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Winterwassertief

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Droemer Knaurerschienen am12.01.20151. Auflage
Mit sechs wiederholt vergewaltigt, mit 13 an Magersucht erkrankt, mit 21 ausgerechnet in einem Bordell Zuflucht gesucht: Lilly Lindners wortgewaltige Autobiographie 'Splitterfasernackt' nahm unzähligen Menschen den Atem. In 'Winterwassertief' erzählt sie, was danach kam: Von der Schwierigkeit, mit ihrer nackten Geschichte plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen, von der Ambivalenz ihrer eigenen Gefühle - aber auch von den berührenden Begegnungen, die sie seit dem Erscheinen von 'Splitterfasernackt' hatte: mit Menschen, die ähnliche Schicksale haben wie sie, die sich ihr anvertrauen und denen sie mit ihren Worten helfen konnte. Für Lilly Lindner wurde der Schritt in die Öffentlichkeit zur Zerreißprobe. Am Ende ist sie daran gewachsen und schöpft heute Kraft daraus, für andere da zu sein, zuzuhören und Mut zu machen. »Verletzlich und zart im Ton.« Fokus »Beeindruckend.« Petra

Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. Ihr Debüt 'Splitterfasernackt' stand monatelang auf der Bestsellerliste. Zuletzt erschienen von ihr das Jugendbuch 'Was fehlt, wenn ich verschwunden bin' und 'Winterwassertief'.
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Produkt

KlappentextMit sechs wiederholt vergewaltigt, mit 13 an Magersucht erkrankt, mit 21 ausgerechnet in einem Bordell Zuflucht gesucht: Lilly Lindners wortgewaltige Autobiographie 'Splitterfasernackt' nahm unzähligen Menschen den Atem. In 'Winterwassertief' erzählt sie, was danach kam: Von der Schwierigkeit, mit ihrer nackten Geschichte plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen, von der Ambivalenz ihrer eigenen Gefühle - aber auch von den berührenden Begegnungen, die sie seit dem Erscheinen von 'Splitterfasernackt' hatte: mit Menschen, die ähnliche Schicksale haben wie sie, die sich ihr anvertrauen und denen sie mit ihren Worten helfen konnte. Für Lilly Lindner wurde der Schritt in die Öffentlichkeit zur Zerreißprobe. Am Ende ist sie daran gewachsen und schöpft heute Kraft daraus, für andere da zu sein, zuzuhören und Mut zu machen. »Verletzlich und zart im Ton.« Fokus »Beeindruckend.« Petra

Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. Ihr Debüt 'Splitterfasernackt' stand monatelang auf der Bestsellerliste. Zuletzt erschienen von ihr das Jugendbuch 'Was fehlt, wenn ich verschwunden bin' und 'Winterwassertief'.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783426426401
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum12.01.2015
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse772 Kbytes
Artikel-Nr.1454985
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Wortgewand


Im Spätsommer 2010 wollte ich sterben. Nicht wirklich, aber genug, um meinen vorläufig erreichten Lebensumfang in sinnvoll genutzte Zeitabschnitte umzurechnen. Es war erschreckend, wie wenig unterm Strich übrig bleibt, wenn man auf dem Strich gestanden hat.

Also habe ich meine Worte genommen und sie zusammengefügt, als wären sie ich. Als könnte ich mich auf diese Art wieder zusammenpuzzeln. Ich habe geschrieben und geschrieben, bis ich leerzeichenbesessen und buchstabenverwandt war.

Ich wusste: Worte sind zum Sätzemachen da.

Und wenn man keine Stimme hat.

Dann nimmt man eben Papier.

 

Anschließend lagen die Worte auf meinem zweifelhaften Untergrund. Ich wollte sie gerne wieder loswerden, aber ich wusste nicht, wie. Doch da ich wusste, dass ich sowieso nur noch ein paar Monate leben würde, dachte ich, es wäre klug, meine Geschichte irgendwem anzuvertrauen, damit ich mich nicht zu Tode schweigen muss.

Ich habe kurz darüber nachgegrübelt.

Und dann noch etwas länger.

Nach einer Woche ist mir schwindlig geworden, das lag wohl daran, dass ich Essen und Nachdenken nicht miteinander verbinden konnte. Jedenfalls bin ich umgekippt und auf meinem blutverschmierten Fußboden wieder aufgewacht.

Mein Kopf hat weh getan.

Er hat geknirscht wie ein kaputtes Triebwerk.

Aber auf einmal war alles gut, ich musste sogar lächeln, denn mir ist klargeworden, dass es dauert, bis ein Buch erscheint. Ungefähr ein Jahr.

Ein ganzes Jahr.

So viel Zeit.

Hatte ich ganz bestimmt nicht mehr.

Also würde ich sowieso nicht dabei sein müssen - im kreischenden Wortgeschehen, im hinterfragten Satzverlauf, im hässlichen Nachhall, im interpretierten Buchstabentakt.

Ich wäre auf und davon.

Gekommen.

Ja. So einfach sind todesnahe Gedankengänge. Sie machen keine großen Umwege und steuern direkt ins Ziel. Also habe ich aufgehört zu denken und die ersten achtzig Seiten meines Manuskripts an einen Literaturagenten geschickt.

 

Eine Woche später saß ich in seinem Büro und hätte einiges dafür gegeben, woanders zu sein. Eigentlich wollte ich aufspringen und wegrennen, aber gleichzeitig wollte ich auch nicht als tragische Ansammlung verschwendeter Hautfetzen enden.

Also bin ich geblieben.

Und habe gelächelt, als wäre alles okay.

Das mache ich schon mein ganzes Leben lang; ich kenne den Text der unzweifelhaften Glückseligkeit längst in- und auswendig. Und wer würde schon mein bezauberndes Lächeln hinterfragen?

Niemand.

Der nicht die richtige Antwort weiß.

Und der Wortagent wusste nur, dass ich Buchstaben auf Papier häufen kann, bis das Blatt voll ist. Außerdem hat er wahrscheinlich geahnt, dass ich mehr Schwachsinn angestellt habe, als in ein Buch passt. Aber er hat trotzdem nichts Unfreundliches zu mir gesagt.

Er war so diskret, dass ich unsicher geworden bin. Normalerweise musste ich mit allen Männern schlafen, die ich besucht habe, aber der Literaturagent wollte nur den Rest meines Manuskripts haben. Und weil in seinen Augen geschrieben stand, dass er an erster Stelle die Menschlichkeit vertritt und sich erst dann Gedanken über den dazugehörigen Papierkram des paragrafeninfizierten Marketing-Zeitalters macht, habe ich ihm meine Worte gegeben.

Damals wusste ich noch nicht, dass er derjenige sein wird, der mich einbindet.

In ein Buch.

Und in das Leben.

 

Anschließend bin ich wieder nach Hause gegangen und habe mich unter mein Bett gelegt. Ich hatte noch nie zuvor meine Geschichte aus den Händen gegeben, ich hatte noch nie ein Wort über meine Entführung verraten, und nun hatte ich schreckliche Angst davor, dass der Literaturagent anrufen würde, um zu sagen: »Es tut mir leid, aber eine derartige Aneinanderreihung gestörter Verhaltensweisen und sexuell bedenklicher Verfehlungen will kein Mensch lesen.«

Doch als ich zwei Tage später wieder in seinem Büro saß und versucht habe, mich hinter einem der roten Sofakissen zu verstecken, hat er mir nur ein paar Kürzungsvorschläge gemacht, weil mein Manuskript deutlich mehr Umfang hatte als ich, und dann hat er mir noch einen Haufen Kommata dazugeschenkt und mich wieder nach Hause gehen lassen. Ganz ohne mich zu vergewaltigen.

Ja. So etwas fällt mir jedes Mal auf.

Wenn ich die Räume eines Mannes betrete.

Und davonkomme.

Ohne Sex.

 

Ich habe meine neunhundert Seiten genommen und angefangen zu kürzen, ein paar Sätze zu verschieben, ein paar Absätze auszuweiten, die Lücken zu füllen und aus meinem zerhackten Leben und den schnell dahingeschriebenen Passagen ein richtiges Manuskript zu basteln. Fünf Tage später war ich fertig und der Agent geschockt.

Das hat er mir natürlich nicht verraten.

Wir kannten uns schließlich kaum.

Erst viel später hat er zu mir gesagt: »Weißt du, Lilly, manchmal bist du etwas zu schnell für dein verwirrtes Umfeld.«

»Warum?«, habe ich gefragt. »Bin ich ein nackter Wortsturm?«

»Eher ein sanftes Wortgewitter«, hat der Agent lächelnd erwidert.

Aber das war, nachdem wir Freunde geworden sind.

Zuerst waren wir nur eine Wortgemeinschaft.

Und so hat der Agent noch die letzten vergessenen Kommata eingefügt, dreieinhalb Männer aus meinem Leben gestrichen und mein Manuskript schließlich auf eine Sprachreise geschickt. Eine ziemlich kurze Reise, um genau zu sein, denn fünf Wochen nachdem ich zum ersten Mal bei meinem Agenten gewesen bin, haben sich schon die ersten Verlagswesen ins Flugzeug gesetzt und wollten mich kennenlernen. Da wusste ich, dass man mit den richtigen Worten Menschen in die Luft befördern kann, auch wenn sie noch so bodenständig sind.

Aber dann kamen die Fragen.

Und die Fragen.

Und Ana.

Ana kam auch.

 

Die erste Frage, die mir gestellt wurde, war, wer denn mein Ghostwriter sei. Dabei war ich ganz offensichtlich das einzige leichenblasse Gespenst im Raum. Aber keiner konnte mich sehen, ich war nur ein Ausstellungsstück im Wortmuseum. Und sogar dort war ich fehl am Platz. Denn ich sah zu jung aus zum Schreiben, kein Mensch hätte mir einen Stift anvertraut in dem Glauben, dass ich etwas damit anfangen könnte, geschweige denn Literatur erschaffen. Richtige Schriftsteller sind erwachsen und strahlen Wortweisheit und Satzruhe aus. Ich hingegen sah mit vierundzwanzig immer noch aus wie sechzehn und wurde ständig gefragt, in welche Klasse ich gehe und ob Menschen aus meiner Generation überhaupt wüssten, wie ein Buch funktioniert.

Dabei braucht man es nur aufzuklappen.

Und abzuwarten, was passiert.

Das kriegt jeder hin.

Die zweite Frage, und ganz nebenbei bemerkt, die Lieblingsfrage aller Verleger, Wortvertreter und Pressewesen, lautete natürlich: »Warum hast du dieses Buch geschrieben?«

Dabei steht die Antwort in jedem noch so fiktiven Buch. Man muss nur genau hingucken, dann findet man die flüsternden Worte, die beschriebenen Leerzeichen, die viel zu weiten Absätze. Keine Geschichte wird aus Versehen geschrieben. Aber Verleger sind auf den ersten Blick zielgruppenorientierte und satzgebundene Buchstabenbürokraten, die mehr als ein undefinierbares Wortspiel brauchen. Und während all diese Verlagswesen mich angestarrt haben, als wüssten sie nicht, dass ich unsichtbar bin, habe ich gesagt: »Ich wollte ausdrücken, wie es sich anfühlt, abseits von seinem Körper in fremden Vorgärten zu stehen und zu beobachten, wie die Zeit davonrennt. Ich wollte von Schönheit schreiben, von Glück, von der lautesten Stille, von der hässlichsten Berührung. Ich wollte meine sanftmütigen Gefühle direkt neben meine eiskalte Ausdruckslosigkeit stellen, und erzählen, von einem Schmerz, der so groß ist, dass man ihn sich in die Haut schneiden muss, um zu begreifen, wie real er ist. Ich wollte erklären, was es bedeutet, sich Ana zu nennen, obwohl man ganz genau weiß, dass Magersucht kein passender Name für ein Dasein ist, eher für ein Wegsein. Ich wollte, dass jemand meine Worte liest und einen Moment lang verharrt, in diesem Bild, das ich von mir gezeichnet habe, auch wenn ich mich nicht sehen kann.«

Dann habe ich gar nichts mehr gesagt und mich stattdessen gefragt.

Wie viel Liter Worte man braucht.

Für fließende Literatur.

 

Eine Woche später hat mir der erste Verlag ein Angebot für die Publizierung meines Buches gemacht, und ich hatte weitere Einladungen in die großen Literaturfabrikhäuser. Es war absurd, auf einmal wollten alle mein Leben lesen.

Auf einmal war ich ein Wortwesen.

Ich.

Das Satzgerippe.

Auf einmal haben alle gesagt: »Was für ein Text!« Dabei hätten sie auch das Offensichtlichere sagen können: »Mein Gott! Was hast du bloß für einen hirnlosen Mist gemacht? Wie konntest du dir das antun? Das Leben ist viel zu kurz, um vorher zu sterben.«

Aber keiner hat gebrüllt.

Und Sex wollte auch keiner.

Ich musste mit keinem Lektor, keinem Grafiker, keinem Programmleiter und keinem einzigen Verlagschef schlafen. Es war wie im Himmel. Beinahe hätte ich vergessen, dass Sex überhaupt existiert. Wenn da nicht mein dämliches Manuskript gewesen wäre.

Und obwohl ich mich gefreut habe, obwohl mir so langsam klargeworden ist, dass meine zerknickten Sätze demnächst zwischen zwei mehr oder weniger stabilen Buchdeckeln landen würden, habe ich panische Angst bekommen. Denn irgendwie war ich mir nicht ganz sicher, ob ich im Vergleich zu einem richtigen Schriftsteller überhaupt wusste, wie ein Wort aussieht.

Und wo der Unterschied liegt, zwischen mir und einem Fehler. Und einem noch größeren Fehler.

Das wusste ich auch...
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