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Wie wir sterben lernen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Droemer Knaurerschienen am26.09.20131. Auflage
'Die Tragödie des Menschen an sich besteht darin, dass sein Kampf gegen den Tod schon bei der Geburt verloren ist. Der Mensch kämpft nicht gegen den Tod, er kämpft um das Leben und weiß von vornherein, dass er es dennoch verlieren wird. Der menschliche Verstand kann sich sein eigenes Ende nicht vorstellig machen. Jahrzehnte hat der Zeitgeist uns gelehrt, Tragödie und Drama des Menschen zu ignorieren. Sterben und Tod waren der Tyrannei ihrer Verdrängung ausgeliefert. Trügen jedoch die Zeichen nicht, hat seit kurzem ein revolutionärer Wandel die Republik erfasst: Der Zeitgenosse lässt sich seinen Tod nicht mehr aus der Hand nehmen. Bis in die Haarspitzen selbstbestimmt, will er die letzten Dinge gestalten: sein Sterben, seinen Tod und die Weise der Erinnerung an ihn. Man hat Sterben, Tod und Trauer neu zu denken, und alles beginnt damit, dass der Tod ins Leben zurückkehrt.' Christian Schüle

Christian Schüle, geboren 1970, ist freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u. a. in Die Zeit, mare, Deutschlandfunk, Deutschlandradio und Bayerischer Rundfunk und wurden mehrfach ausgezeichnet. Darüber hinaus war er dreimal für den Egon-Erwin-Kisch- bzw. den Henri-Nannen-Preis nominiert. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er hat bislang acht Bücher veröffentlicht, zuletzt 'Wie wir sterben lernen' und 'Was ist Gerechtigkeit heute?'
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Produkt

Klappentext'Die Tragödie des Menschen an sich besteht darin, dass sein Kampf gegen den Tod schon bei der Geburt verloren ist. Der Mensch kämpft nicht gegen den Tod, er kämpft um das Leben und weiß von vornherein, dass er es dennoch verlieren wird. Der menschliche Verstand kann sich sein eigenes Ende nicht vorstellig machen. Jahrzehnte hat der Zeitgeist uns gelehrt, Tragödie und Drama des Menschen zu ignorieren. Sterben und Tod waren der Tyrannei ihrer Verdrängung ausgeliefert. Trügen jedoch die Zeichen nicht, hat seit kurzem ein revolutionärer Wandel die Republik erfasst: Der Zeitgenosse lässt sich seinen Tod nicht mehr aus der Hand nehmen. Bis in die Haarspitzen selbstbestimmt, will er die letzten Dinge gestalten: sein Sterben, seinen Tod und die Weise der Erinnerung an ihn. Man hat Sterben, Tod und Trauer neu zu denken, und alles beginnt damit, dass der Tod ins Leben zurückkehrt.' Christian Schüle

Christian Schüle, geboren 1970, ist freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u. a. in Die Zeit, mare, Deutschlandfunk, Deutschlandradio und Bayerischer Rundfunk und wurden mehrfach ausgezeichnet. Darüber hinaus war er dreimal für den Egon-Erwin-Kisch- bzw. den Henri-Nannen-Preis nominiert. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er hat bislang acht Bücher veröffentlicht, zuletzt 'Wie wir sterben lernen' und 'Was ist Gerechtigkeit heute?'
Details
Weitere ISBN/GTIN9783629320674
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum26.09.2013
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse765 Kbytes
Artikel-Nr.1459043
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


6


Individualisierung ist das Ergebnis einer genealogischen Entwicklung des Individuums in wachsender Selbsterkenntnis - über Selbstorganisation, Selbstbewusstsein, Selbststeigerung bis zur Selbstmächtigkeit. Das Individuum ist »Herr seiner selbst« (Volker Gerhardt) und der moralische Basisakt seines Selbstverständnisses die unbedingte Selbstschätzung. Die Würde des Menschen, von der später noch ausführlich zu sprechen sein wird, gründet also - so darf man die Idee der Selbstbestimmung verstehen - in der absoluten Verpflichtung, nichts höher als den einzelnen Menschen zu bewerten. Das ist eine historische Niederlage des Schicksals. In alten Kulturen wurde dem Schicksal der höchste Wert zugesprochen; Schicksal war der Wille der Götter.

Mit zunehmender Selbstherrschaftlichkeit und absoluter Selbstschätzung hat sich ein großer Teil der Menschen zugunsten ihres Aufstiegs auf die Abschaffung des Schicksals und somit auf die Abschaffung der Götter verständigt. Im Gegensatz zu früheren Epochen kennt man heute das Schicksal nicht mehr. Schicksalhaft gedacht wäre, ein völlig sinnloses Ereignis, etwa einen unverschuldeten Unfall, deswegen als sinnstiftend zu begreifen, weil es dem Leben widerfährt. Jede Widerfahrnis wäre ein Fingerzeig des Schicksals. Der Geist der Zeit aber ist ein planender und hat die Verdinglichung auf die Spitze getrieben. Sein Pragmatismus kennt nur noch Glück und Unglück. Und beides, so insinuiert dieser Geist, sei korrigier- und also plan- beziehungsweise verhinderbar. Das heißt im Umkehrschluss: In erster Linie ist die Abschaffung des Schicksals ein Misstrauensvotum gegen die Transzendenz. Der korrigierende Eingriff in das Leben suspendiert den gesamten enigmatischen Bereich des Numinosen, Magischen, Heiligen, wie er bei den Völkern und Kulturen aller Zeiten und Kreise zu studieren ist. Die Arbeit an der Entmythisierung des Lebens durch Verdinglichung ist als epochal zu veranschlagen, denn der Ordnung unserer Gesellschaft liegt zweifelsohne ein ökonomisierendes Nützlichkeitsdenken zugrunde. Sein Algorithmus ist die instrumentelle Vernunft: Sie formt die schiere Möglichkeit zum Faktum, und Faktizität schafft Realität.

Die aufgeklärte Menschheit huldigt jenem Geist eines nützlichkeitsorientierten Materialismus, der als ökonomische Rationalität unser Denken und Handeln steuert, seit gut zweihundertfünfzig Jahren. Das Erfolgsprinzip heißt: Corriger la fortune. Begonnen hat der Glaube an die Freiheit zur Korrektur des Schicksals mit dem mechanistischen Menschenbild des französischen Arztes, Atheisten und Philosophen Julian Offray de La Mettrie während der Aufklärung. Die Transzendenzvergessenheit Mettries (die dem Historischen Materialismus der marxistischen Philosophie im Übrigen sehr naherückt) ist seit geraumer Zeit über die kapitalistischen Gesellschaften gekommen wie der Deus ex machina in den Theaterraum.

Interessant ist die Symmetrie der Entwicklung von Freiheit und Materialismus. Die Genealogie des Begriffs »Freiheit« beschreibt den Wandel zum Materialismus ja recht eindringlich: Einst war »Freiheit« die Befreiung von externen Zwängen, wurde dann zur Wahl- und Selbstgestaltungsfreiheit und versteht sich schließlich als Freiheit zum Eingriff in das Gegebene, indem Medizin und Technik den Menschen auf seinen Körper reduzieren und sein Wesen verdinglichen. Diese Entwicklung hat in den Transhumanismus geführt und wirft heute die Frage auf, ob Maschinen die besseren Menschen seien, und, so sie es noch nicht sind, ob sie es einmal werden könnten - der Roboter nicht als Selbstzweck gedacht, sondern, in der Automatisierung der Produktion, als Substitut für einen Menschen. Der Mensch hat die Humanoiden derart perfektioniert, dass der Grund für Sterblichkeit bald kein organischer mehr sein könnte, sondern Materialermüdung. Die andere, keinesweg belanglose Frage nach Sozialverhalten, Gefühlskompetenz, Moral und Recht ist hier noch nicht einmal im Entferntesten gestellt. Die Vorherrschaft programmierbarer, gar »intelligenter« Maschinen über den erratischen Menschen führt zu einem interessanten Paradoxon: Erkannte man nicht in der Selbstbestimmung des Subjekts die höchste Form der Evolution? Und steht die Verdinglichung des Menschen durch die Ökonomie der Verwertung ebendieser Selbstbestimmung nicht fundamental entgegen?

Möglichkeit paart sich mit Nützlichkeit zu einem sozioökonomischen Regime des optimierten, perfektionierten, des bestmöglichen aller Menschen. Und wenn wir die menschliche Psyche richtig verstanden haben, ist die Hoffnung auf Entsagung an dieser Stelle so müßig wie die auf Verzicht im Allgemeinen. Leben heute wird sehr viel mehr als früher als Leben als solches aufgefasst, obwohl die Logik der Maximierung gerade funktionsuntüchtiges, schwaches, hinkendes Leben zu selektieren scheint. Marktgläubige, wenn man so will: »Westliche« Gesellschaften sind Verwertungsgesellschaften, weil Wert darin vordringlich hat, was sich verwerten lässt. Werte, die der Verwertung entgegenstehen, werden im besten Fall zur Kenntnis genommen, sind aber letztlich so unbrauchbar wie nicht konvertibel.

Die Verwertungsgesellschaft ist eine Stigmatisierungsgesellschaft, die einer Brandzeichen-Industrie aus Massenmedien, Boulevard, Konsumgüter-, Werbewirtschaft und Standortpolitik hörig ist wie einem schillernden Verführer. Medizintechniker sind die Türsteher, Hirnforscher die Gutachter, Ökonomen die Betreiber jenes Marktes, dessen Währung in ungeschriebenen Existenzberechtigungsscheinen zu bestehen scheint: Wert hat, wer zu leisten imstande ist. Mehrwert hat, wer mehr zu leisten imstande ist. Diesem Denken zufolge hat der Einzelne ein funktionstüchtiges, leistungsstarkes und einkommenorientiertes Individuum zu sein, das - manchmal vor seiner Zeugung, jedenfalls kurz nach seiner Geburt - auf den Weg in die lebenslange Optimierung geschickt wird, auf dass es stets jung, schön und fit seinem Ge- und Verbrauch widerstandsfrei dienen möge, ohne sich von moralischen Skrupeln an der Verknüpfung von Selbstwert und Funktionstüchtigkeit ablenken zu lassen.

Für Optimierungstechniken wie Hirndoping, Gentherapie, Präimplantations- und Pränataldiagnostik mag es legitime Argumente geben. Ihnen gemeinsam aber ist der negierende Geist der Ausmerzung des scheinbar Schädlichen - schwerer Erbkrankheiten oder Risikofaktoren etwa, die zu vermeintlichem Leid führen könnten, es aber nicht notwendig immer tun müssen. Auch wenn diese Techniken und Instrumente aus ethischen, rechtlichen oder politischen Gründen nicht, oder noch nicht, oder bisher nur mit Einschränkungen angewendet werden, so gedeiht durch ihr bloßes Vorhandensein und ihren schieren Möglichkeitssinn ein biologistisch verstandenes Menschenbild, welches das Individuum als dynamisch, aus sich herausdrängend, stark und allzeit souverän zu lesen vorgibt. Kehrseite dieser Möglichkeit zur negativen Auslese ist die Durchsetzung gewünschter, also bestimmter Merkmale. Das historisch hinreichend diskreditierte Wort »Selektion« im Sinne der Auslese, des Absonderns, des Ausgrenzens begründet ein Muster, das einen bestimmten Typus Mensch, eine bestimmte Art zu leben, ein bestimmtes Verständnis von Erfolg aufprägt. Das fürs gesellschaftliche Ethos Entscheidende ist die moralische Schieflage, in die zum Beispiel Eltern geraten, wenn sie Medizintechnik nicht anwenden. Es erscheint mittlerweile unmoralischer, ein Kind trotz Erbkrankheit oder Prädisposition für Trisomie 21 auszutragen, als es aufgrund seiner potenziellen Schädigung abzutreiben. Daraus entsteht eine Quasi-Norm, die begünstigt, was der Optimierung zuträglich ist, und die ausgrenzt, was das Leben nicht perfektioniert oder steigert. Geschätzt achtundneunzig Prozent aller Befunde der pränatalen Diagnostik auf genetische Abweichungen führen zu Schwangerschaftsabbrüchen. Ist daraus zu schließen, dass die deutsche Gesellschaft Kinder mit Down-Syndrom wirklich überschwenglich willkommen hieße?

Vieles spricht dafür, dass das 21. Jahrhundert eines der Demiurgen wird: Techniker der materialisierten Welt, Lebensbaumeister ohne Transzendenz und Metaphysik, Transhumanisten, die die Natur überlisten. Zweifelsohne sind die handwerklichen Fähigkeiten der Naturwissenschaftler, sind ihre technischen Fertigkeiten beeindruckend, und zweifelsohne gereichen Medizin, Maschinenbau und Computertechnik der großen Mehrheit der Menschen zum Vorteil, mindestens zu größerer Lebensbequemlichkeit.

Das epochale Reproduktionsdesign der Optimierung findet seine Entsprechung im Vermessungsbesteck der Demiurgen: Pipette, Massenspektrometrie, Sequenzer, Amniozentese-Nadel. Perfekt soll jenes Leben sein, das auf die Welt kommt, und wenn es nicht perfekt ist, dann soll es perfektibel sein: bereit zur Perfektion. Das Schicksal, der Zufall der Missbildung, des Imperfekten, des Misslungenen soll von vornherein ausgeschlossen sein. Biopolitik und Reproduktionswissenschaft betreiben in großem Stile Schöpfungshandwerk und reformulieren durch gentherapeutische Stammzelltechnik und den Eingriff in die menschliche Keimbahn die Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Natur. Keineswegs unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle die Ambivalenz des technischen Fortschritts, denn durch Gentherapie wurden und werden Menschen geheilt, wurde und wird Leid gemindert, wurde und wird Lebensglück verschafft und die Vision genährt, den sogenannten Volkskrankheiten wie Alzheimer, Multiple Sklerose oder Parkinson eines Tages beizukommen.

Wie immer in der Geschichte des Menschen ist die Dialektik des Fortschritts ein zweischneidiges Schwert. Sie rasiert nicht nur das Schicksal und mit ihm die Mythen und Traditionen,...
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Autor

Christian Schüle, geboren 1970, ist freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen erscheinen u. a. in Die Zeit, mare, Deutschlandfunk, Deutschlandradio und Bayerischer Rundfunk und wurden mehrfach ausgezeichnet. Darüber hinaus war er dreimal für den Egon-Erwin-Kisch- bzw. den Henri-Nannen-Preis nominiert. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er hat bislang acht Bücher veröffentlicht, zuletzt "Wie wir sterben lernen" und "Was ist Gerechtigkeit heute?"