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Die Zukunft der Vergangenheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.04.20151. Auflage
Über kein anderes Thema ist in der Geschichte der Bundesrepublik so viel diskutiert worden wie über den Nationalsozialismus. Kein anderes Thema hat die Gemüter so erhitzt, die Generationen entzweit, das politische Selbstverständnis geprägt. Das gilt von der Schuld-Debatte nach 1945 bis zum Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Helmut König reflektiert unter anderem die Frage, was heute noch wichtig ist, wenn über Nationalsozialismus debattiert wird, und wagt es, die besondere Weise deutscher »Vergangenheitsbewältigung« im vergleichenden Kontext von politischen Systemwechseln und Demokratisierungen zu interpretieren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Helmut König, geboren 1950, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in München und Berlin (FU/OSI), 1979 Dr. phil., 1989 Habilitation, danach Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen TH Aachen, Mitherausgeber der Zeitschrift 'Leviathan'.
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Produkt

KlappentextÜber kein anderes Thema ist in der Geschichte der Bundesrepublik so viel diskutiert worden wie über den Nationalsozialismus. Kein anderes Thema hat die Gemüter so erhitzt, die Generationen entzweit, das politische Selbstverständnis geprägt. Das gilt von der Schuld-Debatte nach 1945 bis zum Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Helmut König reflektiert unter anderem die Frage, was heute noch wichtig ist, wenn über Nationalsozialismus debattiert wird, und wagt es, die besondere Weise deutscher »Vergangenheitsbewältigung« im vergleichenden Kontext von politischen Systemwechseln und Demokratisierungen zu interpretieren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Helmut König, geboren 1950, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in München und Berlin (FU/OSI), 1979 Dr. phil., 1989 Habilitation, danach Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen TH Aachen, Mitherausgeber der Zeitschrift 'Leviathan'.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105601112
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum15.04.2015
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1692904
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

I. Bundesrepublik und NS-Vergangenheit

1. Entwicklungslinien


Der negative Bezug auf die NS-Vergangenheit ist für das politische Bewußtsein der Bundesrepublik von Anfang an bestimmend gewesen. Die Varianten und Formen dieses negativen Bezugs sind deutlich voneinander unterschieden. Die Behauptung, daß wir seit den 90er Jahren in eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit eingetreten sind, läßt sich nur plausibel machen, wenn die vorhergehenden Phasen mindestens in ihren Grundzügen vorgestellt worden sind.


Vier Phasen

Die Geschichte der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik läßt sich in vier Phasen unterteilen:


Die Nachkriegszeit. Damit ist die Zeit zwischen dem Ende des Krieges und der Gründung der Bundesrepublik gemeint. Charakteristisch für diese Phase ist die sogenannte Schuld-Debatte, in der Nationalsozialismus, Krieg und Vernichtung unter stark moralischen und abstrakten Vorzeichen erörtert wurden.


Die 50er Jahre. Das ist die wesentliche Zeit der Adenauer-Ära. Die Vergangenheitsbewältigung in dieser Phase ist durch eine Doppelstrategie gekennzeichnet. Täter und Parteigänger der NS-Herrschaft werden auf dem Wege von Amnestie und Amnesie in die neue Demokratie integriert, aber zugleich zieht die junge Demokratie der Bundesrepublik in ihrer Politik und in ihrem Selbstbild gegenüber dem Nationalsozialismus einen klaren Trennungsstrich.


Die »lange Welle« zwischen 1960 und 1990. In dieser Phase wird der negative Bezug auf die NS-Vergangenheit und insbesondere auf den Holocaust zum zentralen Deutungsmuster der politischen Kultur in der Bundesrepublik.


Die neue Bundesrepublik. Auch nach der Herstellung der deutschen Einheit nimmt die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust breiten Raum ein, zugleich aber sind die Koordinaten der Erinnerung grundlegenden Veränderungen unterworfen. Aus einem Phänomen der Zeitgeschichte wird der Nationalsozialismus mehr und mehr zu einem Ereignis der Geschichte.



Diese Einteilung dient nur der groben Orientierung. Irritierend wirkt sicherlich die sehr unterschiedliche Dauer der verschiedenen Phasen. Natürlich kann man auch andere Einschnitte und Periodisierungen vornehmen, und man kann weitere Unterteilungen und Differenzierungen ins Auge fassen. Es versteht sich ferner, daß die jeweiligen Phasen nicht vom Himmel fallen, sondern sich vor ihrem Beginn ankündigen und nach ihrem Ende weiterwirken.

Konsens dürfte sich am leichtesten über die Festlegung der ersten und der zweiten Phase herstellen lassen. Umstrittener ist die »lange Welle« von 1960 bis 1990. Der Einwand wird lauten, diese dreißig Jahre umfaßten so viel Uneinheitliches, daß sie nicht gut in einer einzigen Phase zusammengezogen werden können. Sie beginnt mit der Zementierung der Spaltung Deutschlands durch den Mauerbau und endet mit der Herstellung der deutschen Einheit; sie umfaßt die Spätphase der Regierung Adenauer, die Zeit der Großen Koalition, die sozialdemokratischen Bundeskanzler Brandt und Schmidt und die Regierungszeit Helmut Kohls; in diese Zeit fallen die spektakuläre Revolte der Außerparlamentarischen Opposition, der linke Terrorismus, der Historikerstreit, die Ausstrahlung des Holocaust-Films und die Rede von Richard von Weizsäcker im Jahre 1985.

Bei aller politischen Uneinheitlichkeit und bei allem Spannungsreichtum dieser Phase erscheint sie aber im Blick auf das Verhältnis zur NS-Vergangenheit doch als eine große Einheit. So zentral wie in dieser langen 30jährigen Welle nach 1960 ist die NS-Vergangenheit nie zuvor im politischen Bewußtsein der Bundesrepublik gewesen. Vor allem war das Thema in dieser Zeit das wichtigste Element im Konflikt zwischen den Generationen. Der Elterngeneration wurden nicht nur die Untaten des NS-Regimes zur Last gelegt, sondern ihr wurde auch noch der Vorwurf gemacht, daß sie diese Taten verleugnet und verdrängt hatte. In dieser »langen Welle« wurde der Bezug auf die NS-Vergangenheit und den Holocaust nach und nach das Thema, das konkurrenzlos das Feld der politischen Kultur in der Bundesrepublik beherrschte.

In der ersten Phase vor der Gründung der Bundesrepublik stand die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit unter den Vorzeichen nebulöser moralischer und religiöser Kategorien. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 wurde in eine politik- und geschichtsjenseitige Welt verlegt. Für die zweite Phase, die 50er Jahre, war die Integration der Täter, Mitläufer und Nutznießer in das politische System der neuen Bundesrepublik bezeichnend bei gleichzeitigem vollständigen Bruch mit Ideologie und Praxis des NS-Regimes im offiziellen Selbstverständnis der Bundesrepublik. In der dritten Phase wurde die Erinnerung an Nationalsozialismus und Judenvernichtung zum Zentrum des politischen Bewußtseins in der Bundesrepublik. Mit dem Ende der sozialistischen Systeme in Osteuropa und der Herstellung der deutschen Einheit hat die vierte Phase in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit begonnen. Für sie ist der Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme und das dadurch bewirkte Hinzutreten einer zweiten diktatorischen Vergangenheit, die zur Bewältigung ansteht, nicht die einzige Ursache. Hinzu kommt vor allem, daß die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seitdem nicht mehr in den Koordinaten eines familiären oder intergenerationellen Dramas stattfinden kann. Mit dem Altern der 68er Generation, von der die »lange Welle« am nachdrücklichsten geprägt wurde, veraltet zugleich die psychoanalytische Verdrängungstheorie, die dreißig Jahre lang das vorherrschende Narrativ für den Umgang der Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit gewesen ist. Sie wird in den 90er Jahren von einer funktionalistischen Gedächtnistheorie abgelöst, die auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurückgeht. - Sehen wir uns die einzelnen Phasen genauer an.

Nachkriegszeit: Moral statt Revolution

In der nüchternen Sprache der Sozialwissenschaften ist das Problem, um das es 1945 ging, leicht zu beschreiben. Wir haben es in Deutschland mit einem extremen Fall politischen Wandels unter den Bedingungen eines gerade von den Alliierten siegreich zu Ende gebrachten Krieges gegen das größte Mordregime der Geschichte zu tun. In einem Wort zusammengezogen: Es geht um Systemwechsel, um den Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Das Problem ist, wie nach der politischen und moralischen Katastrophe ein neuer Anfang gemacht werden kann.

Mit Hilfe von drei einfachen Fragen läßt sich die Aufgabe modellhaft näher charakterisieren. Erstens geht es um den Umfang der notwendigen Änderungen, also um die Frage, was alles geändert werden muß, damit wirklich der Übergang von der Diktatur zur Demokratie zustande kommt. Was gehört dazu, einen neuen Anfang zu machen? Reicht die Neubegründung der politischen Institutionen, also die Neueinrichtung von Parteien, Parlamenten, Wahlen, Gewaltenteilung, freier Presse, demokratischem Bildungssystem usw? Oder muß der Neuanfang z.B. auch die Produktion grundlegend anders und neu organisieren? Und welche Bedeutung kommt dem politischen Bewußtsein für diesen Neubeginn zu?

Zweitens geht es um die Frage nach dem Handlungssubjekt. Wer soll und kann ändern, was geändert werden muß? Wer bestimmt, was zu ändern und wie es zu ändern ist? Wer also sind die Handelnden, die Akteure und Träger der Veränderung? Wer macht sich oder wird (von wem?) mit welcher Legitimation zu diesem Subjekt gemacht?

Drittens schließlich geht es um die Frage nach dem Modus, in dem die Änderungen herbeigeführt werden. Wie, mit Hilfe welcher Mittel und Wege soll geändert werden, was zur Änderung ansteht? Mit revolutionärer Gewalt oder mit den zivileren Mitteln der Politik, also mit dem Einsatz von Gesetzen, Programmen und Geld? Und insbesondere: Wie verfährt man mit den Tätern, Anhängern, Nutznießern und Mitläufern des alten Regimes?

Die Antwort auf die zweite Frage ist die leichteste und folgenreichste: Ein deutsches politisches Handlungssubjekt gab es 1945 nicht. Es waren die alliierten Besatzungsmächte, die den Umfang der Änderungen festlegten und bestimmten, wie diese Änderungen herbeigeführt werden sollten.

Für die Beantwortung der Frage nach dem Umfang und den Dimensionen der Änderungen ist die Auffassung über die Ursachen des Nationalsozialismus entscheidend. Je nach der Faschismustheorie, die man favorisiert, fallen die Änderungsvorschläge aus. Im Jahre 1945 gab es mindestens eine marxistisch-sozialistische und eine bürgerlich-demokratische Version. Jene beruhte darauf, daß eine sozialistische Gesellschaftsordnung mit Sicherheit den Aufstieg des Faschismus unmöglich gemacht hätte, diese hingegen behauptete, daß eine funktional effektive und wertbezogene parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild trotz Wirtschaftskrise den Nationalsozialismus nicht zur Macht hätte gelangen lassen.

In diesem Sinn knüpfte das Grundgesetz der Bundesrepublik an die negativen Erfahrungen der zusammenbrechenden Republik an, vor allem in der Beseitigung der Präsidialkompetenzen des Präsidenten der Weimarer Republik, der Einrichtung des konstruktiven Mißtrauensvotums,...

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Autor

Helmut König, geboren 1950, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in München und Berlin (FU/OSI), 1979 Dr. phil., 1989 Habilitation, danach Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen TH Aachen, Mitherausgeber der Zeitschrift "Leviathan".