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Das Trugbild

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am01.09.2014
Helsinki zur Zeit des Dritten Reiches: eine unmögliche Liebe und ein ungeheurer Verrat.
Als Rechtsanwalt Claes Thune an diesem Morgen zur Arbeit erscheint, ist er zunächst verärgert. Er fragt sich, wo seine Sekretärin bleibt, die stets zuverlässige Matilda Wiik - sein Anker in schwierigen Zeiten, die Frau, die er lieben könnte, hätte er den Mumm, sich über Standesdünkel und Konventionen hinwegzusetzen. Er selbst sieht die Ereignisse rund um das Dritte Reich mit Besorgnis, doch damit vertritt er in der finnischen Gesellschaft zunehmend eine Minderheitenposition. Ein wenig Rückhalt findet er im sogenannten »Mittwochsclub«, einer Gruppe von Männern, die sich regelmäßig zum Gedankenaustausch trifft. Dass einer davon ein dunkles Geheimnis hütet, kann Thune nicht wissen. Es ist Matilda Wiik, die davon betroffen ist und die Sache schließlich in die Hand nimmt ...

Kjell Westö ist einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren, geboren 1961 in Helsinki, wo er heute noch lebt. Er ist vielfach preisgekrönt, u.a. mit dem Finnischen Literaturpreis für 'Wo wir einst gingen', seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,49

Produkt

KlappentextHelsinki zur Zeit des Dritten Reiches: eine unmögliche Liebe und ein ungeheurer Verrat.
Als Rechtsanwalt Claes Thune an diesem Morgen zur Arbeit erscheint, ist er zunächst verärgert. Er fragt sich, wo seine Sekretärin bleibt, die stets zuverlässige Matilda Wiik - sein Anker in schwierigen Zeiten, die Frau, die er lieben könnte, hätte er den Mumm, sich über Standesdünkel und Konventionen hinwegzusetzen. Er selbst sieht die Ereignisse rund um das Dritte Reich mit Besorgnis, doch damit vertritt er in der finnischen Gesellschaft zunehmend eine Minderheitenposition. Ein wenig Rückhalt findet er im sogenannten »Mittwochsclub«, einer Gruppe von Männern, die sich regelmäßig zum Gedankenaustausch trifft. Dass einer davon ein dunkles Geheimnis hütet, kann Thune nicht wissen. Es ist Matilda Wiik, die davon betroffen ist und die Sache schließlich in die Hand nimmt ...

Kjell Westö ist einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren, geboren 1961 in Helsinki, wo er heute noch lebt. Er ist vielfach preisgekrönt, u.a. mit dem Finnischen Literaturpreis für 'Wo wir einst gingen', seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641139636
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum01.09.2014
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1191 Kbytes
Artikel-Nr.1444847
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



2

EINE HALBE STUNDE nach der Mittagspause hatte sie die ausgehende Korrespondenz ins Reine geschrieben, eingetütet und frankiert. Matilda blickte auf und schaute auf den Kaserntorget hinaus: Der Nebel war dichter geworden, das Rundfunkgebäude auf der anderen Seite des Platzes ließ sich nur noch schemenhaft erkennen.

Sie stand von ihrem Stuhl auf, wollte an die Tür des Anwalts klopfen und ihn fragen, ob sie schon um drei gehen dürfe. Thune hatte im Laufe des Vormittags Besuch von mehreren Klienten erhalten, sie hatte die Männer in sein Büro geschleust, ihn ansonsten aber kaum gesehen, er hatte ihr zwei Briefe diktiert, das war alles. Die Briefe waren im Ton knapp und distanziert, fast schon unfreundlich gewesen. Thune hatte sein Mittagessen im Büro zu sich genommen, ein paar belegte Brote mit Leberwurst und Essiggurken, nachlässig in Butterbrotpapier eingeschlagen, sie hatte gesehen, dass er sie schon am Morgen aus seiner Aktentasche geholt hatte. Die Brote hatten trocken und schrumpelig ausgesehen, und sie hatte sich insgeheim gefragt, was er wohl zu ihnen trank. Dünnbier vielleicht, denn in der Wand neben dem Fenster gab es einen Kühlschrank, in dem sie braune Flaschen gesehen hatte. Sie wusste, dass Thune seit Kurzem geschieden war: Er schien sich in seinem neuen Leben noch nicht ganz zurechtgefunden zu haben.

Die Tür glitt auf, und der länglich schmale, fast kahle Kopf des Anwalts tauchte in der Öffnung auf. Matilda setzte sich schnell wieder auf ihren Stuhl und wartete darauf, dass er sie ansprechen würde. Thune hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Komiker Stan Laurel, das war ihr schon bei ihrem Vorstellungsgespräch aufgefallen. Jetzt lehnte er sich mit der Schulter an den Türpfosten und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, seine schlaksige Gestalt sah fast schlangenhaft aus. Dieses Schlangengleiche war eine optische Täuschung, dachte Matilda, ein Milja-Gedanke, ein Trugbild in ihrem Kopf. Thunes Anzug saß wie immer schlecht, an diesem Tag war er blau und hatte Knitterfalten.

Sie mochte Thune recht gern. Gelegentlich war er hochnäsig, ohne es selbst zu merken, außerdem kleidete er sich nachlässig und sagte manchmal seltsame Dinge. Andererseits war er auch freundlich und schien gerecht zu sein. Intelligent und nett, das war wahrlich keine selbstverständliche Kombination. Jedenfalls nicht bei den Klienten, die Thunes Kanzlei besuchten. Laut und von oberflächlicher Freundlichkeit, war Matildas Eindruck. Für manche war sie Luft, als existierte sie überhaupt nicht, andere warfen ihr dagegen unverschämte Blicke zu.

»Frau Leimu leidet an einer hartnäckigen Erkältung«, ergriff Thune nun das Wort, und als er weitersprach, klang er gehetzt: »Sie hütet zu Hause das Bett. In ein paar Minuten habe ich einen Termin mit Grönroos, und heute Abend trifft sich der Mittwochsclub hier im Büro. Wäre es Frau Wiik eventuell möglich, zur Markthalle zu gehen und auf meine Kosten die letzten Dinge für das Treffen zu besorgen?«

Frau Leimu war seit der Scheidung Thunes Haushälterin und Mädchen für alles, ohne sie hätten ihn die Alltagsgeschäfte überrollt. Leopold Grönroos war ein Mitglied des Mittwochsclubs, vermutlich der vermögendste Mann der Runde. Vermieter, Rentier, Spekulant, Geizhals, Lebemann, all diese Bezeichnungen waren Matilda schon auf Grönroos gemünzt zu Ohren gekommen, obwohl sie erst seit anderthalb Monaten für Thune arbeitete.

Grönroos: Jede Woche pünktlich um dieselbe Uhrzeit, Mittwochnachmittag, halb drei. Wahrscheinlich würden er und Thune wieder im hinteren Zimmer zusammenhocken, dem sogenannten Kabinett, und lange und ausführlich über Grönroos' Geldgeschäfte sprechen. Von Zeit zu Zeit würde Grönroos gereizte Gesten machen, und seine fleischigen Finger würden nervös auf dem Tisch trommeln. Sobald Thune mit ruhiger Stimme auf ein Risiko sinkender Rendite hinwies, würde Grönroos unweigerlich die Nase rümpfen. Wenn die Besprechung etwa eine Stunde andauerte, würde Thune nach Matilda rufen und sie bitten, aus dem Barschrank in seinem Büro Portwein, Whisky und die dazu passenden Gläser zu holen. Er würde »ein kleines Tröpfchen« vorschlagen und Grönroos daraufhin zunächst dankend ablehnen und auf seine Gicht verweisen, die von Jahr zu Jahr schlimmer wurde. Anschließend würde Grönroos es sich dann jedoch anders überlegen, woraufhin Thune und er schon bald beim zweiten und auch dritten Tröpfchen zusammensitzen würden. Zu diesem Zeitpunkt sprachen sie dann nicht mehr über Geld, sondern hatten sich Langstreckenläufern und Symphonikern zugewandt, und mit der Zeit, beim vierten oder fünften Tröpfchen, würden sie bereits angetrunken sein. All das hatte Matilda gesehen, wenn sie ihnen Aktenordner und Bücher brachte und Getränke servierte. Dort hinten im Kabinett war es dauerhaft dunkel, im Kachelofen brannte ein Feuer, nur eine kleine Schirmlampe spendete Licht, Thune wollte es so. Doch selbst wenn es heller gewesen wäre, hätte sie die beiden unbemerkt beobachten können, sie waren so in ihre Diskussionen vertieft, dass sie es kaum merkten, wenn sie kam oder ging.

Sie war enttäuscht über die Wendung, die der Tag genommen hatte, verbarg ihre Gefühle jedoch, so gut es ging. Der Mittwochsclub war Thunes Herrenrunde, die sich an jedem dritten Mittwoch im Monat bei einem der Mitglieder versammelte. Das war so ziemlich alles, was Matilda über den Club wusste, aber ihr war klar, wenn Frau Leimu krank war und das Treffen im März in der Kanzlei stattfinden sollte, würde sie nicht früher nach Hause gehen können.

»Was darf ich in Ihrem Auftrag in der Markthalle besorgen?«, fragte sie.

»Eine Bauernpastete, gerne eine kräftige«, antwortete Thune. »Ein paar Stücke Käse, gereifte. Salzgebäck, nehmen Sie das britische. Und grüne Oliven, ohne Kerne. Kaufen Sie die italienischen, nicht die spanischen. Nehmen Sie zwei Dosen.«

Thune zog seine Brille auf die Nasenspitze herunter und sah sie freundlich an: »Außerdem habe ich Ihnen doch gesagt, dass Sie mich nicht ständig so förmlich ansprechen müssen. Es geht auch etwas formloser.«

Er fischte seine Geldbörse aus der Innentasche seines zerknitterten Jacketts, blätterte in den Geldscheinen und zog einen Fünfzig-Mark-Schein heraus. Überlegte es sich anders, steckte den Fünfziger wieder zurück und zupfte stattdessen einen Hundert-Mark-Schein heraus:

»Könnten Sie bitte auch im Alkoholladen vorbeischauen? Zwei Flaschen Portwein und zwei Flaschen Whisky. Fragen Sie nach Lehtonen, dem Filialleiter. Er hat die Bestellung entgegengenommen, sie hatten die Ware nicht vorrätig.«

Matilda nahm den Geldschein in Empfang und warf einen kurzen Blick darauf. Im Vordergrund war eine Gruppe nackter und athletischer Menschen abgebildet, im Hintergrund stießen Fabrikschornsteine dicke Rauchsäulen aus. Hatte Thune gesehen, dass die Frau vorne links einen wohl geformten Po besaß? Das hatte er bestimmt, beantwortete Matilda stumm ihre eigene Frage.

Später sollte sie sich erinnern, dass der graue Dunst an diesem Tag eine rauchige, fast freundliche Qualität besessen hatte. Nicht dieses alltägliche Märzgrau, das karge und schroffe, mit Eisschollen und kleinen Eisblöcken, die in den inneren Hafenbecken vor sich hin dümpelten, in denen das Wasser noch vollkommen schwarz war. Stattdessen ein laues Grau, eine Decke, in die man sich hüllte. Wie im September, wenn die Hitzewellen vorüber und die letzten Gewitter abgezogen waren.

Eine unwirkliche Stimmung ruhte über der Stadt. Das Leben ein Traum, ein konturloses Trugbild. Da war es wieder, dieses Wort, und sie fragte sich, warum es ihr ständig in den Sinn kam. Dann fiel ihr Konni ein. Er hatte ihr im Februar geschrieben, aus Åbo, wo er wohnte und sein Tanzorchester Arizona den ganzen Winter über im Tanzlokal Hamburger Börs engagiert gewesen war. Er hatte ihr von den neuen Stücken erzählt, die er komponiert hatte, unter anderem von einem Lied, das tatsächlich Trugbild hieß.

Konni hatte ihr geschrieben, er wolle Trugbild mit Arizona aufnehmen, sei jedoch knapp bei Kasse und überlege deshalb, den Titel an Dallapé oder an die Ramblers zu verkaufen. Er hatte auch früher schon Lieder abgegeben, wenn sich die Platten seines eigenen Tanzorchesters nicht verkaufen wollten. Ihr geliebter kleiner Bruder Konni. Seit fast einem Jahr hatten sie sich nicht mehr gesehen, und Matilda vermisste ihn. Viele Jahre hatten sie an verschiedenen Orten gelebt, ohne zu wissen, wie es dem anderen erging, das war zu jener Zeit gewesen, als Matilda erwachsen wurde, während Konni noch ein Kind war. Trotzdem standen sie sich nahe und wechselten Briefe, wenn sie sich nicht sehen konnten. Konni brachte allerdings nur selten etwas über seine Gefühle oder tiefschürfende Gedanken zu Papier. Er und Tuulikki hatten im November ein weiteres Kind bekommen, es war schon ihr drittes, und sie waren von Anfang an in Geldnot gewesen. Manchmal fragte sich Matilda, wie es Konni wirklich ging.

Sie schob die Gedanken an ihren Bruder beiseite und führte mechanisch ihre Erledigungen durch. Sie grämte sich nicht, weil sie ihre Pläne hatte aufgeben müssen. So war das im Leben, es kam nur selten, wie man es sich gedacht hatte. Sie war daran gewöhnt, sich nach anderen zu richten, was einer der Gründe dafür war, dass sie ihre Arbeit so gut machte. Außerdem wäre der Abend ohnehin kaum so festlich verlaufen, wie sie geplant hatte. Als sie über die Kaserngatan eilte, regte sich in ihrem Unterleib und der Leistengegend bereits ein dumpfer Schmerz. Sie würde in Kürze ihre Regel bekommen, wahrscheinlich schon an diesem Abend, und während des gesamten ersten Tages quälten sie...


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Autor

Kjell Westö ist einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren, geboren 1961 in Helsinki, wo er heute noch lebt. Er ist vielfach preisgekrönt, u.a. mit dem Finnischen Literaturpreis für "Wo wir einst gingen", seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.