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Grimus

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am13.10.2014
Der erste Roman und Schlüssel zum späteren Werk des Weltliteraten.
Seit dem Genuss eines magischen Unsterblichkeitselixirs wandert der junge Indianer Flapping Eagle auf der Suche nach seiner Schwester über die Welt. Nach 777 Jahren, 7 Monaten und 7 Tagen ist er seiner Unsterblichkeit mehr als überdrüssig und weiß mit dem Geschenk des ewigen Lebens nicht mehr viel anzufangen. Durch ein geheimnisvolles Tor gerät er auf die Insel Calf Island, die in einer Paralleldimension liegt. Dort trifft er auf andere Unsterbliche. Doch findet er auf Calf Island auch den mächtigen Zauberer Grimus, der die Fäden des ewigen Lebens in der Hand hält?

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
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Produkt

KlappentextDer erste Roman und Schlüssel zum späteren Werk des Weltliteraten.
Seit dem Genuss eines magischen Unsterblichkeitselixirs wandert der junge Indianer Flapping Eagle auf der Suche nach seiner Schwester über die Welt. Nach 777 Jahren, 7 Monaten und 7 Tagen ist er seiner Unsterblichkeit mehr als überdrüssig und weiß mit dem Geschenk des ewigen Lebens nicht mehr viel anzufangen. Durch ein geheimnisvolles Tor gerät er auf die Insel Calf Island, die in einer Paralleldimension liegt. Dort trifft er auf andere Unsterbliche. Doch findet er auf Calf Island auch den mächtigen Zauberer Grimus, der die Fäden des ewigen Lebens in der Hand hält?

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641144128
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum13.10.2014
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1441 Kbytes
Artikel-Nr.1444608
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



31. Steine

K bei Nacht: Häuser, die sich zusammendrängen, als suchten sie Schutz, als könnten sie einander wärmen. Primitive Fassaden, durch Feuchtigkeit, Nebel und Zeit fleckig gewordene, schmutzig-weiß gekalkte Notbehelfe, architektonische Krüppel, die trotz all ihrer krummen Ziegel und schiefen Türen trotzig überlebten.

Rings um die Häuser - die Straßen. Lebenslinien aus Staub, die sich wirbelnd und kräuselnd um die deformierten Häuser wanden, aus dem Nichts kommend, ziellos kreisend, die reine Existenz ihr einziger Zweck. Ein Ort musste Straßen haben: leere Räume zwischen den ausgefüllten Lücken.

Eine Straße, und nur eine einzige, konnte den Kopf hoch tragen. Als Avenue mit Kopfsteinpflaster durchschnitt sie die Staubwirbel, schlich sie sich von einem Ende zum anderen durch die nächtliche Stadt, stets und überall den höheren Rang behauptend, ein Römer unter Barbaren.

Ein Mann, heruntergekommen wie seine Kleider, ebenso verschmutzt wie die Häuser, ebenso verstaubt wie die Straßen, kroch diese majestätische Hauptstraße auf allen vieren entlang, ein Pilger auf dem Weg nach Rom, allem Anschein nach tief in eine religiöse Handlung versunken.

Das war Stone; auf einen anderen Namen hörte er überhaupt nicht, auf seinen selbst gewählten Beinamen nur äußerst selten. Schweigen war seine Art, die Straße sein Berg, und die Steine waren die Steine des Sisyphos. Er zählte sie täglich, einen um den anderen, bezifferte die Kopfsteine für die Nachwelt. Eine Aufgabe ohne Ende für einen Mann mit schlechtem Gedächtnis, eine endlose Kolonne von Zahlen ohne Endsumme. Anfangs, vor so langer Zeit, dass es ihm entfallen war, hatte er es versucht; mühsam stolperte seine ausgetrocknete Zunge über die großen, unhandlichen Zahlen; immer wieder entfielen sie ihm; dann begann er geduldig noch einmal von vorn. Inzwischen war das Zählen nur noch ein Vorwand; der eigentliche Zweck war für ihn die ständige Erneuerung seiner Freundschaft mit jedem einzelnen Stein. Er begrüßte sie wie alte Freunde, stieß erfreut auf einen besonders geliebten, geborstenen Stein hier, einen besonders runden und angenehmen dort. Einigen von ihnen verlieh er sogar Namen; andere waren die Schauplätze großer Abenteuer in seinen Träumen. Diese Straße war sein Mikrokosmos; sie verschaffte ihm all seine Freuden und Schmerzen. Klein und ausgemergelt war er genauso Teil der Straße wie ein jeder seiner Steine. Bei einem seiner seltenen Ausflüge in das gesprochene Wort hatte er zu Elfrida Gribbs, Ehefrau von Ignatius Q. Gribbs, dem Stadtdenker, ernsthaft gesagt: »Ohne mich würde die Straße zerfallen. Steine brauchen Liebe ebenso sehr wie Sie.« Und in einer gewissen, praktischen Hinsicht beschützte er tatsächlich die Straße, behütete sie eifrig vor dem Ansturm des Staubes aus den Nebenstraßen und auf ihrem Weg durch Felder und Wiesen vor den Verletzungen durch Tiere. Er wusch und er pflegte sie. Sie war sein. Zum Dank für diesen Liebesdienst wurde er von dem, dessen Haus gerade am nächsten lag, wenn er hungrig war, verköstigt und von dem, dessen Haus gerade am nächsten lag, wenn er müde wurde, aufgenommen. Auf dieser Straße machten sich Virgil Jones und Flapping Eagle auf den Weg in eine unglücklich zusammengewürfelte Gesellschaft.

Kamen sie an einem vereinzelten Bauernhaus vorbei, spürte Flapping Eagle, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. In den Fenstern schimmerte Licht durch dünne Vorhänge, warme Inseln, wo ein Reisender Unterschlupf finden konnte. Eifrig wandte er sich an Virgil, um seiner neuen Begeisterung Ausdruck zu verleihen, doch das Gesicht seines Begleiters war finster und verschlossen. In diesem Moment war es besser zu schweigen. Also behielt Flapping Eagle seinen aufschäumenden Enthusiasmus für sich.

Heimat: Das war das Schlüsselwort gewesen. Es schlich sich in seinen Kopf, als er von den sich brechenden Wellen des Waldes aus auf die Stadt hinabblickte. Es tauchte unangekündigt auf, drang mit einem Lichtstrahl aus den fernen Fenstern unmerklich in ihn ein. Heim kehrt der Seemann, heim vom Meer, und von den Hügeln der Jäger. Flapping Eagle kehrte heim - in eine Stadt, in der er noch nie gewesen war. Er sah Heimat in den Nebeln, die sanft über den Wiesen und Feldern lagen; er roch sie in der duftbeladenen Nacht; er spürte sie in den Kopfsteinen; aber vor allem waren es die Fenster, die Heimat waren, die geschlossenen Augen eines behüteten Lebens, glühend vor Zufriedenheit, die geschlossenen Fenster. Flapping Eagle hielt einen Augenblick inne. Virgil sah ihn neugierig an; um dann, ohne es zu wissen, das Kompliment des Freundes zu erwidern: Er zügelte seine Worte, die vielleicht als Belästigung empfunden worden wären.

Das Bauernhaus stand am Straßenrand. Es war langgestreckt, niedrig und weiß. Im Stall schliefen zweifellos die Tiere; es war das geschlossene Fenster, das bewirkte, dass Flapping Eagle wie angewurzelt stehenblieb. Dahinter gingen Menschen umher, wurden Leben geführt. Unvermittelt sprang er über das Gartentor und schlich sich gebückt an das gelbliche Licht heran. Virgil Jones blieb auf der Straße stehen und sah zu.

Langsam erhob er sich vom Boden, um durch die Glasscheibe zu spähen; und sah sich einem unbewegten, steinernen Gesicht gegenüber. Der Bauer musste den Vorhang genau in dem Moment geöffnet haben, als Flapping Eagle von draußen hineinblickte. Es war ein Gesicht voller Abgründe; durchzogen von tiefen Tälern und Pockennarben, aber die Augen wirkten stark und drückten weder Zorn noch Verwunderung aus. Sie sahen durch Flapping Eagle hindurch, als gäbe es ihn nicht. Zutiefst erschrocken, wortlose Entschuldigungen murmelnd, wich er zum Tor, zur Straße und zu Virgil zurück, der neben ihm in Gleichschritt fiel. Während sie sich von dem Steingesicht im Fenster entfernten, merkte Flapping Eagle, dass seine Hände zitterten. Es waren die Augen, die das bewirkt hatten: Sie hatten ihm klargemacht, dass er noch immer ein Paria war. Ein Unberührbarer.

Paria. Dieses Wort stieg aus der Vergangenheit empor, um sein Unbehagen zu verstärken.

»Virgil«, fragte er zögernd, »wo werden wir unterkommen?«

Virgil zuckte die Achseln. »Wir werden schon was finden«, antwortete er. »So oder so.« Seine Zunge schlabberte im Mundwinkel.

An der Peripherie der Stadt selbst lag - nach allem, was Flapping Eagle bisher gesehen hatte - das höchste Gebäude, das einzige, das zwei Stockwerke besaß. Es war in perfektem Zustand, eine Tatsache, die es allein schon aus der Menge der anderen heraushob. Seine Wände, senkrecht und schnurgerade, schimmerten weiß in der neblig-blauen Dunkelheit, ein makelloser Wächter und Hüter über der Stadt. Es war ein Bordell. Madame Jocastas House of the Rising Son, wie ein diskretes Holzschild neben der Tür verriet. Doch neben das Schild hatte irgendjemand einen unverständlichen Satz gekritzelt. Morgen würde er zweifellos von einem frischen Kalkanstrich ausgelöscht werden, heute Abend aber stand er da, ein Schandfleck auf der schneeweißen Reinheit dieses Hauses der Freuden. A Rushian Generals Welcom, lautete er.

Virgil, der den Satz entdeckte, murmelte vor sich hin: »Also ist Alex heute Abend mal wieder ausgerissen.«

»Was soll das heißen - Willkommensgruß eines russischen Generals?«, fragte Flapping Eagle.

»Ein Kinderscherz«, antwortete Virgil. »Ausgeburt eines kindlichen Gemüts.«

Da Virgil sich nicht weiter darüber ausließ, musste Flapping Eagle seine Frage wiederholen.

»Die russischen Generäle«, sagte Virgil, »heißen Pissov, Sodov, Pedov und Phukov. Kinderkram.«

Aber Flapping Eagle, ohnehin schon bestürzt über die Steinaugen in dem Granitgesicht, fühlte sich nun, da er die Bedeutung dieses unflätigen Satzes kannte, noch stärker beunruhigt.

Mitten in der Stadt, jetzt; hier und da Aufflackern von Geschäftigkeit, wegen der späten Stunde jedoch sporadisch. Ein Blick durch ein anderes Fenster: Eine alte Frau betrachtete, tief in ihre Vergangenheit versunken, ein Fotoalbum. Der natürliche Zustand im Exil: die Wurzeln in die Erinnerungen versenken. Flapping Eagle wusste, dass er diese Vergangenheiten kennenlernen, sie sich aneignen musste, damit die Gesellschaft ihn aufnahm. Er betrat K auf der Suche nach Geschichte.

Ein Stückchen weiter sahen sie auf der Straße die kriechende Gestalt des Mannes vor sich, der sich Stone nannte und die Steine begrüßte. Darüber hinaus vernahm Flapping Eagle irgendwo in der Nähe, hinter den dicht zusammenstehenden Häusern verborgen, das Geklapper von Hufen; und dann und wann drang, vom Nebel gedämpft, lautes Gelächter zu ihnen herüber.

Die Quelle des Gelächters lag als Gegenstück zu Madame Jocastas Haus am anderen Ende der Kopfsteinpflasterstraße. Dies war der Moment, vor dem sich Virgil gefürchtet hatte, von dem er jedoch wusste, dass er sich ihm zu stellen hatte. Es war der Elbaroom, Heimat der Trinker von K und Informationszentrum der Stadt. Seinem Plan entsprechend würden sie das Haus betreten müssen - nicht nur, um eine Möglichkeit zum Übernachten zu finden, sondern um K seinen Freund Flapping Eagle zu präsentieren: Somit mussten sie den Wirt treffen.

Sein Name war O´Toole.

»Able was I ere I saw Elba«, murmelte Virgil Jones. Abgesehen von der Sprache, die sich Malayalam nannte, war es das einzige Palindrom, an das er sich zu erinnern vermochte.

32. Blink

Flapping Eagle sah sie zuerst: eine eher unheimliche Gestalt, so wie sie, halb Frau, halb Vierfüßer, durch den kreisenden Nebel auf sie zukam.

Elfrida Gribbs litt, wenn auch nicht sehr oft, an...


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Autor

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.