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Die Welt, die Rätsel bleibt

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am28.10.2013
Wo der Sprache die Worte fehlen, da beginnt die Literatur
Der Literatur ist die Sehnsucht nach dem Unsagbaren und der Grenzgang zwischen Sprache und Schweigen nicht auszutreiben. Ihre besten und bleibendsten Werke wissen um die Grenze des Sagbaren und nähern sich doch mit Vehemenz immer wieder den Mysterien des Lebens. Wie Literatur das tut, dem versucht Anna Mitgutsch in diesem Band nachzugehen. Ihre Essays reichen von der Bedeutung des Horizonts und des Schweigens in der Kunst über den Zivilisationsbruch der Shoah bis zu den Themen Heimat und Fremde, Exil und Emigration, Freiheit und Macht. Sie berühren Literatur ebenso wie Philosophie und Religion.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
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Produkt

KlappentextWo der Sprache die Worte fehlen, da beginnt die Literatur
Der Literatur ist die Sehnsucht nach dem Unsagbaren und der Grenzgang zwischen Sprache und Schweigen nicht auszutreiben. Ihre besten und bleibendsten Werke wissen um die Grenze des Sagbaren und nähern sich doch mit Vehemenz immer wieder den Mysterien des Lebens. Wie Literatur das tut, dem versucht Anna Mitgutsch in diesem Band nachzugehen. Ihre Essays reichen von der Bedeutung des Horizonts und des Schweigens in der Kunst über den Zivilisationsbruch der Shoah bis zu den Themen Heimat und Fremde, Exil und Emigration, Freiheit und Macht. Sie berühren Literatur ebenso wie Philosophie und Religion.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641112318
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum28.10.2013
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4177 Kbytes
Artikel-Nr.1484047
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Wenn man ein anderer wird, wechselt man den Namen.
Melville-Monologe

Was ist es, das uns entwirft, die einen zum Untergang, die anderen zum Aufstieg und zur Macht?
Ist es das Leben oder der Zufall?

Erster Monolog9

Der Augenblick, in dem einem Kind das Vertrauen in die Welt genommen wird, verstreicht wie ein Aussetzen des Atems in spurlosem, lautlosem Entsetzen. Von da an regiert eine bösartige Ordnung das Universum. Es gibt nun nichts mehr, was undenkbar wäre. Die Grausamkeit des Lebens hat keine Grenzen mehr. Es war die Nacht des neunten auf den zehnten Oktober 1830, die bange Nacht auf dem Hudson River, die den ersten Schatten von Bitterkeit, eine Ahnung des Ausgesetztseins auf das Leben des Elfjährigen warf. Mein Name sei der eines in die Wüste Verstoßenen. Nennt mich Ishmael. Daß einem alles in einer einzigen Nacht genommen werden kann, dazu braucht es ein ganzes Leben, um es zu begreifen. Zu verstehen, daß nichts so ist, wie es den Anschein hat, und daß sich alles verwandeln, in Nichts auflösen kann. Der Vater, das stolze Oberhaupt der Patrizierfamilie, dem das Kind bei aller Bewunderung nie genügen konnte, weil es ihm zu wenig ähnelt, verwandelt sich in dieser Nacht in einen gebrochenen Mann. Keiner bleibt unverändert im Ansturm des Unglücks. Für das Kind, das in die Flucht mitgerissen, von seinem Platz verstoßen, in die Armut gestoßen wird, verliert die Welt ihre Verläßlichkeit. Ist das, was uns zustößt Zufall, oder geschieht es nach einem Plan, der uns verborgen bleibt?

Seit jener Nacht auf dem Hudson River vor fünfundvierzig Jahren stelle ich mir diese eine Frage, stelle sie mir in jedem Buch von neuem und habe noch immer keine Antwort, aber ich werde nie aufhören, darüber nachzusinnen. Ist es die Vorsehung, die unser Leben lenkt, ist es der Zufall, ist es ein Gott, sind wir es selber? Gibt es die Freiheit, sich zu entscheiden? Und auch die Freiheit, sich aufzulehnen? Sich zu verweigern, und sei es dem Leben, nur um frei zu bleiben? Was das ganze so furchtbar macht, ist die Unabwendbarkeit, die unverrückbare Schicksalshaftigkeit, mit der wir blind und unbeirrbar wie dumpfe Tiere mit dem Blick zu Boden auf unserem Weg dahintrotten, geradewegs ins Verderben, wie die Schildkröten der Galapagos Inseln auf ihrer Wanderung zum Meer. Daher verbietet uns die Religion, die Frage nach der Vorsehung zu stellen, weil uns die Antwort mutig und unabhängig machen würde. Damals, schon als Kind lernte ich, daß die Hoffnung die größte Grausamkeit ist, weil sie uns am Ende zu vieles schuldig bleibt. Und doch - ist das Ergebnis nicht dasselbe, ob wir der Not gehorchen oder einem göttlichen Plan?

Weniger als zwei Jahre später starb mein Vater, da war ich zwölf, sein Untergang riß uns alle mit in den Abgrund. Die Zeit war über ihn hinweggegangen, er hielt dem Neuen nicht stand, der Fortschritt überrollte ihn und ließ ihn liegen, wie einen zerbrochenen Gegenstand, den das Meer an die Küste spült. Ich begann über die Zerbrechlichkeit des Menschen nachzudenken, darüber, daß für jeden von uns der Punkt, an dem er bricht, ein anderer ist, aber ein jeder kann gebrochen werden. Und ich begann, das verschwiegene Elend der Menschen zu verstehen, die heimliche Angst vor dem vernichtenden Schicksalsschlag und unsere schreckliche Verwundbarkeit.

Was danach kam, waren Dinge, die Menschen einander antun, der Onkel, der seine nächsten Verwandten um das Erbe brachte und seinen zwölfjährigen Neffen in Frondienst nahm, die Niedertracht der Verwandten und der kleinliche Geiz, mit der sie die Witwe und ihre Kinder verstießen. Menschliche Bosheit ist weder mysteriös noch unerklärlich, sie ist ganz und gar von dieser Welt und unverzeihlich. Kein Haß ist so unversöhnlich wie die Bitterkeit eines enttäuschten Kindes, das sich an bessere Zeiten erinnert und sein Los mit dem seiner glücklicheren Altersgenossen vergleicht, die in der unbeschwerten Kindheit verweilen dürfen. Damals lernte ich jedem, der Macht hatte, zu mißtrauen. Mein ganzes Leben lang habe ich die Macht gemieden und verachtet, gleichviel ob ich sie ausüben oder mich ihr unterwerfen sollte. Stets habe ich mich ihr entzogen. Ich möchte lieber nicht, sollte meine Antwort sein, ohne Erklärung, ohne Entschuldigung, denn jedes weitere Wort wäre ein Zugeständnis an die Macht. »I would prefer not to.« Vor diesem Satz werden sie alle machtlos, die Arbeitgeber, die Verleger, die Kritiker, die Verwandten, auch Frau und Kinder, deren Besitzanspruch nach mir greift. Wenn alle Fluchtwege abgeschnitten sind und die Vormundschaft der Stärkeren uns an einen unerträglichen Alltag kettet, gibt es nur einen Ausweg: die Phantasie.

An jedem einschneidenden Übergang, immer dann, wenn man ein anderer wird, wechselt man den Namen. Nennt mich von jetzt an Ishmael. Ich bin der ins Reich der Phantasie Verstoßene. Die Welt ist ein Alptraum? Mag sein. Aber die ins Wanken geratene Wirklichkeit erregt nicht nur Grauen, unstet und wandelbar wie das Meer gibt sie den Blick frei auf seltsame, fremde Welten, auf Ahnungen, zu erschreckend und zu schön, um ihnen nicht nachzustürzen in den Abgrund. Im Angesicht des Zusammenbruchs und des Todes hatte ich die Quelle meiner Inspiration entdeckt. Die Suche nach dem Grenzenlosen, das sich nur im Augenblick des Untergangs enthüllt. Als mein Vater starb, klammerte er sich an einen Psalm wie an den letzten festen Halt, bevor er verstummte: »Mein Herz bebt in meinem Innern und Todesschrecken befallen mich, Furcht und Zittern überkommt mich und Schauder befällt mich.«10 Ich aber las weiter: »Hätt ich doch Flügel gleich der Taube, ich flöge davon, daß ich anderswo zur Ruhe käme. Weit weg entflöhe ich, rastete in der Wüste.« Oder in der Grenzenlosigkeit des Meeres. Das unversehrte Glasschiff meiner frühen Kindheit schwebte mir in der Phantasie voraus, tanzte auf den Wellen, das Bild der Ausfahrt in einem Nachen, einem Schiff, von den Versepen genährt, die ich als Kind in schlaflosen Nächten las, die ganze Sehnsucht meiner entbehrungsreichen Jugend, das Fernweh meiner maßlosen Phantasie trieb mich vom Land fort auf die Ozeane, wo die Leere des Horizonts den Blick in die Tiefe, ins Verborgene zieht. Es mußte eine Antwort geben, sonst wäre die Ungerechtigkeit des Lebens nicht zu ertragen, sonst wäre die Bitterkeit meiner Kindheit umsonst gewesen. Den Schlüssel zum Leben habe ich gefordert, nichts Geringeres. Um dieses Geheimnis zu ergründen, muß man in der Tiefe des Meeres suchen, hinter dem Horizont, jenseits des Sichtbaren, unter der Oberfläche, die nichts verrät. Ich liebe nun einmal jene Menschen, die mit ihren Gedanken tief ins Verborgene eindringen. Jeder Fisch kann nahe an der Oberfläche schwimmen, doch nur der Leviathan kann fünf Meilen oder mehr in die Tiefe des Meeres hinuntertauchen. Und wenn er nicht auf den Grund stößt, dann reichte auch kein Senkblei dorthin. Ich meine aber gar keine Fische, ich meine jene sogenannten »Gedankentaucher«, die zum Grund der Dinge hinabgetaucht und mit blutunterlaufenen Augen wieder heraufgekommen sind, vom Anbeginn der Welt bis heute.

Zweiter Monolog

Was ist des Menschen Platz im Universum? Es schien mir damals, in meiner Jugend, als gäbe es nicht allzuviele Möglichkeiten, diesen Platz zu finden, für solche wie Ely Fly und mich, zwei verstoßene, schuldlos ausgesetzte Kinder.

Wir waren Freunde seit der Schulzeit, die unsere Armut frühzeitig beendet hatte. Ich war zehn Jahre alt, als ich die Schule verlassen mußte, mein Leben lang ließ man es mich spüren, daß ich mir meine Bildung selber angeeignet habe. Der verzweifelte Hunger und die Demut des Autodidakten begleiten mich bis heute. Bis sie mich vergaßen, blieb ich für meine Literatenfreunde der ungebildete Matrose, der bei den Kannibalen lebte. Ely Fly, ich sehe ihn noch vor mir, den blassen Hilfslehrer - fadenscheinig an Rock und Seele, an Leib und Verstand - wie er unablässig seine alten Grammatiken und Wörterbücher abstaubte. Sein wunderliches Taschentuch, wie zum Spott mit den bunten Flaggen aller Herren Länder verziert - wie gern wischte er damit über die alten Schwarten! Es brachte ihn immer auf stille, freundliche Gedanken an den eigenen Tod. Er war ein Ausgestoßener, der nicht aufbegehrte, ein Hiob, demütig vor dem Schicksal und nicht ohne Würde, sauber, dürftig, anständig und unendlich hilflos, ein Mensch, von Natur und Mißgeschick zu bleicher Hoffnungslosigkeit bestimmt. Fast immer einsam, immer fremd, denn Einsamkeit und Fremdheit sind Zwillinge und eng verwandt mit Angst und Ausgestoßensein. Beinah zehn Jahre lang waren wir unzertrennlich, auf Arbeitssuche bis nach Ohio, wo uns keiner wollte. In der Jugend sind wir hilflos aus Unwissenheit, später aus Enttäuschung und Bitterkeit. Ely war zu schwach für körperliche Arbeit, ich arbeitete für zwei, dann fanden wir eine Anstellung als Kopisten, er schrieb auch noch meine unleserliche Schrift ins Reine, er schrieb für zwei, mit dem Blick auf eine hohe Ziegelmauer direkt vor seinem Fenster, schwarz, von Alter und immerwährendem Schatten. Dort ließ ich ihn zurück, und unsere Wege trennten sich. Machte ich mich schuldig, als ich ihn verließ, um als Matrose anzuheuern? Nichts, was Ely je begann, wollte ihm gelingen. Einsam und schweigsam trieb er durch sein kurzes Leben, als triebe er ausgesetzt in der Unendlichkeit des Meeres, unfähig zu ergreifen, was für andere die glücklichen Augenblicke sind, bevor er allmählich ins Nichtsein hinüberging, ein Mensch ganz ohne Drang, sich zu behaupten, sich oder anderen etwas zu beweisen. Alle, die ja sagen, lügen. Wer aber nein sagt, der überschreitet Grenzen mit nichts im Gepäck als sein eigenes Selbst....


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Autor

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.