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Durchzug eines Regenbandes

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
688 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am19.02.20151. Auflage
Drei Märchen der Brüder Grimm verwandelt Ulrich Zieger in ein Gesellschaftspanorama des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Spione, Detektive, Mörder. Rudi Carrell, der Tiger von Eschnapur und andere vergessene Helden. Das ist Literatur für wilde Geister und wache Stunden. Bis ins Realistische surreale Geschichten von Engeln und Eigenbrötlern sind Ziegers Metier: in den achtziger Jahren spielte er in der freien Gruppe »Zinnober« im Prenzlauer Berg Anton Tschechow, schrieb Theaterstücke und Anfang der Neunziger das Drehbuch zu Wim Wenders' Film ?In weiter Ferne so nah?. Zehn Jahre hat Ulrich Zieger nun an diesem Prosawerk gearbeitet und einen monumentalen Roman geschaffen, der mitten in der Zeit steht, in die er nicht gehören will.

Ulrich Zieger, geboren 1961 in Döbeln, lebte nach Jahren in Berlin seit 1989 in Montpellier. Er schrieb Prosa und Lyrik, übersetzte Jean Genet und Friedenspreisträger Boualem Sansal aus dem Französischen und schrieb neben einer Vielzahl von Theaterstücken das Drehbuch zu Wim Wenders' Film ?In weiter Ferne, so nah?, der 1993 mit dem Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet wurde. Für seine literarische Arbeit erhielt er 1991 den Nicolas-Born-Preis für Lyrik und 2000 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. Bei S. Fischer erschien von ihm 2015 der Roman ?Durchzug eines Regenbandes?.
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Produkt

KlappentextDrei Märchen der Brüder Grimm verwandelt Ulrich Zieger in ein Gesellschaftspanorama des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Spione, Detektive, Mörder. Rudi Carrell, der Tiger von Eschnapur und andere vergessene Helden. Das ist Literatur für wilde Geister und wache Stunden. Bis ins Realistische surreale Geschichten von Engeln und Eigenbrötlern sind Ziegers Metier: in den achtziger Jahren spielte er in der freien Gruppe »Zinnober« im Prenzlauer Berg Anton Tschechow, schrieb Theaterstücke und Anfang der Neunziger das Drehbuch zu Wim Wenders' Film ?In weiter Ferne so nah?. Zehn Jahre hat Ulrich Zieger nun an diesem Prosawerk gearbeitet und einen monumentalen Roman geschaffen, der mitten in der Zeit steht, in die er nicht gehören will.

Ulrich Zieger, geboren 1961 in Döbeln, lebte nach Jahren in Berlin seit 1989 in Montpellier. Er schrieb Prosa und Lyrik, übersetzte Jean Genet und Friedenspreisträger Boualem Sansal aus dem Französischen und schrieb neben einer Vielzahl von Theaterstücken das Drehbuch zu Wim Wenders' Film ?In weiter Ferne, so nah?, der 1993 mit dem Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet wurde. Für seine literarische Arbeit erhielt er 1991 den Nicolas-Born-Preis für Lyrik und 2000 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. Bei S. Fischer erschien von ihm 2015 der Roman ?Durchzug eines Regenbandes?.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104032825
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum19.02.2015
Auflage1. Auflage
Seiten688 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1611 Kbytes
Artikel-Nr.1539290
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Nachtrag:
Geknickte Blätter


WER spinnt wann?

Ganz so wie befürchtet waren die Stunden der nächtlichen Ruhe nicht verlaufen. Womöglich hatte die seit Wochen andauernde Trockenheit inzwischen selbst die Singvögel träge werden lassen, jedenfalls war Norden in tiefen, der Bewusstlosigkeit ähnelnden Schlaf gesunken, noch ehe die Aktivitäten auf dem kleinen Platz unter dem Fenster wieder eingesetzt hatten. Das Café im Parterre öffnete seine Türen in aller Frühe, doch tranken die ersten Gäste ihren Espresso meist schweigsam und in Zeitungen vertieft. Allerdings gehörten zum Inventar auch zwei Spiele, ein uralter Einarmiger Bandit und ein bleischweres Tischfußballfeld, auf die sich hin und wieder, waren die Sommerferien nicht gerade in der letzten Woche schon wieder zu Ende gegangen, Horden unternehmungslustiger Schulpflichtiger mit jugendlicher Wonne stürzten, ehe die schrille Klingel des benachbarten Gymnasiums sie zu ihren Exerzitien rief. Man konnte das alles verstehen, das unverhältnismäßig laute Scheppern und Knallen dieser beiden Vergnügungsautomaten aber, von denen der eine, der andere war wenigstens unbeweglich an der Wand fixiert, auch gerne einmal scharrend und quietschend über den Steinfußboden gerückt wurde, hatten Norden in der Vergangenheit schon wiederholt den spät erst einsetzenden Schlaf gekostet. Meist war er dann noch einmal aufgestanden, hatte sich nur flüchtig Hände und Gesicht gewaschen und das ölig glänzende Haar glattgestrichen, um in loser Bekleidung die wendelnde Treppe hinunterzusteigen und sich in der trügerischen Hoffnung, dadurch endlich bettschwer und sinkend zu werden, einen hoffentlich letzten Mocca bestellt, sich freilich unter den genannten Umständen auch schon das eine oder andere Mal auf Gespräche mit Zufallsbekanntschaften eingelassen und feststellen müssen, wie schnell die Zeitspanne von reiner Morgenfrühe in Richtung Mittag vergehen konnte, wenn man unter dem Zugeständnis einer seltenen Ausnahme erst einmal der Einladung zu einem alkoholischen Getränk gefolgt war. Man konnte solche Tage für verloren halten, irgendwann zwischendurch erschienen sie einem wohl doch als die einzig gelungenen, und wenn in der Schule das Mittagessen gereicht wurde, das einer guten Tradition zufolge den meisten seiner Abonnenten selten schmeckte, fand man sich urplötzlich in einem Turnier gegen diejenigen wieder, die man Stunden zuvor noch auf den Mond gewünscht hatte ...

So nun erwachte Norden gegen Mittag und fühlte sich weder gänzlich zerschlagen noch innerlich vollkommen ausgetrocknet. Er würde, beschloss er, noch lange im Morgenmantel bleiben, viel Kaffee trinken, dazu entweder beidseitig gebratene Spiegeleier essen, Toast und gegrillte Tomaten, oder sich irgendwo da draußen von einem zwanghaften Kellner zu einem neuartigen Buttermilchshake überreden lassen, um unter dem Vorwand allgemeinen Hitzeleidens mit sympathischen Tischnachbarn in eine unverfängliche Plauderei zu geraten, die ihn manche Anstrengung des vergangenen Abends vergessen ließe. Er würde diesen Tag in einem Einverständnis mit sich ganz allein verbringen und nicht den geringsten Gedanken darauf verwenden müssen, irgendjemanden mit der gegenwärtigen Befindlichkeit verfeindeter Volksgruppen zu behelligen, deren Namen unaussprechlich, deren Trachten weithin unbekannt und deren Mundart spurlos in den vielfältigen Idiomen der bewegten Welt zu schlingern schienen ...

Da unten in den Gassen längst der hohe Mittag herrschte, tobten dort unausstehlicher Hunger und ritualisierter Appetit, von Ausrottung immer verschont gebliebenes, schwatzhaftes Mitteilungsbedürfnis und die aufpeitschende Wirkung eines Sommers, der nur für die wenigsten aus Urlaub und Strandpromenade bestehen konnte, wie Gebete von Schreienden gegeneinander an, was sich in Nordens hochgelegenem Geviert und seinem Halbschlaf mitunter so ausnahm, als plärrten für alle Ewigkeit unbelehrbar Gebliebene ihren Furor und ihr Elend in ein fernes, längst ertaubtes Ohr.

Noch einmal wälzte er sich von der Seite der Milz auf die Seite der Leber, zog die Kissen über seinem Kopf zusammen und dachte kurz daran zurück, wie eine irgendwie weinerliche, dabei aber penetrant nörgelnde Stimme ihm eben noch nahegelegt hatte, sich doch seit seiner Trennung von Sirene, die einige Monate zurücklag, auch wieder einmal der weichen Umarmung einer Frau hingeben zu können. Die nörgelnde Stimme hatte einem kleinwüchsigen, mageren, ja regelrecht fragil wirkenden Mann gehört, mit dem er auf einem nächtlichen Großstadtbahnhof ins Gespräch gekommen war. Da sich die Stadt und der Stationsvorstand dazu entschlossen hatten, für die nächtlichen Stunden ohne Zugverkehr lediglich Reisende mit einer gültigen Fernfahrkarte ins Gebäude einzulassen, lag die riesige Halle beinahe erstorben unter den Blicken der wenigen Wartenden. Die übrige Bevölkerung der Nacht, so wie man sie für gewöhnlich mit einem großen Fernbahnhof in Verbindung brachte, die einsamen und sehnsüchtigen Trinker, die fadenscheinigen Schnorrer, die halbtoten Drogensüchtigen und jene noch irgendwie anders von Fernweh erfassten Besucher, die nie einen Fahrschein kauften, sondern immer am Ort blieben und dennoch eine große Bedeutung für die Durchreisenden hatten, weil sie ihnen entweder verschwiegen zulächelten oder in Gedanken noch lange nachwinkten, war infolge der harten, Sauberkeit und öffentliche Ordnung über die Gesetze des Lebens stellenden Maßnahme ausgesperrt worden. Unter den wenigen Wandelnden oder auf Wartebänken und unter gläsernen Baldachinen vor sich hin Dösenden war der kleine Mann gewesen, der, wie sich bald herausstellte, von einem Traditionstreffen der Fremdenlegion zurückkehrte, der er Jahrzehnte früher einmal angehört hatte. Auf Nordens Frage, was für ihn im Rückblick denn das prägende Moment jener Jugenderfahrung geblieben sei, hatte der Mann wiederholt auf die Kameradschaft, die ganz und gar unvergleichliche Kameradschaft hingewiesen, die er späterhin so nie mehr angetroffen habe. Der weinerliche Unterton der dünnen Stimme hatte sich besonders an diesem Wort entfaltet. Doch hatte Norden, wie ihm plötzlich wieder einfiel, dieses Zusammentreffen gar nicht geträumt, sondern vor Jahren einmal leibhaftig erlebt, als er Deutschland mit der Eisenbahn durchquert hatte, um in Norwegen an einer Hochzeit teilzunehmen. Bestimmte Reizworte der letzten Nacht wie Papierkleidung, Militärdiktatur, Hausmeier und Gemeindevorstand hatten sich offenbar ungünstig ineinander gefügt und waren dabei auf eine derartig zähe Weise verklumpt, dass man sich heftig schütteln musste, um alles wieder an seinen Platz zu rücken ... Norden empfand das eben noch eingelullt träumende, in Wahrheit seit Stunden gnadenlos wiedererwachte Stadtviertel in seinem Ewigkeitsanspruch wie ein gewaltiges Rauschen sich im Wind wiegender Bäume, und indem er es, noch liegend, noch sinnend, nur hörte, sah er es in seinen grellen, seinen heruntergekommenen und zweifellos glücklichen Farben doch so plastisch vor sich, als projiziere jemand es mit Hilfe eines optischen Geräts an seine Zimmerdecke. Die Nacht hatte endlich auch hier an ihr Ende gefunden, der Angriff des somnambulen Besuchers vom vergangenen Abend war, wenn schon nicht abgewehrt, so doch überstanden worden. Das Leben flog in seinen trostlosen Stunden an einem vorüber, in den teilnahmsvolleren flog es durch einen hindurch. Was in jedem Falle davon übrigblieb, waren Zweifel und Nachdenklichkeit ...

Norden, der Nachdenkliche, kann seinen Namen nicht ändern, kleidete sich nun doch an, lief dabei summend in die Küche, sah in den Kühlschrank, fand jetzt aber plötzlich nichts darin, das ihm im Augenblick Vergnügen hätte bereiten können, und beschloss daher, die erste Mahlzeit dieses Tages in einem kleinen Lokal einzunehmen, das vor den Toren der Stadt inmitten eines ausgedehnten Terrains hübscher Gärten und flacher, langgestreckter Chausseehäuser lag und das er einst auf einem seiner Spaziergänge als Neuankömmling in der Gegend mit freudiger Überraschung entdeckt hatte ... In diesem Moment, dem Moment, in dem sein Kopf durch den Kragen des leichten Baumwollhemdes fuhr, das er wie gewöhnlich im Vorübergehen dem Wandschrank hinter der Sitzgruppe entnahm, fiel sein Blick auf den längs gefalteten Umschlag, den der Fremde bei seinem Abschied in den frühen Morgenstunden aus dem Mantelfutteral hervorgezogen hatte. Die bei Tageslicht als doch weitaus fleckiger und zerknitterter sich erweisende Versandtasche, jene Papiertüte, die vielleicht einmal zur Grundausstattung eines Bewohners der Insel Bienitz gehört haben mochte, warum nicht als Mütze, lag unberührt zwischen den weißgeränderten Mustern, welche die verdunsteten Wasserflecken auf dem Rauchtisch hinterlassen hatten. Der afrikanische Kontinent allerdings war auf die Maße Südamerikas, bei genauerem Hinsehen auf die einer Salatgurke geschrumpft. Norden nahm einen Schwamm zur Hand, befeuchtete ihn am Waschbecken und entfernte die Spuren der nächtlichen Unterhaltung, die jetzt ihrerseits nach einer Schrift, der Schrift der Eiskunstläufer auf ihrer nach Abschluss der Kür verlassenen Bahn aussahen, wozu er sich den Umschlag in der Art einer Tageszeitung unter den linken Arm klemmte. Entgegen einer ersten Regung, die ihn dazu anhielt, dieses Überbleibsel eines gedanklich langsam schon wieder entrückenden Zusammentreffens mit einem eigenbrötlerischen Artgenossen vorläufig in einer Schublade seines Schreibtischs zu deponieren, öffnete er die längst mürbe gewordene Verschlusslasche und ließ den Inhalt, einen Stoß geknickter Blätter, eng beschriebenen, teils auch mit ungelenken Zeichnungen bekritzelten Papiers in die gekrümmte Handfläche gleiten. Das also war es, was der...
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Autor

Ulrich Zieger, geboren 1961 in Döbeln, lebte nach Jahren in Berlin seit 1989 in Montpellier. Er schrieb Prosa und Lyrik, übersetzte Jean Genet und Friedenspreisträger Boualem Sansal aus dem Französischen und schrieb neben einer Vielzahl von Theaterstücken das Drehbuch zu Wim Wenders' Film >In weiter Ferne, so nahDurchzug eines Regenbandes