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Ich muss los

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
128 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am13.10.20141. Auflage
Er beobachtet das Leben und versteht es nicht. Nicht das Glück, nicht den Tod, nicht die Liebe. Die Geschichte vom schweigsamen Stadtführer Dorst, der Wundersames über unscheinbare Orte erzählt, ist die Geschichte von einem, der vor der Welt davonläuft, um vielleicht irgendwann in ihr anzukommen.

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Freiburg und Hildesheim, wo sie das Institut für Literarisches Schreiben & Literaturwissenschaft leitet. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2022 wurde sie mit dem Rheingauer Literaturpreis und 2023 mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. 2011 erschien ihr Roman »Chronik der Nähe«, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband »Lexikon der Angst«, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie »Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher«. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen »Der Bärbeiß«. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Die schmutzige Frau«.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR8,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR8,99

Produkt

KlappentextEr beobachtet das Leben und versteht es nicht. Nicht das Glück, nicht den Tod, nicht die Liebe. Die Geschichte vom schweigsamen Stadtführer Dorst, der Wundersames über unscheinbare Orte erzählt, ist die Geschichte von einem, der vor der Welt davonläuft, um vielleicht irgendwann in ihr anzukommen.

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Freiburg und Hildesheim, wo sie das Institut für Literarisches Schreiben & Literaturwissenschaft leitet. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2022 wurde sie mit dem Rheingauer Literaturpreis und 2023 mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. 2011 erschien ihr Roman »Chronik der Nähe«, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband »Lexikon der Angst«, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie »Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher«. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen »Der Bärbeiß«. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Die schmutzige Frau«.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492964579
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum13.10.2014
Auflage1. Auflage
Seiten128 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2737 Kbytes
Artikel-Nr.1532579
Rubriken
Genre9201
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Inhalt/Kritik

Leseprobe

9.

Dorst fährt nach Norden. Im Gang steht eine Frau neben einem Kinderwagen. Sie hat den Kopf gegen die Scheibe gelegt und die Hände in die Taschen gesteckt. Ihre Augen sind geschlossen. Eine Dame stempelt ihre Fahrkarte und hangelt sich von Stange zu Stange auf den Kinderwagen zu. Manche Mütter mögen es ja nicht, wenn man schaut, sagt sie. Die Frau hört sie nicht. Ihr Kopf vibriert an der Scheibe. Ein Mädchen, sagt die Dame laut und zieht die Daunendecke zurück. Dorst hört ein hohes Greinen. Die Frau öffnet die Augen, zieht die Daunendecke wieder hoch und schaut aus dem Fenster. Es ist doch eine Freude, sagt die Dame wütend und setzt sich neben Dorst. Er sieht sie aus den Augenwinkeln. Dorst gähnt. Als sein Kiefergelenk knackt, schaut die Dame zu ihm herüber. Er wartet, daß sie aussteigt.

Nach Norden fahren nicht viele um diese Zeit. An der Endstation strecken sich die Parkplätze der Supermärkte und Großhändler. Neben der Haltestelle hat ein Bauer seinen Traktor geparkt und einen Obststand aufgebaut. Zwischen Kürbis und Kohlrabi wippt er auf den Fersen. Ist das Holundersaft, sagt Dorst und zeigt auf vier kleine Flaschen mit einer violetten Flüssigkeit. Wildschweinblut, sagt der Bauer nüchtern. Vor dem Wohnparadies schieben sich Jugendliche in Einkaufswagen um einen Parcours aus Sprite-Dosen. Wenn sie zusammenstoßen, brüllen sie einen gemeinsamen Schlachtruf. Ein Wagen kippt in der Kurve, aber das Mädchen in ihrer aufgeblähten Jacke und dick besohlten Gummischuhen ist gut gepolstert. Der Bauer hat die Arme verschränkt und schaut zu.

Das Wohnparadies ist so groß wie zehn Turnhallen, schwach beleuchtet und menschenleer. Die Verkäufer strecken sich in den Sitzecken aus und dösen auf Sofas. Im künstlichen Licht sind ihre Gesichter fahl. Der Lippenstift der Frauen scheint zu leuchten. Eine steht auf einer Trittleiter, den Kopf zwischen Kronleuchtern und Kutscherlampen. Eine andere kniet vor dem Backofen einer Fertigküche, als ob der Kuchen gleich fertig wäre. Als Dorst an den CD-Ständern vorbei in die Büroeinrichtungen wechselt, sieht sie ihn von weitem, steht auf, zieht sich den Rock herunter und läuft, geschickte Bögen um Fernsehtische und Lehnsessel schlagend, auf ihn zu. Tag, sagt Dorst. Kann ich Ihnen irgendwie helfen, sagt die Frau. Ich suche einen Schaukelstuhl, sagt Dorst und stellt sich einen vor, einen hölzernen, über der Armlehne eine Kamelhaardecke, daneben eine Stehlampe, ein Büchertisch mit geschwungenen Beinen. Und haben Sie auch Kamelhaardecken, sagt er. Da müssen Sie nach nebenan ins Bettenparadies. Ihre Ohrringe sind so schwer, daß sie ihre Ohrläppchen nach unten ziehen. Hoffnungsvoll schaut sie ihn an. Also einen Schaukelstuhl dann, sagt Dorst. Wissen Sie, so einen aus Holz. Ich bin gar nicht sicher, ob wir sowas führen, sagt die Frau, und sie kann sich nicht entscheiden, ob sie Dorst stehenlassen und fragen gehen oder bei ihm bleiben soll. Dorst setzt sich wieder in Bewegung. Sie hält Schritt. Ihre Stimme wird plötzlich dringlich. Aber wir führen Sessel, und Sitzecken. Natürlich. Ja, natürlich, sagt Dorst und wird schneller. Er verläßt den breiten Gang und zwängt sich zwischen Computertischen mit Rollen durch. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, ruft die Frau und bleibt stehen. Dorst dreht sich um und sieht, daß ihre Arme am Körper herabhängen, hinter ihr erstrecken sich Wohnparadiese, Turnhalle um Turnhalle. Wissen Sie was, sagt Dorst. Warum lassen Sie nicht einfach ein paar Leute hier zur Probe wohnen. Die könnten in den Betten schlafen und ihre Sachen auf die Kleiderhaken hängen und ihre Zahnbürsten in den Bädern aufstellen. Schlagen Sie das mal Ihrem Chef vor. Die Frau nickt höflich und verwirrt. Ihr Haar ist zu einer Haube erstarrt. Darunter sieht Dorst die Kopfhaut.

Einmal sah Dorst, wie sich im Bahnhofsklo ein fast glatzköpfiger Mann kämmte. Er hatte über den Ohren noch einige Fransen und an der linken Schläfe eine lange, mühsam gezüchtete Strähne, die er mit seinem Kamm zärtlich über den nackten Kopf bis zur rechten Schläfe führte und andrückte. Dann ruckte er mit dem Kopf, bis er einen Neigungswinkel gefunden hatte, der die Glatze verbarg und ihm das Spiegelbild eines behaarten Kopfes bot. Dorst stellte sich vor, ein Windstoß könnte die Anstrengung zunichte machen und die Strähne verwehen. Dann hinge sie dem Mann bis auf die Schulter. Dorst fiel ein, daß seine Mutter jede Woche zum Friseur ging und sich ihren Flaum aufbauschen ließ.

Sie schrieb immer noch fiebrig, aber ihre Schrift war winzig geworden. Sie füllte Kladde um Kladde mit ihrer winzigen, wilden Schrift. Kann ich das mal lesen, fragte Dorst. Nur über meine Leiche, sagte die Mutter und kicherte. Sie kicherte selten. Du mußt doch bald mal alles aufgeschrieben haben über Vati, sagte Dorst. Hast du eine Ahnung, sagte die Mutter. Einmal die Woche kam eine Fußpflegerin zu ihr und knetete ihr die Zehen. Wenn sie mit ihrem lackierten Koffer ankam, während Dorst zu Besuch war, zog er sich sofort zurück. Dorsts Mutter bereitete sich im Badezimmer vor, legte die aufgerollten Seidenstrümpfe auf die Waschmaschine und krempelte die Hosenbeine hoch. Dorst saß im alten Kinderzimmer und lauschte. Die Regale waren leer. Dorsts Mutter trat ins Wohnzimmer, wo die Fußpflegerin schon ihre Tuben aufgestellt hatte. Ein strenger Geruch nach Calendula zog durch die Wohnung. Mit der Fußpflegerin kicherte die Mutter gern. Was wollen Sie mir denn heute antun, kicherte sie. Die Fußpflegerin raunte, Dorst konnte sie nicht verstehen. Ruhig erst ganz langsam, sagte Dorsts Mutter, ach Sie wissen aber auch genau wo, und sie kicherte wieder. Dorst lehnte an der Heizung, hielt sich die Ohren zu und summte, bis die Mutter an die Tür klopfte. Jetzt komm, du Schrat, sagte sie, das wird ja immer schlimmer mit dir, kein Sitzfleisch, schon als kleines Kind warst du so, immer solo. Du bist doch auch solo, sagte er. Und hab ich mir das ausgesucht. Wenigstens kriegst du deine Streicheleinheiten, sagte er und sah zu, wie sich ihr Gesicht rötete und um die Lippen herum zusammenzog.

Manchmal kam auch Herr Quoirin. Herr Quoirin war Vaters Kollege gewesen und fühlte sich der Familie verbunden, sagte er. Herr Quoirin kam zum ersten Mal einige Monate nach dem Tod von Dorsts Vater und brachte zwei Kinokarten. Zur Aufheiterung, sagte er zu Dorsts Mutter. Sie wendete sich ab und faßte sich an die Nase. Ein saftiges Schnauben brach durch ihre Nasenlöcher, die sie mit der Hand bedeckte. Dorst versuchte, das Schnauben nachzuahmen. Die Mutter warf ihm über die Hand einen undeutbaren Blick zu. Oder vielleicht will der junge Herr mich begleiten, sagte Herr Quoirin zu Dorst. Kino ist blöd, sagte Dorst. Was, sagte Herr Quoirin und lachte angestrengt. Die Mutter nahm die Hand vom Gesicht und putzte sich die Nase, Sie sind so freundlich, wir wissen das zu schätzen, natürlich. Sie bot Herrn Quoirin einen Magenbitter in den kleinen beschlagenen Gläsern an, in denen Dorst manchmal Regenwürmer sammelte. Der Magenbitter war dunkel und zähflüssig. Dorst stellte sich vor, er wäre aus zerstampften Regenwürmern gepreßt.

Als Herr Quoirin wiederkam, brachte er Dorsts Mutter ein Keramikschaf für den Fenstersims mit. Bezaubernd, sagte die Mutter. Diesmal hatte sie sich vorsichtshalber ein Taschentuch in den Ärmel gesteckt, so wie Omi das immer tat, schnaubte aber nicht. Dafür schnaubte Dorst. Er schnaubte, als die Mutter das Keramikschaf auspackte, und schnaubte, als Herr Quoirin ihr das Schaf aus den Händen nahm, es Dorst ins Gesicht hielt und mäh sagte. Ich geh zu Gregor. Ist das dein kleiner Spielkamerad, fragte Herr Quoirin. Wir sind eine Band, sagte Dorst scharf und ging hinaus. Im Flur hörte er, wie die Mutter meinte, es ist nicht einfach mit ihm, er verweigert sich ständig, ich komme nicht an ihn heran. Er blieb an der Garderobe stehen, an der immer noch der Mantel des Vaters hing, und faßte in die Taschen von Herrn Quoirins Trenchcoat. In der linken waren ein feuchtes Taschentuch, ein Stift und ein mit Flusen verklebtes Hustenbonbon. In der rechten ein Schlüsselbund und ein Elefant aus Ebenholz. Dorst rannte nach unten und versteckte sich am Fußballfeld, wo Gregor und die anderen dem Ball hinterherschrien und roten Staub aufwirbelten.

Beim nächsten Mal brachte Herr Quoirin der Mutter einen Elefanten aus Ebenholz mit und sagte, der Ruf der Ferne. Sie müssen das alles hier mal hinter sich lassen. Seitdem war Herr Quoirin nicht mehr wegzudenken.

Einmal fuhren sie sogar zu dritt in Urlaub. Vorher ließen sie sich zwei Stunden in einem Reisebüro beraten. Ein stiller Landstrich, sagte Herr Quoirin, wir müssen alle zur Ruhe kommen, und Sand für den Jungen. Sand ist blöd, sagte Dorst und zählte leise bis zehn, um nicht zu weinen. Sie flogen nach Tunesien. Dorst verbrachte seinen ersten Flug damit, zugeschweißte Marmeladendöschen aufzureißen und mit einer Plastikgabel in den Aschenbecher zu schmieren. Guck doch mal, die Wolken, sagte die Mutter, die sich zwischen ihn und Herrn Quoirin gesetzt hatte, wie Watte. Dorst schnaubte und sah aus den Augenwinkeln, wie sich das Gesicht der Mutter rötete. Am Flughafen strömte die feuchtwarme Luft auf ihn ein. Herr Quoirin bekam sofort Flecken unterm Arm. Ein Bus brachte sie zum Hotel, das von dünnen Katzen umlagert war. Damen mit Safarihüten stießen auf der Terrasse mit Sektgläsern an und sangen, jung ist man nur einmal. Dorst mußte mit seiner Mutter in einem Doppelbett schlafen und wachte immer auf, wenn sie spät am Abend zu ihm unter das Laken kam. Sie war schwer, und die Matratze gab spürbar nach. Mücken, die tiefer und lauter summten als zu Hause, schwebten unsichtbar um ihre Köpfe. Morgens putzte sich Dorst mit Mineralwasser die Zähne. Es vermischte sich mit der Zahnpasta zu fader Minzlimonade. Herr Quoirin klopfte um neun, streckte den...
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Autor

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Freiburg und Hildesheim, wo sie das Institut für Literarisches Schreiben & Literaturwissenschaft leitet. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Ich muß los", für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman "Insel 34", 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2011 erschien ihr Roman "Chronik der Nähe", im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband "Lexikon der Angst", 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie "Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher". Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen "Der Bärbeiß". Zuletzt veröffentlichte sie das "Lexikon der Liebe".