Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Die Autorenwitwe

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
174 Seiten
Deutsch
DuMont Buchverlag GmbHerschienen am14.11.20141. Auflage
Sie beginnen, »ihr Leben zu betrachten, wie man einen langen Regentag betrachtet, die Ellenbogen auf dem Fensterbrett«. Da ist die Frau mit dem großen Hund, die statt ihres Schriftstellergatten eine Stadtschreiberstelle in der ostdeutschen Provinz antritt und ihre eigene Leere findet. Da ist der Lehrer, der nach dem Tod seiner Frau eine Schülerin trifft, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Da ist die Frau, die für andere Leute Blumen gießt und auf erschreckende Geheimnisse stößt. »Geschichten in der beharrlichen Ratlosigkeit«, die Judith Kuckarts Erzählen ausmacht: In Sätzen, die unter die Haut gehen, geht sie auf Erkundungsfahrt in die menschliche Seele. Ob sie die schnellen erotischen Erlebnisse eines Verlagsvertreters mit seinen Buchhändlerinnen beschreibt oder das Schwanken einer Frau zwischen dem jugendlichen Liebhaber und dem Mann, der sie verlassen hat, Judith Kuckart formt alltägliche Begegnungen zu beklemmend nachvollziehbaren Geschichten.

JUDITH KUCKART, geboren 1959, lebt als Autorin und Regisseurin in Berlin. Sie veröffentlichte bei DuMont den Roman >Lenas LiebeDer BibliothekarKaiserstraßeDie VerdächtigeWünscheDass man durch Belgien muss auf dem Weg zum GlückKein Sturm, nur WetterCafé der Unsichtbaren< (2021). Judith Kuckart wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR17,90
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR6,99

Produkt

KlappentextSie beginnen, »ihr Leben zu betrachten, wie man einen langen Regentag betrachtet, die Ellenbogen auf dem Fensterbrett«. Da ist die Frau mit dem großen Hund, die statt ihres Schriftstellergatten eine Stadtschreiberstelle in der ostdeutschen Provinz antritt und ihre eigene Leere findet. Da ist der Lehrer, der nach dem Tod seiner Frau eine Schülerin trifft, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Da ist die Frau, die für andere Leute Blumen gießt und auf erschreckende Geheimnisse stößt. »Geschichten in der beharrlichen Ratlosigkeit«, die Judith Kuckarts Erzählen ausmacht: In Sätzen, die unter die Haut gehen, geht sie auf Erkundungsfahrt in die menschliche Seele. Ob sie die schnellen erotischen Erlebnisse eines Verlagsvertreters mit seinen Buchhändlerinnen beschreibt oder das Schwanken einer Frau zwischen dem jugendlichen Liebhaber und dem Mann, der sie verlassen hat, Judith Kuckart formt alltägliche Begegnungen zu beklemmend nachvollziehbaren Geschichten.

JUDITH KUCKART, geboren 1959, lebt als Autorin und Regisseurin in Berlin. Sie veröffentlichte bei DuMont den Roman >Lenas LiebeDer BibliothekarKaiserstraßeDie VerdächtigeWünscheDass man durch Belgien muss auf dem Weg zum GlückKein Sturm, nur WetterCafé der Unsichtbaren< (2021). Judith Kuckart wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783832188016
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2014
Erscheinungsdatum14.11.2014
Auflage1. Auflage
Seiten174 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1539705
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Die Autorenwitwe

Sie kam am Nachmittag an, und sie ging in glänzenden dünnen Strümpfen auf die Imbißbude zu. Die Luft war nur Kälte und Trockenheit, noch keine Pflanze zu sehen. Sie trug an jeder Hand einen braunen Lederkoffer und um das Gelenk eine Hundeleine. Der Hund war schwarz, zerzaust und nicht mehr jung. Vor unserer Bude ließ sie die Koffer fallen und bestellte Currywurst mit Darm und Schrippe, für sich und den Hund. Sie teilten sich eine Portion, ihre Nase und seine Schnauze der Abendsonne zugewandt. Die Sonne ging drüben am anderen Seeufer unter, und ihr Licht brach sich sicher violett in den Scheiben vom Schloß. Ich weiß, wie das Ende eines Tages in Rheinsberg aussieht. Ein Omnibus lud Tagestouristen ein. Rentner mit nassen Schuhen sammelten sich vor dem Kavaliershaus gegenüber unserer Imbißbude. Parterre sind im roten Kavaliershaus das Tourismusbüro und, nach hinten raus, unsere Stadtschreiber auf Zeit untergebracht. Eigentlich hat die Wohnung Blick zum See, doch stellen sich ein Parkplatz, Papiercontainer sowie bei schönem und bei schlechtem Wetter die Wäsche der Hausmeisterin vor die Aussicht.

Die Frau kaute ihre Wurst so langsam, als wolle sie warten, bis alle Touristen wieder in den Bus eingestiegen waren. Mit dem letzten Bissen wandte sie mir das Gesicht zu. Jung konnte sie nicht mehr sein, wenn auch die Kälte ihre Haut straffte. Die Augen waren sehr blau, und der Ton übertrug sich auf die Haut. Sie schimmerte ebenfalls blau, winterblau. Die Wangen zogen an den Mundwinkeln. Ich wußte nicht, ob die Frau Kummer hatte oder ob Müdigkeit bei ihr wie Kummer aussah.

»Ich komme aus Berlin«, sagte sie. »Wissen Sie, wo ich den Leiter der Stiftung finde?«

Berlin ist zwei Stunden, aber für die meisten aus Rheinsberg ein ganzes Leben von hier entfernt.

»Da«, ich wies mit der Hand Richtung Schloß, öffnete dabei die Handfläche nach oben, als hätte ich etwas anzubieten. Ob die Fensterscheiben im Schloß inzwischen dunkelgrau waren? Sie sah mich an, und ihre Augen ähnelten den Hälsen junger Tiere, wenn sie sie neugierig recken.

Was du alles siehst, hätte Wibke dazu gesagt.

Kein Wunder, hätte ich geantwortet, schließlich bin ich mal Filmvorführerin gewesen, und da hat man eine Menge gesehen.

Vom Leben?

Auch vom Leben.

Ich beugte mich vor. In der Bewegung stieg mir der Geruch meiner Haare, Pommes und Fett, in die Nase.

»Die Stiftung ist im Schloß«, sagte ich. Die Frau warf dem Hund den Pappteller hin. Er leckte die warme Ketchup-Tunke, und wir, sie und ich, sahen zu. Gerade wollte er sich setzen, da sagte sie zärtlich: »Komm, Doktor«, griff nach den Koffern und zog an der Leine und den Hund mit sich fort. Ich sah sie von hinten. Sie ging. Kurze warme Jacke, schmaler Rock, feine Kniekehlen, und die Beine wirkten jünger als der Rest Frau, unbeschädigter, fest, mädchenhaft. Ihr Schritt war entschlossen, aber so betont entschlossen, als hätte sie getrunken. Der große Hund lief schräg, ein wenig mißtrauisch neben ihr. Es war Anfang Februar, und die Nacht kam vor fünf Uhr. Das Schloß schien in der Dämmerung zu verschwinden, während sie darauf zuging. Menschen mit Schlittschuhen über der Schulter liefen der Frau und dem Hund entgegen.

»Schönes Wochenende, oder bleiben Sie länger«, rief ich, als die Entfernung fast zu groß geworden war. Schönes Wochenende, wiederholte ich, aber lauter, drückte die Hand gegen den Bauch, um meiner Stimme zu helfen. Da drehte sie den Kopf, dann den Körper hinterher. Das Ende ihrer Bewegung veränderte die Umgebung, machte die Straße zur Bühne, das Schloß zur Kulisse, die Schlittschuhläufer zu Statisten. Etwas sprang von ihr weg und die Umgebung an. Mich auch.

Ein Schlittschuhläufer in einem fluoreszierenden gelben Overall aus dem Quellekatalog trat an meine Bude und zündete sich eine Zigarette an.

Die Frau aber sagte etwas über die Entfernung hinweg.

»Sechs«, las ich von ihren Lippen. Sie hatte einen großen Mund. Der stach geschminkt aus dem ungeschminkten Gesicht.

»Noch mal«, signalisierte ich durch ein Achselzucken.

»Die meint: sechs Monate«, sagte der Schlittschuhläufer mit der Zigarette zwischen dicken Handschuhfingern. »Die ist schon wieder so eine. Die hab ich vorhin am Bahnhof gesehen. Hat ein Foto im Automaten gemacht, von sich und dem Riesenhund. Den hatte sie auf dem Schoß dabei.«

Sie hieß Olga mit Vornamen. Das hatte sie gleich gesagt. Olga Stosskopf.

Wibke, die als Aushilfe in der Stiftung arbeitet, hatte es mitgehört. Der Leiter der Stiftung hatte sich über das Handgelenk von Olga Stosskopf gebeugt und die Hundeleine spät erst gesehen. Er hatte die Schlaufe den Arm hinaufgeschoben und ihre Hand geküßt, mit spitzen Lippen. Gnädige Frau, soll er gesagt haben, ich weiß, Sie sind seit vielen Jahren die, die â¦

Genau die, soll sie gesagt und dabei genickt haben. Wibke war dabei.

Wibke findet, seitdem sie aus der Schule ist, nichts im Leben, nichts rechts und nichts links. Doch der Leiter der Stiftung fand sie hübsch und gab ihr einen Aushilfsjob im kleinen Stiftungsmuseum. Seitdem putzt sie Glasvitrinen, tippt alte Karteikarten in einen alten Computer und steht mit Bohrmaschine und Minirock auf der Klappleiter, wenn Ausstellungen wechseln. Einmal habe ich mich auch beworben, aber der Leiter fand mich überqualifiziert, das heißt: nicht hübsch genug. Behauptete wenigstens Wibke.

Sie sei für ihren Mann gekommen, soll Olga Stosskopf gesagt haben. Für Oskar Stosskopf.

Das habe er sich schon gedacht. Der Leiter der Stiftung soll verlegen und deshalb barsch meine Wibke gefragt haben, ob sie die Wohnungsschlüssel vom Kavaliershaus griffbreit habe.

Wibke nickte viel und freundlich und eifrig, aber Olga Stosskopf soll auf niemanden geachtet, sondern einen Unterschenkel nach hinten angewinkelt haben, um mit einem kritischen Blick über die Schulter den linken Absatz zu mustern. Der hatte gelitten auf dem Weg vom Bahnhof zum Schloß. Denn auf den Straßen von Rheinsberg liegt immer noch Kopfsteinpflaster.

Später kamen sie zu dritt an unserer Bude vorbei. Ich sage »unsere«, auch wenn ich zur Zeit allein bediene. Wibke, Olga Stosskopf und der Leiter der Stiftung kamen vorbei, und es war schon ganz dunkel. Ich schnitt Zwiebeln für Schaschlikspieße. Der Leiter der Stiftung trug die Koffer, Olga führte den Hund, und so zu dritt liefen sie hinter Wibke her, die mit den Schlüsseln der Stadtschreiberwohnung klimperte, als ginge sie mit tiefem Dekolleté auf den Tresen einer Hotelbar zu. Einfach filmschön. Davon verstehe ich etwas, weil ich doch vor 89 Filmvorführerin in Berlin war, in Friedrichshain. Am liebsten habe ich Schwarzweiß-Produktionen aus Frankreich vorgeführt. Das waren Bilder, da oben auf der Leinwand! Und das war eine Sehnsucht, da unten im dunklen Saal, wenn uns die Bilder über das Gesicht liefen und wir einfach mit- und davonliefen, nach Paris, außer Atem vor lauter Liebe, das Haar kurz und frech wie die schöne Schauspielerin, die mit amerikanischem Akzent und in flachen Ballerinaschuhen zwischen den Autos Zeitungen verkaufte. Heute habe ich manchmal Sehnsucht nach dieser alten Sehnsucht. Wibke nie, sie weiß nicht, was sie tut, sie nimmt, was kommt, läßt es durch sich hindurch, nichts bleibt hängen. Ich nenne sie die weiße Wibke.

Als sie an jenem Freitagabend zu dritt mit Hund vorbeikamen, stellte ich mich vor die Bude und gähnte. Die Glocken läuteten den Abend ein. Die Jungens vom Ort fuhren wie jeden Abend ihre Runden und niemals fort. Zwei Elstern beschimpften sich im Baum vor dem roten Kavaliershaus. Wibke schloß auf. Olga Stosskopf senkte den Kopf, als der Schlüssel sich zweimal drehte. Über ihrem blonden Haar sah ich Wibkes Profil und daß sie aus den Augenwinkeln blaß und breit und gleichmütig zu mir herübersah. Alle standen sie mit dem Rücken zu mir, auch der Hund. Ich dachte, so bleibt es für immer.

Am Ellenbogen führte der Leiter der Stiftung Olga Stosskopf über die Schwelle. Wibke und Hund folgten, die Koffer ließen sie draußen allein. Dann kam der Leiter zurück, in seinen Lederhosen, wie immer in seinen krachledernen Hosen, ein Kumpel den Männern, und wenn es drauf ankommt, den Frauen ein Hecht. Er ist nicht von hier, er ist aus dem Westen, der Krachlederne.

Hoffnungslos sei das mit diesem Kerl, sagte Wibke fünf Minuten später, als sie herüber und Wurst essen kam. Er habe diese Olga Stosskopf zum Abschied gewarnt mit gesenkter Stimme; nachts sei es hier ungewöhnlich dunkel, soll er gesagt haben. Wibke zog ein Zeitungsbild aus der Jackentasche und hielt es mir unter die Nase.

»Der Stosskopf sieht gar nicht so aus, als würde er auf dem Rathaus arbeiten«, sagte sie.

»Wieso auf dem Rathaus?«

»Na, als Stadtschreiber.« Wibke kicherte.

Ich fand den Witz blöd und schluckte. Ich fand Wibke so blöd wie den Witz in dem Moment. Lebten wir uns auseinander? Dafür war Rheinsberg eigentlich zu klein.

Wibke stieß die Wurst in den Ketchup und zog die Schultern dabei hoch.

»Und dunkle Straßen sind bei der doch egal. Die ist doch schon alt.«

Sie zog die Schultern höher, höher noch als im letzten Jahr, denn das Alter sitzt auch ihr im Nacken.

Der Stosskopf habe Verpflichtungen in Portugal, Südkorea, und manchmal in Münster und Bielefeld, und solange er Verpflichtungen habe, vertrete sie, die Stossköpfin, ihn. Wibke verstellte die Stimme, während sie sprach. Jeder Vokal bekam einen Goldrahmen und tönte schlecht, aber wie Bühne.

Kläglich kam mir die Geschichte vor. Dieser Oskar war für Olga eine...


mehr