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Wenn es klopft

Erzählungen
dtv Deutscher Taschenbuch Verlagerschienen am01.07.2010
Wenn ein Moment ein ganzes Leben verändert.  Wenn es klopft, kann sich alles verändern: jeden Moment kann das Leben eine andere Richtung einschlagen. Christopher Kloeble erzählt von diesen Momenten. Die verräterische Geste eines Mannes veranlasst eine Kioskbesitzerin, die Verfolgung aufzunehmen. Eine Pflegerin provoziert den letzten Auftritt eines pensionierten Schauspielers. Die Mutter der vorlauten Mari verwickelt ihren Nachbarn in eine zwielichtige Liebschaft. Ein junger Mann setzt auf Besuche bei einer Prostituierten, um seiner Beziehung neuen Schwung zu verleihen. Und mit einem mächtigen Sessel dringt ein schmerzhaftes Geheimnis in die Kindheit eines Mädchens. Jürgen-Ponto-Literaturpreisträger Christopher Kloeble beschreibt in seinen Erzählungen feine Risse und entscheidende Risse im Leben seiner Helden. Er markiert Wendepunkte, nimmt die vermeintlich banalen Dinge aber ebenso wichtig wie die großen Zäsuren. So eindrücklich wie berührend erzählt er von Menschen, die sich mit Witz, Mut und Widerständigkeit ihr Leben erstreiten. 

Christopher Kloeble ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern. Als Gastprofessor lehrte er u.a. in Cambridge (GB) und den USA. Kloeble lebt in Berlin und Delhi.
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Produkt

KlappentextWenn ein Moment ein ganzes Leben verändert.  Wenn es klopft, kann sich alles verändern: jeden Moment kann das Leben eine andere Richtung einschlagen. Christopher Kloeble erzählt von diesen Momenten. Die verräterische Geste eines Mannes veranlasst eine Kioskbesitzerin, die Verfolgung aufzunehmen. Eine Pflegerin provoziert den letzten Auftritt eines pensionierten Schauspielers. Die Mutter der vorlauten Mari verwickelt ihren Nachbarn in eine zwielichtige Liebschaft. Ein junger Mann setzt auf Besuche bei einer Prostituierten, um seiner Beziehung neuen Schwung zu verleihen. Und mit einem mächtigen Sessel dringt ein schmerzhaftes Geheimnis in die Kindheit eines Mädchens. Jürgen-Ponto-Literaturpreisträger Christopher Kloeble beschreibt in seinen Erzählungen feine Risse und entscheidende Risse im Leben seiner Helden. Er markiert Wendepunkte, nimmt die vermeintlich banalen Dinge aber ebenso wichtig wie die großen Zäsuren. So eindrücklich wie berührend erzählt er von Menschen, die sich mit Witz, Mut und Widerständigkeit ihr Leben erstreiten. 

Christopher Kloeble ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern. Als Gastprofessor lehrte er u.a. in Cambridge (GB) und den USA. Kloeble lebt in Berlin und Delhi.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423403764
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Erscheinungsjahr2010
Erscheinungsdatum01.07.2010
Seiten200 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse268
Artikel-Nr.1436178
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Vierundachtzig Schritte


Ich spreche ein Gebet in ihren Kopf. Das wird sie hören, solange ich es nur ernst genug meine, so ernst wie ein Kind, das nach seiner Mutter verlangt. Und genau das bin ich wieder, wenn ich auf diese Weise mit ihr spreche, ich bin zehn Jahre alt, und die Sonne versteckt sich vor mir.

 

Bis neunzehnhundertdreiundneunzig hatte der Sonnenaufgang noch seinen eigenen Klang. In den Stunden davor verschwand Segendorf, unser Ort, für einen, der es hören wollte, in der Nacht - abgesehen von dem Hof an der Ludwigstraße, auf dem ich mit meinen Eltern lebte, die sich frühestens um Mitternacht die Kehlen heiser schrien. Keine Tür, keine Wand war dick genug, wurde ich davon geweckt, war an Einschlafen nicht mehr zu denken, und trotzdem drückte ich oft das Kissen auf meine Ohren, schloss die Augen und atmete langsam und tief, wie man eben atmet, wenn man einschlafen will.

Weder wusste ich noch interessierte mich, worüber sie stritten, außerdem konnte ich sie kaum verstehen, ihre Worte blieben auf dem Weg zu mir an Balken und Dielen hängen, nur Laute drangen zu mir durch, so lange, bis ich mich irgendwann in die Bettdecke wickelte und zum Beten vor dem Fenster Platz nahm, das in Richtung der Berge zeigte, hinter denen sich die Sonne versteckte.

Manchmal ließ sie sich lange bitten. Mit den ersten Sonnenstrahlen wurden meine Eltern dann leiser, bis ich sie gar nicht mehr hören konnte, und obwohl das Dorf jetzt aufwachte, Kühe blökten und Traktoren losknatterten, war das ein eigenartig beruhigender Klang, der mich noch etwas schlafen ließ, bevor ich zur Schule musste.

 

Mein Platz im Klassenzimmer war von meinem Bett aus genau neunhundertdreiundsiebzig Schritte weit entfernt; das machte tausendneunhundertsechsundvierzig Schritte an einem Tag. Bis zum Bäcker waren es vierhundertsiebzehn, bis zum Schuster zweihundertdreiundsiebzig, bis zu unserem Stall nur einundfünfzig, und drei weitere für jede Kuh. Bloß dreiundvierzig Schritte brauchte ich bis zur Schreinerei meines Vaters, noch lieber lief ich aber in die Küche zu meiner Mutter; hin brauchte ich nur halb so viele wie für den Rückweg.

Egal, wohin man wollte, in Segendorf blieb man auf jeder Strecke unter dreitausend Schritten. Und über jede einzelne machte ich mir eine Notiz; das nahm ich sehr ernst, und ich konnte es nicht ausstehen, wenn mich jemand beim Zählen durcheinanderbrachte und ich schätzen musste. Schätzen war kaum besser als Lügen. (Und das sah der liebe Gott gar nicht gern.)

 

Auf die Idee mit den Schritten hatte mich meine Mutter gebracht, wer sonst. Einmal war ich beim Versteckspiel von Hof zu Hof gerannt - jedes Bauerngrundstück war zur Haupt- und Ludwigstraße hin offen, es gab keine Zäune oder Tore, man konnte es durchqueren, wann man wollte, und von dieser Möglichkeit machten vor allem wir Kinder Gebrauch -, ich war also über einen Hof gerannt, vor dem Stall ausgerutscht und mit dem Gesicht direkt in einem Kuhfladen gelandet. An den Geschmack kann ich mich zum Glück nicht erinnern, ich weiß nur noch, dass meine Mutter, als ich übel gelaunt nach Hause kam, mein Gesicht mit einem kratzigen Lappen sauber wischte und mir ein Stück Brombeerkuchen in den Mund schob, an dessen süßsauren Geschmack ich mich sehr wohl erinnere. Ich solle mehr auf meine Füße achten, bläute sie mir ein, und ich erwiderte kauend, dann bräuchte ich ja ewig, um wohin zu kommen. Darauf lachte sie, stopfte mir den Mund mit einem noch größeren Stück Brombeerkuchen und erklärte, Schritte seien wie Schafe. Zähle man sie, vergehe die Zeit, bis man dort ankam, wo man hinwollte, sehr viel schneller.

 

Wie langsam die Zeit vergeht, wenn man fast keine Schritte mehr macht, würde ich sie jetzt gerne fragen, wie lange dauert eine Stunde, wenn man in einem dunklen Krankenzimmer liegt, ein Loch in die Decke starrt und auf keine Frage und keine Bitte mehr reagiert, von niemandem, nicht einmal mir, wie lange braucht der Sekundenzeiger da für eine Runde?

Ehrlich gesagt, ich will es gar nicht wissen, mich interessiert nur, wie ich von hier weg komme, und eigentlich sollte das kein Problem sein - vom Haupteingang bis zu ihrem Bett habe ich vierundachtzig Schritte gezählt, mickrige vierundachtzig -, aber es geht nicht. Ich kann nur mit ihr abhauen, genau wie vor siebzehn Jahren, als wir das erste Mal zusammen im Krankenhaus waren und sie mich in ihrem Bauch hinein- und in ihren Armen hinaustrug; daran erinnere ich sie, während ich mein Gebet spreche, und auch daran, als wir Eiszapfen von den Regenrinnen abbrachen und damit fochten, und wie man gegen das Zirpen der Grillen auf den Wiesen anschreien musste, welche Muster wir beim Odeln auf die schneeweißen Felder zeichneten, und wie sie mir eine Räuberleiter machte, damit ich hochsteigen, an den Ästen des Pflaumenbaumes rütteln und alle Pflaumen zum Fallen bringen konnte.

Als einmal jemand meinen Vater fragte, was er an ihr am meisten schätze, sagte er: ihre Unberechenbarkeit. Und auf die Frage hin, was ihm am wenigsten an ihr gefalle, kam seine Antwort keinen Deut langsamer: ihre Unberechenbarkeit. Dann beugte er sich vor, hob geheimniskrämerisch eine Hand vor den Mund und verglich seine Ehe mit einem Apfelbaum, der nur wenig von den Gesetzen der Jahreszeiten halte. An machen Tagen im tiefsten Winter hingen pralle Früchte an seinen Ästen, an anderen im Frühling verweigere er jede Andeutung einer Blüte, und an wieder anderen im Sommer schüttele er sich wie aus einer Laune heraus und entledige sich all seiner Blätter.

Bei der Sonntagsmesse, zum Beispiel, trug meine Mutter von allen Bäuerinnen die höchsten Absätze.

»Um dem LIEBEN Gott möglichst nah zu sein«, sagte sie zu den anderen Frauen, die den Kopf schüttelten.

»Und um ein Stück weiter von denen entfernt zu sein«, flüsterte sie mir zu.

Das mit Schminke gemalte weiße Kreuz und rote Herz auf ihrer Stirn hatte rein gar nichts mit der Schweizer Flagge zu tun, wie manche Nachbarn fälschlicherweise glaubten, sondern war ihre Botschaft an die Welt, so klein die in unserem Dorf auch sein mochte. Obwohl sie mir oft genug erklärte, wie genau diese Botschaft lautete, habe ich das nie richtig verstanden. Nach ihren Ausführungen schwirrte mir bloß der Kopf vor lauter Fremdwörtern: Institution, ostentativ, essenzielle Affektiertheit, Obolus - für mich waren das merkwürdige Geräusche, keine Wörter. Gelernt hatte sie die in einer winzigen Nebenkammer der Stube, fast schon ein Abstellzimmer, in dem ein klobiger Holzofen neben einem Sessel mit kaputten Sprungfedern stand. Drum herum überall Bücher. Atlanten, Reiseführer, Taschenbücher, Ausstellungskataloge, Romane und was weiß ich noch alles türmten sich vom Boden bis zur Decke, und wollte sie ein Buch von weiter unten lesen, musste ich ihr helfen, einen der Stapel anzuheben. Schon seit ich mich erinnern kann, wünschte sie sich von meinem Vater, dass er ihr ein paar Regale zimmerte, aber sobald sie ihn einmal darauf ansprach, schob er wichtigere Arbeiten vor, weshalb sie im Oktober, wenn die ersten, schweren Regenwolken an den Bergen hängen blieben und es tagelang schüttete, viel Wert darauf legte, dass in dem Holzofen ein Feuer brannte, um die Feuchtigkeit aus der Kammer fernzuhalten. In den Augen meines Vaters, hatte sie mir erklärt, gelte das als Verschwendung von Brennholz. Er sage das nur deshalb nicht laut, da er befürchte, sie werde dann wieder mit den Regalen anfangen.

 

Von meiner Mutter wusste ich auch, dass meinem Vater für jedes Thema, das er nicht ansprach, ein Barthaar spross. Und er trug einen so dichten Vollbart, dass er mithilfe von etwas Kreidestaub aussah wie der dünne Zwillingsbruder des Nikolaus. An jedem sechsten Dezember stapfte er, in einen mit Schafswolle gefütterten Ledermantel gehüllt, von Haus zu Haus durch den Schnee in unserem Dorf. Ein Kissen für die angemessene Wampe vor den Bauch gespannt und einen Sack voller Geschenke auf dem Rücken, ausgerüstet mit einem selbst geschnitzten Wanderstab und einem goldenen Buch voller blanker Seiten, spielte er den Nikolaus für alle Kinder, deren Eltern ihn dafür bezahlten.

 

Ich bekam ihn umsonst; obwohl ich mit zehn Jahren schon lange nicht mehr an den Nikolaus glaubte, und auch nicht ans Christkind, und noch weniger an den Osterhasen. Der Einzige, den es wirklich geben musste, war der liebe Gott. Sonst wären wir drei nicht jeden Sonntagmorgen auf den Traktor gestiegen, auch bei Dunkelheit und minus achtzehn Grad im Winter, und mit zwanzig Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit in den Nachbarort gezuckelt, zur Kirche. Ein Auto besaßen wir nicht. Dafür sechsundzwanzig Milchkühe, eine schwankende...

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Kritik
»Kloeble beschäftigt sich mit Wendepunkten, die dem Leben seiner Figuren eine andere Richtung geben.«Henriette Ärgerstein, Rheinischer Merkur 28.01.2010mehr