Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Ausharren im Paradies

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
480 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am02.04.20151. Auflage
Was zunächst als heiteres Familienbild beginnt, entpuppt sich als ein Lehrstück von der Deformation, aber auch von der Würde des Menschen unter dem Druck einer Diktatur. Feyl, Meisterin der doppelbödigen Idylle, erzählt die Geschichte des Slawistik-Dozenten Kogler, der als Sudetendeutscher 1951 mit seiner Familie von der Tschechoslowakai in die DDR übersiedelt. Er stürzt sich voller Elan in den vermeintlichen Fortschritt im Osten. Doch bald schon bemächtigt sich die staatliche Kontrolle der Gefühle und Gedanken. Hinter Anpassungsversuchen wächst Widerstand, der schließlich offen wird - Kogler verliert seinen Job.

Renate Feyl, geboren in Prag, studierte Philosophie und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Von ihr erschienen bei Kiepenheuer & Witsch »Idylle mit Professor« (1988), »Ausharren im Paradies« (1992), »Die profanen Stunden des Glücks« (1996), »Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit« (1999), »Streuverlust« (2004), »Aussicht auf bleibende Helle« (2006) und »Lichter setzen über grellem Grund« (2011).
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextWas zunächst als heiteres Familienbild beginnt, entpuppt sich als ein Lehrstück von der Deformation, aber auch von der Würde des Menschen unter dem Druck einer Diktatur. Feyl, Meisterin der doppelbödigen Idylle, erzählt die Geschichte des Slawistik-Dozenten Kogler, der als Sudetendeutscher 1951 mit seiner Familie von der Tschechoslowakai in die DDR übersiedelt. Er stürzt sich voller Elan in den vermeintlichen Fortschritt im Osten. Doch bald schon bemächtigt sich die staatliche Kontrolle der Gefühle und Gedanken. Hinter Anpassungsversuchen wächst Widerstand, der schließlich offen wird - Kogler verliert seinen Job.

Renate Feyl, geboren in Prag, studierte Philosophie und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Von ihr erschienen bei Kiepenheuer & Witsch »Idylle mit Professor« (1988), »Ausharren im Paradies« (1992), »Die profanen Stunden des Glücks« (1996), »Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit« (1999), »Streuverlust« (2004), »Aussicht auf bleibende Helle« (2006) und »Lichter setzen über grellem Grund« (2011).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462309348
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum02.04.2015
Auflage1. Auflage
Seiten480 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2373 Kbytes
Artikel-Nr.1559706
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


zurück

I


Daß ihr das alles einmal passieren könnte, hätte sie sich nie vorstellen können.

Immer war sie aktiv gewesen, besaß das, was man im allgemeinen eine positive Lebenseinstellung nennt, war voller Tatendrang und Unternehmungsgeist, war diejenige, die die Fäden in der Hand behielt und alles um sich herum zu ordnen verstand. Es gab nur weniges, was ihr unerfüllt blieb. Sie hatte einen klugen Mann geheiratet, hatte ein Kind geboren, eine Wohnung eingerichtet, eine Abhandlung über die prästabilierte Harmonie geschrieben, liebte ihren Beruf und war in Fachkreisen anerkannt. Sie hatte auf Symposien gesprochen und auf Versammlungen das Wort ergriffen, hatte Kritik geübt und immer wieder auf die Notwendigkeit von Veränderungen hingewiesen, hatte ihre Möglichkeiten und Freiräume genutzt, um die Dinge voranzubringen, und nun war das Unfaßbare geschehen.

Beim Entlassungsgespräch mußte sie wohl so entsetzt geschaut haben, daß Professor Kramms nichts Besseres einfiel, als ihr ein paar rührend-naive Trostworte mit auf den Weg zu geben: Nun sehen Sie mal Ihre Zukunft nicht so düster, schließlich haben Sie in Ihrem Mann und Ihrer Tochter doch eine schöne Lebensaufgabe.

Daß ausgerechnet Kramms sich zu einem so bemerkenswert intelligenten Rat verstieg, wunderte sie nicht, sondern vervollkommnete bloß das Menschenbild, das sie von den einst führenden Staatsdenkern besaß. Doch die Gewißheit, noch immer diesen hoffnungslosen Traditionalisten ausgeliefert zu sein, die wacker ihre Positionen besetzt hielten, verbesserte ihre Lage nicht. Wer saß, der saß; der war noch dabei und konnte auf das Geschehen Einfluß nehmen. Wer aber draußen war, stand vor verschlossener Tür und mußte lange anklopfen, bis er wieder die Chance erhielt, eintreten zu dürfen.

In den ersten Tagen sah alles noch harmlos aus, denn sie fühlte sich so, als hätte sie vorübergehend das Gastspiel einer deutschen Hausfrau zu geben. Sie räumte und putzte, hängte die Graphiken um, klopfte die Bücher aus und fand, es sei höchste Zeit, daß alles einmal gründlich vom Staub der zurückliegenden Jahre befreit wurde. Auch das Einkaufen rückte in das Zentrum ihrer Gedanken, zumal seit der Währungsunion der Mangel verschwunden und die Fülle in die Kaufhallen eingezogen war. Sie entfaltete einen bisher nicht gekannten Ehrgeiz, in den Geschäften Preise zu vergleichen, um die für sie finanziell günstigste Einkaufsquelle zu erschließen. Aber auch die hatte sie mit ihrem gewohnten Geschick rasch herausgefunden, hatte alle Dienstleistungen erkundet, die den Alltag erleichterten, hatte alles im Überblick, so daß sie ihr Gastspiel am liebsten augenblicks beendet hätte. Doch plötzlich wurde ihr bewußt: Sie war nicht Hausfrau, sie war arbeitslos.

Nie hätte sie gedacht, daß sich die Akademie, diese Ding-werdung allen Fortschritts, jemals auflösen könnte. Sie wußte zwar, daß die Größe ihres Institutes im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Gewicht seiner Leistung stand. Dennoch fragte sie sich im stillen, weshalb die Entlassung ausgerechnet sie traf und nicht die Herren Abteilungs- und Bereichsleiter, nicht den ehemaligen Parteisekretär und nicht den Direktor, der sich mit ungebrochener Selbstüberschätzung noch immer für eine Lichtgestalt der Wissenschaft hielt.

Andere Kollegen befanden sich wenigstens noch im Wartestand oder konnten hoffen, übernommen zu werden. Aber sie war draußen, und die für sie zuständige Stelle hieß das Arbeitsamt.

Je mehr sie über ihre Situation nachdachte, um so unwirklicher schien sie ihr. Sie fragte sich, ob das nicht alles nur ein böser Traum war; ob es sich um einen Zufall oder eine Notwendigkeit, um eine Ausnahme oder die Regel handelte. Sie hatte keine Erklärung dafür, sondern stand dem Ganzen nur betroffen gegenüber. Es kam ihr so vor, als sei sie in einen Winkel des Universums geschleudert; abgehängt, ausrangiert, zum Zuschauen verurteilt. Und alles gerade jetzt, wo die Geschichte einen neuen Anfang nahm.

Katharina fragte sich, womit sie das verdient hatte. Sie, ausgerechnet sie, die weder prominent noch privilegiert war, die auch nicht zu den gesinnungstüchtigen Titelträgern gehörte, nicht zu den Reisekadern zählte, nie einen Orden bekommen hatte und auch zu keinem internationalen Kongreß delegiert worden war; sie, die in ihrem Fachgebiet auf das Ergebnis einer Leistung setzte, das für sich selber sprach - ausgerechnet sie war entlassen worden. Sie konnte es nicht begreifen und fand alles nur ungerecht, abgrundtief ungerecht. Natürlich hatte sie sich gefreut, daß die Wende gekommen und die Mauer gefallen war. Sie hatte sich gefreut, daß diese greisen Gestalten endlich von ihrer selbstgebauten Bühne abtraten, daß diese Machtarroganz ein Ende hatte, wieder Weite in die Enge kam und Luft zum Atmen; daß die Friedhofsstille vorüber war und sie endlich öffentlich sagen konnten, was sie dachten. Sie war glücklich, daß sie angstfrei leben und selbstbestimmt denken konnte. Sie hatte bei allem etwas Befreiendes und Belebendes empfunden, hatte an Demonstrationen teilgenommen, um selber die Wende mit herbeizuführen, hatte dies alles mit Freude, ja geradezu mit Begeisterung getan, als gäbe es für sich selber ein zweites Leben zu entdecken - doch nun fühlte sie sich so, als sei ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden.

Stundenlang telefonierte sie mit ihren gleichfalls entlassenen Kolleginnen, wollte hören, was sie gehört hatten oder zu tun gedachten. Insgeheim hoffte sie auf eine zentrale Maßnahme, die die Politiker für die aufgelösten Institute trafen, denn schließlich konnte man ja nicht Hunderte von Mitarbeitern so ohne weiteres auf die Straße setzen. Andererseits wußte sie, daß die Zeiten vorbei waren, in denen die letzte Weisheit immer von oben kam, und nun die eigene Beweglichkeit gefragt war. Von ihren entlassenen Kolleginnen hörte sie nichts Gutes. Sie hatten sich schon mehrere Male bei westlichen Instituten beworben, doch erfolglos. Andere suchten wie sie, und eine, spezialisiert auf den Kantschen Kausalitätsbegriff, hatte mit ihrem Bruder die Lizenz für eine private Gaststätte erworben.

Katharina kaufte sich täglich vier verschiedene Zeitungen, um die Stellenangebote zu studieren. Doch auch dies ging mit einer fortschreitenden Ernüchterung einher, denn es war die Stunde der Software-Ingenieure und Betriebswirte, der Verkehrsplaner und Datenverarbeiter. Die Chancen für eine promovierte Philosophin standen schlecht. Allerdings wurden Sozialarbeiter gesucht und gut bezahlte Stellen in Reisebüros angeboten. Aber sie wollte in der Wissenschaft bleiben. Sie hatte sich ja schließlich nicht jahrelang auf ein Fachgebiet spezialisiert, um zu der Erkenntnis zu kommen, daß sie mit diesem Wissen nun nichts mehr anfangen konnte. Überdies sträubte sich innerlich alles in ihr, eine Bewerbung zu schreiben, denn sie fürchtete, sie könnte sich wie ihre Kolleginnen eine Absage holen. Sie wollte mit 45 Jahren nicht in die Situation kommen, sich auf einem Bogen Papier anpreisen zu müssen und den Nachweis zu führen, nicht dumm zu sein, das Große Latinum zu haben, vielleicht noch die Grundregeln der Rechtschreibung zu beherrschen und sich im Quellenstudium auszukennen. Dies fand sie nach so langer Berufspraxis demütigend. Außerdem hielt sie sich für die Marktwirtschaft nur bedingt tauglich. Sie verstand es nicht, mit einem Computer umzugehen, und hatte auch kein Verlangen danach. Ihre Englischkenntnisse waren im Dunkel des Gedächtnisses längst versunken. Sie konnte nicht parlieren und blenden, nicht tänzeln und irgendwo dienern. Sie hatte keine Ahnung, wie man in eine Marktlücke springt, und sah für sich auch keine. Sie glaubte inmitten der Veränderungen an ein Kontinuum, hoffte insgeheim, es würde etwas kommen, das ihren Kenntnissen gemäß war; daß sie aufbauen konnte auf dem, was sie wußte, und spürte doch zugleich, wie verstiegen diese Hoffnung war.

Natürlich hätte sie sich längst eine Aufgabe stellen und zu Hause weiter forschen können, zumal ihr inzwischen alle Bibliotheken und Archive offenstanden. Sie hätte Briefe aus dem Nachlaß deutscher Gelehrter herausgeben können, wie es stets ihr Plan gewesen war. Aber auf einmal merkte sie, daß es nur dann einen Antrieb für sie gab, wenn die äußeren Bedingungen gesichert schienen. Inmitten dieser Unsicherheit konnte sie keinen Gedanken fassen. Hätte sie gewußt, wie es mit ihr weitergehen würde, dann wären die Gedanken wie von selber gekommen, und sie wäre begierig auf die Arbeit gewesen. Standen die äußeren Koordinaten fest, konnten die inneren Kräfte sich entfalten. So aber war sie innerlich ganz durcheinander, weil das Äußere nicht mehr stimmte. Sie hatte das Schrittmaß verloren, denn sie sah die Richtung nicht, in die sie hätte gehen können. Bislang hatte sie auch nie etwas um seiner selbst willen getan. Sie war gewohnt, daß alles ein Ziel, alles einen Zweck haben mußte. Es fehlte der Punkt, auf den sie sich zubewegen konnte. Vielleicht fehlte sogar das Verbot, das Unerlaubte und Unerwünschte, das fast wie von selber produktiv machte. Sie hatte sich ja immer solche Forschungsthemen gewählt, die außerhalb zentraler Planvorhaben lagen und darum nicht gefördert, aber wenigstens toleriert wurden.

Doch jetzt, da auch die Geschichte des Geisteslebens von den Tabus befreit war, gab es mit einemmal so viele Möglichkeiten, daß sie gar keine einzige mehr sah und Mühe hatte, den jähen Einbruch der Freiheit gedanklich zu bewältigen. Sie war an das Schrittweise gewohnt, an das Abtrotzen von Zugeständnissen, das erfinderisch und beweglich machte, das zum Verschlüsseln drängte und hinter dem geschriebenen Satz den...
mehr

Autor

Renate Feyl, geboren in Prag, studierte Philosophie und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Von ihr erschienen bei Kiepenheuer & Witsch »Idylle mit Professor« (1988), »Ausharren im Paradies« (1992), »Die profanen Stunden des Glücks« (1996), »Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit« (1999), »Streuverlust« (2004), »Aussicht auf bleibende Helle« (2006) und »Lichter setzen über grellem Grund« (2011).