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Ende der Saison

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.04.20151. Auflage
Ende der Saison in einem kleinen toskanischen Ort: Dagmar Leupolds Roman erzählt flüchtige Geschichten, in denen die Figuren wie in einem Mobile vor der Landschaft tanzen. Und der Leser reibt sich wie nach einem seltsamen Traum verwundert die Augen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dagmar Leupold, Schriftstellerin, wurde 1955 in Niederlahnstein geboren. Studium der Komparatistik in Marburg, Tübingen und New York. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den aspekte-Literaturpreis für das beste Prosa-Debüt 1992.
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Produkt

KlappentextEnde der Saison in einem kleinen toskanischen Ort: Dagmar Leupolds Roman erzählt flüchtige Geschichten, in denen die Figuren wie in einem Mobile vor der Landschaft tanzen. Und der Leser reibt sich wie nach einem seltsamen Traum verwundert die Augen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dagmar Leupold, Schriftstellerin, wurde 1955 in Niederlahnstein geboren. Studium der Komparatistik in Marburg, Tübingen und New York. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den aspekte-Literaturpreis für das beste Prosa-Debüt 1992.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105600863
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum15.04.2015
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse772 Kbytes
Artikel-Nr.1692766
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Der Nachfolger

Der Mann fiel auf.

Obwohl es nicht wenige deutsche Touristen waren, die alljährlich die Toskana bereisten, erinnerten sich viele Bewohner Monticianos bei seinem zweiten Auftauchen sofort daran, ihn schon einmal gesehen zu haben. Das lag vor allem an seinem schulterlangen roten Haar, das wie aus innerer Übereinstimmung mit einem endlich ihm gemäßen Licht kupferfarben sprühte. Irgendeiner nannte ihn deshalb Il santo, und auch als im dritten Jahr seiner Wiederkehr längst alle wußten, daß er Hannes hieß, mied man das unbequeme H, und es blieb bei Santo.

Santo erledigte in Monticiano nur seine Einkäufe, zu wohnen schien er, Gerüchten zufolge, in Chiusdino. Er sprach leidlich Italienisch und ersetzte die fehlenden Vokabeln mit einem Lachen, das beinahe so auffiel wie sein Haar. Ein Lachen über das ganze Gesicht, eine Absage an die Sparsamkeit: Die Augen wurden schmal und doch, auf verwirrende Weise, größer, die Ohren bewegten sich mit der gestrafften Kopfhaut nach hinten und schienen den jeweiligen Gesprächspartner zu beherztem Sprechen einzuladen, die Lippen und die Zähne schimmerten vor Wißbegier oder einfach nur vor Freude an einem kleinen Gedankenaustausch. Genau in der Stirnmitte schwoll eine Ader sichtbar an, einziger Hinweis darauf, daß das Lachen auch anstrengte oder mit einer Anteilnahme einherging, die bei den meisten ein ernstes Gesicht erfordert hätte.

Santos Alter war schwer zu schätzen, dreißig, vielleicht auch schon vierzig - alle Falten wahrscheinlich Lachfalten; nicht im Dienst der Verleugnung des Alterns, sondern, viel radikaler, Zeichen seiner Abschaffung.

Gespräche begannen meist mit einer Frage oder Erkundigung Santos, und kaum war die Antwort gegeben, schaute Santo dem Gesprächspartner mit solch gesammelter Aufmerksamkeit ins Gesicht, daß dieser sich wie aufgesogen, ja einverleibt fühlte. Aufregende Nähe war das, unabweisbar, der Inbegriff von Werbung, in der unversehens die eigene Person zum Brennpunkt einer von beiden geteilten Begierde wurde. Den Männern setzte es zu, sich plötzlich auf Einladung Santos hin selbst zu lieben, ihre Hände wurden unruhig, rührten heftig in den kleinen Espressotassen oder schlugen mit zusammengerollten Zeitungen gegen die Oberschenkel. Aber überwiegend war es wohltuend, vermuten zu dürfen, daß die eigene Haut etwas Liebenswertes umschloß. So ging es mit Männern und Frauen, Alten wie Jungen. Bloß kleine Kinder mied er - sie wollten sein Haar berühren und selbst Fragen stellen und waren auch ganz ohne Nachhilfe der Meinung, daß sie recht daran taten, sich als umworbenen Mittelpunkt des Universums zu sehen.

Wenn in den Bars oder in der Casa del Popolo von Santo gesprochen wurde, täglich war das, dann stellte man verwundert fest, daß man beinahe nichts über ihn wußte, obwohl er niemals die Antwort auf Fragen wie »Woher kommst du?« oder »Womit verdienst du dein Geld?« verweigerte. Er hatte eine Art zu antworten, die in der Umleitung der Frage bestand. Er sagte beispielsweise »aus Deutschlands Hauptstadt«, und bevor jemand fragen konnte, welcher, der neuen oder der alten, hatte er bereits zurückgefragt, wie lang es eigentlich dauere, auf der Via Cassia nach Rom zu fahren. Und schon war man mitten in einem Gespräch über die alten Handelswege, die Massetana und die Maremmana und ihren Schnittpunkt, auf dem man sich kurioserweise gerade hier, in dieser Bar, befände. (Ob das stimmte, überprüfte niemand.) Dann bestellte jemand einen Kamillentee, man kam auf Magenverstimmung, die gastritische Großmutter, Erbe, Steuern, die Regierung. Unter Plaudereien mit Santo wurde es leicht Abend. Santos Hände mit den leicht verdickten Fingerkuppen - Gaia, die siebenjährige Tochter des Barbetreibers, fand, sie sahen aus wie die von E.T. - begleiteten und kommentierten das Gespräch. Sie fuhren über den Oberarm des Gegenüber, tippten leicht an dessen Brust, umfaßten seinen Ellbogen, ohne Nachdruck, flüchtig, wie im Gehen, schon halb verabschiedet. Wenn das Gespräch gemächlich wie nachgeschenkte Tropfen versiegte, nahm Santo seinen Stoffbeutel, lachte in die Runde und ging mit gebeugtem Nacken durch die Eingangstür. Dabei war er nicht groß.

Als Gaia ihn eines späten Nachmittags in einer der schmalen, auch tagsüber schummrigen Straßen sah, die in den Marktplatz mündeten, verschlang sein großer Mund hungrig die zwischen dunklen Kleidungsstücken phosphoreszierend weiße Brust einer zwischen Mauer und seinen Körper gedrängten Frau, von der Gaia außer kastanienbraunen langen Haaren nichts sah. Ihre Arme hielt sie hocherhoben, die Handgelenke verschränkt, den Kopf geneigt. Gaia erschrak, denn es erinnerte sie an den ans Kreuz genagelten Christus, und als die Frau zu seufzen begann, so als würde ihr Unbeschreibliches zustoßen, Glück oder Unglück, das ließ sich seltsamerweise gar nicht bestimmen, da rannte Gaia quer über den Marktplatz und mit solchem Schwung durch die Perlenschnüre der Türöffnung der Bar ihres Vaters, daß diese stoben wie nach einer Sturmböe.

»Santo beißt!« schrie sie, »Santo beißt!«

Manche verschluckten sich vor Lachen, Gaias Großmutter unterbrach das Einräumen der Spülmaschine, um sich die Augen zu trocknen, und alle machten Gaia Komplimente. Die stand fassungslos mit durchgedrückten Knien und vor Aufregung fliegendem Haar. Nachdem sie jeden einzelnen der Runde gemustert hatte, drehte sie sich auf dem Absatz um und ging zu dem Flipperautomaten im Hinterraum der Bar. Man hörte den Abzugshebel knallen und dann ein Klingelkonzert zorniger Treffer.

Donatella, Gaias siebzehnjährige Schwester, kam mit einem Eimer in der Hand durch die Schwingtür und begann, Sägespäne auf den Boden zu verteilen.

Anna Lippi, ihre Mutter, eine füllige Frau mit butterfarbener Haut und kräftigen, schönen Beinen wurde laut: »Die Sonne scheint doch! Wo hast du deinen Verstand?«

Ungerührt machte Donatella weiter und sagte langsam, als hätte sie es mit einem uneinsichtigen Kind zu tun: »Es wird regnen, eher als du denkst.«

Die Gäste, die weit ausgeschnittene Schuhe trugen, hoben mit vorwurfsvollen Blicken ihre Füße und beförderten verirrte Späne wieder hinaus. Als ein Windstoß sie im Eingangsbereich aufwirbelte und in den letzten Strahlen der schräg einfallenden Sonne zum Tanzen brachte, riß Anna Lippi ihrer Tochter den Eimer aus der Hand und brachte ihn in Sicherheit.

Sie war froh, daß Santo der Auseinandersetzung nicht beigewohnt hatte, in seinen graugrün gesprenkelten Augen nistete ihrer Meinung noch etwas anderes als nur Nächstenliebe, aber sie hatte keinen Namen dafür.

Wer genau hinsah, konnte in der Ferne, wo der Himmel sich dem Meer zuliebe und der fetten orangenen Sonne zum Trotz zarter zu färben schien, erkennen, daß ein Wetterumschwung bevorstand: Statt durchsichtiger war das Blau gelblich geworden, wankelmütig. Im Grunde war der Regen willkommen, er hatte im September, nach dem Ende der Reisesaison, etwas von einem Großreinemachen, wie es ein- oder zweimal im Jahr ansteht, fand Anna Lippi. Sie sagte aber nichts dergleichen, als sie dem Arzt, Doktor Nardi, der jeden Tag um diese Zeit seinen Espresso trank, die kleine Tasse und die große Zuckerschale mit gewohnter Liebenswürdigkeit zuschob. Nardi wurde wegen seines traurigen, der Schwerkraft willenlos ergebenen Schnurrbarts Einstein genannt.

Ihm schmeichelte das sehr, denn er führte die Namensgebung selbstverständlich auf andere Gemeinsamkeiten zurück. Aus demselben Grund wehrte er sich auch kaum gegen den von Anna Lippi verliehenen Doktortitel. In den kahlen, unwirtlichen Räumen seiner Praxis hing, neben einigen Reiseagentur-Postern von Schloß Neuschwanstein, dem Kölner Dom und einer Luftaufnahme des Oktoberfests, das berühmte Porträt Einsteins mit herausgestreckter Zunge. Nardi war Allgemeinmediziner, hatte sich aber im Lauf seiner Monticianer Jahre den Ruf erworben, auf Frauenleiden spezialisiert zu sein. Und es war unbestreitbar, daß er gern zuhörte, verständnisvoll nachfragte und den größten Teil für sich behielt.

Er genoß es, abends in der Bar der Familie Lippi den ersten Espresso schweigend zu trinken. Wenn Donatella hinter der Theke bediente, fiel es ihm noch leichter, sich an den laut geführten Gesprächen nicht zu beteiligen, denn Donatellas sprödes, von ihrer eigenen Tüchtigkeit angeödetes Hantieren mit allen Hebeln, Tassen und Flaschen war ihm ein Augenschmaus. Sie blies, kaugummikauend, mit vorgestülpter Unterlippe Haarsträhnen aus dem Gesicht, und Nardi atmete gierig die Pfefferminzbrise ein.

Sie war nicht annähernd so freundlich zu den Gästen wie ihre Mutter, und das erhöhte ihren Reiz so, daß er an manchem Abend nicht länger stillsitzen konnte und im Billardzimmer mit nervösem Queue die Kugeln jagte.

Donatella tat alles Notwendige - auch sie schob die Zuckerschale näher -, aber ohne das Lächeln derjenigen, die im Bewußtsein ihrer Gastfreundschaft schwelgt. Sie tat es ohne Festlichkeit, ohne Beschönigung, und das gab ihrem jungen Gesicht etwas Störrisches, Reifes, Wissendes - es war zum Verzweifeln! Wenn Nardi die Worte fehlten, fand er um so mehr. Stunden vergingen mit derlei lautlosen, gelegentlich sehr analytischen Zwiegesprächen, ohne daß es ihm gelungen wäre, dem Geheimnis dieser Anziehung auf die Spur zu kommen.

An diesem Abend sah er sie allerdings nur flüchtig, bevor die Schwingtür, die zur Küche führte, wieder zuschlug. Sie grüßte mit einem kurzen Nicken, und wie üblich sah sie dabei eher grimmig aus. Über der Nasenwurzel wuchsen ihre Brauen zusammen, auch das entzückte ihn. Entschlossen zu schwärmen, genoß er selbst die Beliebigkeit der Begründungen.

Gaia, deren Zorn sich mit jedem Punktgewinn...
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