben die meisten Klassiker des Nachbarlandes. Ich habe ihn manchmal im Auf und Ab vor seinem Schreibtisch Racine deklamieren gehört, doch seine Lieblingsautoren waren Balzac und Flaubert.

Nach Berlin war der Großvater gelangt, als 1890 der aufsehenerregende Mord des Ehepaars Heinze an einem vermögenden Hausbesitzer, nach einer anderen Version allerdings an einem Fräulein von der Inneren Mission oder, nach der wahrscheinlichsten Überlieferung, an einer Prostituierten verübt worden war. Da die Heinzes, deren Untat von meinem Großvater und vielen anderen oft mit den Morden Jack the Rippers verglichen wurde, im anschließenden Prozeß aussagten, sie hätten den Mord vor allem begangen, um auf die schreiende Wohnungsnot in Berlin aufmerksam zu machen, hatten sich zwei und später drei Gruppen wohlhabender Familien zu philanthropischen Siedlungsgesellschaften zusammengetan, die größte auf Anregung des Kammerpräsidenten Dr. Otto Hentig und unter der Federführung des Fürsten Karl Egon zu Fürstenberg. Ihr gehörten die Treskows an, die seit 1816 im nahen Friedrichsfelde residierten, sowie August von Dönhoff, die Lehndorffs und ähnlich angesehene Familien. Auch der weithin bekannte Architekt Oscar Gregorovius zählte in der Gründungszeit dazu, desgleichen etwas später der berühmte Baumeister Peter Behrens.

Mein Großvater hat den Heinzes die Berufung auf das Elend der Slums oder die Hinterhofschrecken im Wedding nie abgenommen. Denn er glaubte, daß das barmherzige Motiv erlogen war, weil seine Lebenskenntnis ihm sagte, daß die Robin Hoods dieser Welt durchweg der Literatur, fast niemals der Wirklichkeit entstammen. Infolgedessen war er bemüht, alles über Gotthilf Heinze, den er öfters «Gotthilf den Schlitzer» nannte, zu erfahren, und forschte sogar nach Hintermännern, Geheimbünden sowie vor allem nach jener wüsten, womöglich rothaarigen Schönheit, von der in manchen, wenn auch windigen Quellen die Rede war: dem «Engel aus dem Gully», wie er sie einmal, Jahre später, mir gegenüber genannt hat. Nie ist mir ganz klargeworden, ob sie das prostituierte Opfer oder eine Komplizin der Mörder gewesen war. Er glaube an die Komplizin, sagte mein Großvater und knurrte: «Bezeichnend! Die Ehefrau zieht er in den Mord hinein, die Geliebte bleibt im Hintergrund und hält sich fürs Vergnügen bereit.»

Im Mai 1895 unterzeichnete der zuständige Landrat den sogenannten Siedlungskonsens über das 600 000 Quadratmeter große Vorwerk Carlshorst, und unmittelbar darauf setzte eine Art Wettlauf um möglichst ansehnliche Parzellenstücke ein. Die philanthropische Gesellschaft des Fürsten zu Fürstenberg erwies sich als allen Konkurrenten überlegen und berief meinen damals siebenundzwanzig Jahre alten Großvater zum Geschäftsführer. Seine Aufgabe bestand darin, das erworbene Gelände in Zusammenarbeit mit Oscar Gregorovius und den Behörden als Vorort herzurichten, die Straßenverläufe festzulegen, die Grundstücke zu parzellieren und zu erschwinglichen Preisen zu verkaufen. Mit jedem Zuwachs kam ein neues Viertel hinzu: Es gab die Adelsstraßen, das Rheinische, das Sagen- sowie das Wagnerquartier und so Schritt für Schritt weiter.

Mein Großvater bewältigte seine Aufgabe mit großem Geschick, erkannte aber frühzeitig, daß der Ort über die beschaulichen Wohnverhältnisse hinaus, die Karlshorst bis in meine Jugendjahre besaß, einige Anziehungspunkte aufweisen müsse. So kamen ein Krankenhaus, eine protestantische sowie eine katholische Kirche und ein kleiner Park mit einem Seestück dazu, der über einem ehemals sumpfigen Gelände angelegt wurde und bald Spaziergänger von weit her anlockte. Auch die Treskowsche Rennstrecke wurde mit Umsicht zum Zentrum eines gesellschaftlichen Ereignisses ausgebaut. In späteren Jahren und eigentlich schon nach der Zeit meines Großvaters gelangte sogar eine Militärschule nach Karlshorst. Am Ende zählte das «Kümmernest», wie er gern sagte, oder die «öde Sandheide», wie es in einem amtlichen Papier hieß, die bei seiner Ankunft aus acht Häusern oder eigentlich Höfen mit nicht einmal einhundert Ansässigen bestanden hatte, weit über 30 000 Bewohner.

In den Jahren, in denen ich ihn bewußt wahrnahm, war der Großvater ein verschlossener, gebieterisch strenger Mann, der während der vielköpfigen Familientreffen das mitunter ausbrechende Durcheinandergerede mit einem trockenen Einwurf ins Nüchterne zurückholte. Auf der Straße sah man ihn meist im Gehrock mit Stock und Melone, was ihm schon zu jener Zeit die altmodische Aura gab, die er gern und mit störrischem Vorsatz herauskehrte. Anders als meine drei jüngeren Geschwister, die ihm nach Möglichkeit aus dem Weg gingen, suchten mein älterer Bruder Wolfgang und ich das Gespräch mit ihm, wie einsilbig es oftmals auch verlief. Denn er war ein aufmerksamer Zuhörer, der stets die weiterführenden Fragen zu stellen wußte. Eine meiner Schwestern hatte später an ihm auszusetzen, er habe ein allzu mürrisches Gesicht und «scheußlich tief herabgezogene Mundwinkel». Aber selbst sein Schweigen, fanden Wolfgang und ich, hatte Gewicht. Sein Taschentuch war immer mit ein paar Tropfen Eau de Cologne besprüht. Die Vorübergehenden grüßten ihn respektvoll und zogen mit einer tiefen, fast bis zum Knie reichenden Geste den Hut, was uns nicht selten zum Lachen brachte. Die Älteren erinnerten sich noch, daß Karlshorst zu einem Teil sein Werk war.

Die Frau an seiner Seite, meine Großmutter, war von einer zierlichen Ergebenheit und wußte mit jedem ihrer Enkelkinder auf andere, der kleinen Person angemessene Weise zu reden. Ihr Leben war nicht immer einfach verlaufen, und obwohl die vielen Kümmernisse ihre Miene gezeichnet hatten, ließ sie sich keine Unzufriedenheit anmerken; statt dessen war sie heiter und von praktischem Sinn. Sie habe Freude daran, sich nützlich zu machen, dieses Empfinden entschädige sie für alle Lasten, hörte ich sie so oder ähnlich häufig sagen. Der Ehe entstammten fünf Töchter; zu beider nie verwundenem Schmerz besaßen sie keinen Sohn. Zwei der Töchter waren in einen kirchlichen Orden eingetreten, die eine, um in einer Mission in Afrika zu arbeiten, die andere wurde, unter dem schönen Namen S. Alcantara, von ihren Oberen einem Kloster in Meran zugewiesen. Hochgewachsen, besaß sie eine Gestalt von äbtissinnenhafter Würde, wirkte dabei aber seltsam zerbrechlich. Sie...

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