Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Nördlich der Mondberge

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am11.05.20151. Auflage
»Prosa, wie mit einem rostigen Nagel auf eine Kanne geritzt« The New York Times Eine Frau um die dreißig wird nach zehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen und erkämpft sich einen Platz in der Gesellschaft. Ein literarisches Meisterwerk, das von der Kritik international als beeindruckende Neuentdeckung gefeiert wird. Mehr als einen neuen Namen besitzt Louise Adler, genannt Lulu, nicht, als sie nach zehn Jahren endlich in die Freiheit entlassen wird. Mit Gelegenheitsjobs hält sie sich über Wasser, doch brechen sich die Erinnerungen an Kindheit und Jugend immer wieder Bahn: an die egozentrische Mutter und den gewalttätigen Vater, an die erste Liebe und Zusammenbrüche. Als Lulu Wiedergutmachung für die abgesessene Zeit im Gefängnis erhält, reist sie an den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit, die Mondberge in Zentralafrika. In dieser großartigen Landschaft versucht sie, die Teile ihrer zerrütteten Seele wieder zusammenzusetzen. I.J. Kay ist ein besonderer Roman gelungen, der sprachlich an William Faulkner, in der Kompromisslosigkeit seiner Frauenfigur an Stieg Larsson und in seiner Unbarmherzigkeit an Sarah Kane erinnert und doch etwas ganz Eigenes ist: ein großartiger Text über ein Leben jenseits der gesellschaftlichen Ordnung.

I. J. Kay (der Name ist ein Pseudonym) wurde 1961 in Suffolk geboren. Sie lebt in Bristol und Gambia und am liebsten auf einem Boot, mit dem sie schreibend die Wasserstraßen Englands bereist. »Nördlich der Mondberge« ist ihr erster Roman; er wurde u. a. mit dem Authors' Club Best First Novel Award 2013 ausgezeichnet und von der englischen und amerikanischen Kritik gefeiert.
mehr

Produkt

Klappentext»Prosa, wie mit einem rostigen Nagel auf eine Kanne geritzt« The New York Times Eine Frau um die dreißig wird nach zehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen und erkämpft sich einen Platz in der Gesellschaft. Ein literarisches Meisterwerk, das von der Kritik international als beeindruckende Neuentdeckung gefeiert wird. Mehr als einen neuen Namen besitzt Louise Adler, genannt Lulu, nicht, als sie nach zehn Jahren endlich in die Freiheit entlassen wird. Mit Gelegenheitsjobs hält sie sich über Wasser, doch brechen sich die Erinnerungen an Kindheit und Jugend immer wieder Bahn: an die egozentrische Mutter und den gewalttätigen Vater, an die erste Liebe und Zusammenbrüche. Als Lulu Wiedergutmachung für die abgesessene Zeit im Gefängnis erhält, reist sie an den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit, die Mondberge in Zentralafrika. In dieser großartigen Landschaft versucht sie, die Teile ihrer zerrütteten Seele wieder zusammenzusetzen. I.J. Kay ist ein besonderer Roman gelungen, der sprachlich an William Faulkner, in der Kompromisslosigkeit seiner Frauenfigur an Stieg Larsson und in seiner Unbarmherzigkeit an Sarah Kane erinnert und doch etwas ganz Eigenes ist: ein großartiger Text über ein Leben jenseits der gesellschaftlichen Ordnung.

I. J. Kay (der Name ist ein Pseudonym) wurde 1961 in Suffolk geboren. Sie lebt in Bristol und Gambia und am liebsten auf einem Boot, mit dem sie schreibend die Wasserstraßen Englands bereist. »Nördlich der Mondberge« ist ihr erster Roman; er wurde u. a. mit dem Authors' Club Best First Novel Award 2013 ausgezeichnet und von der englischen und amerikanischen Kritik gefeiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462309201
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum11.05.2015
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse1608 Kbytes
Artikel-Nr.1695276
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


zurück

Ouverture und Anfänger



 

 

 

 

 

 

Drei Schlüssel: einer für den Haupteingang, einer für den Briefkasten an der Hauswand und einer für meine braune Wohnungstür mit den durch Fausthiebe und Brecheisen verursachten Dellen und Kratzern rund ums Schloss. Das würde man nicht erwarten, wenn man das Gebäude von außen sieht: ein altes, hufeisenförmiges Pfarrhaus, groß, imposant, ein mit Kies aufgeschütteter Parkplatz an der Vorderseite. Seitlich, zur Straße hin, liegt ein Park. Na ja, eher ein umzäuntes Rasenstück, auf dem ein paar alte Bäume stehen. Früher hat dieser Teil mal zum Pfarrhaus gehört, jetzt stehen da eine Bank und eine Rutsche, und wenn man lange genug wartet, kommt bestimmt mal ein Vogel vorbei. Der Park wird vor allem von Hundebesitzern und Heroinsüchtigen benutzt, Leuten also, denen die Hundescheiße und die weggeworfenen Spritzen egal sind. Ich habe nie verstanden, was Menschen und Drogen, Menschen und Hunde aneinander bindet. Ich wollte immer einen richtigen Freund haben.

 

Die Türklingel schrillt grausam laut und durchdringend. Ich schlittere in den Flur und nehme den Hörer der Gegensprechanlage ab. Hoffentlich ist es Tim von der Töpferei; er hat gesagt, dass er ein paar Sachen vorbeibringen will.

»Hallo?«, frage ich.

»Eilzustellung«, sagt Tim. »Schlafsack, Kocher, Nähmaschine.«

Das ist nett von ihm. Ich arbeite dreimal in der Woche ehrenamtlich in der Töpferei; dort kann ich mich ein bisschen nützlich machen.

»Komm hoch, Tim«, sage ich.

Ich drücke den Summer und gehe ihm im Treppenhaus entgegen. Das Pfarrhaus gehört jetzt einer Wohnungsbaugesellschaft. Die hat es in Zweizimmerwohnungen umgewandelt, schlechte Zweizimmerwohnungen. Genau das Richtige für Leute, die resozialisiert werden sollen.

»Ich sehe, was du meinst«, schreit Tim.

Er sieht gar nichts. In meinem Flur bleibt er stocksteif stehen, damit seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnen können. Kopfschmerzmusik wummert durch den Flur.

»Ich habe eingebauten Surround-Sound«, schreie ich.

Es ist ein heißer, sonniger Juliabend, aber die Wohnung wirkt wie eine Höhle. Niedrige Decken verstärken den dröhnenden Echoeffekt und das Kältegefühl. Das Badezimmer hat kein Fenster, nur einen Ventilator, der gleichzeitig mit dem Licht angeht - vorausgesetzt, die Stütze ist rechtzeitig eingetroffen; vorausgesetzt, man kann sich elektrischen Strom leisten. Im Schlafzimmer liegt eine verklumpte Futonmatratze, die ich aus einem Müllcontainer am anderen Ende der Straße gezogen und auf dem Kopf zwei Stockwerke hochgeschleppt habe. Das rechteckige Wohnzimmer ist riesig. Die schmutzigen, in einem faden Grünton gestrichenen Wände sind mit Löchern und Kaffeeflecken übersät. Auf der größten Wand prangt das Wort »Fotze«. Senffarbener Lack beißt sich mit den grauen Bodenfliesen, und die schwarzen Türen beißen zurück. Eine hässlichere Wohnung habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. Tim begutachtet sie mit in die Hüften gestemmten Händen.

»Man könnte was draus machen«, schreit er. »Du könntest sie weiß streichen, um sie aufzuhellen.«

Aber ich weiß, dass weiße Farbe in schlechtem Licht immer grau wirkt. Die Fenster sind klein und hoch, und Schimmel und Kondenswasser haben die für Pfarrhäuser typischen Steinlaibungen schwarz verfärbt. Der Baum vor dem Fenster hält den Großteil des Tageslichts ab.

»Der Baum ist schön«, sage ich.

Eine breitblättrige Limette. Die leuchtenden weichen Blätter pressen sich gegen die Fenster - im Gegenlicht wirken die Scheiben fast surreal, wie Buntglas. Die Wohnungsbaugesellschaft hat mir zwecks Wohnungsverschönerung einen Gutschein im Wert von dreißig Pfund spendiert; die Hälfte habe ich für Spachtelmasse und Reinigungsmittel ausgegeben.

»Sie hat eine gute Größe, Tim«, sage ich.

Er drückt auf den Lichtschalter im Wohnzimmer, aber ich habe keinen Strom.

»Strom läuft über einen Münzapparat; meine Stütze ist nicht gekommen.«

»Ich kann dir einen Fünfer leihen«, sagt er.

Aber wenn es nicht unbedingt sein muss, schulde ich lieber niemandem etwas.

»Stinkt es hier?«, will ich wissen.

Ich weiß, dass es nach etwas Bestimmtem stinkt, ich kann nur nicht genau sagen, nach was. Die Küche besteht aus zwei Einbauschränken mit Lücken für Herd und Kühlschrank. Eine begehbare Speisekammer gibt es auch.

»Du hast schon mal gut angefangen«, sagt Tim.

Den Küchenboden musste ich mit Bleiche und Zeitungspapier und Tapetenschaber reinigen. Für den Wasserkocher fehlt der Strom, aber Tim hat einen Campingkocher mitgebracht. Es gibt weder Tee noch Kaffee, weder Milch noch Zucker, denn meine Stütze ist nicht gekommen.

»Wie wär´s mit einer schönen Tasse heißes Wasser?«, frage ich.

Er muss wieder weg. Mit einer Doppelfurche zwischen den Augenbrauen sagt er mir, dass seine Tochter und seine schöne schizophrene Frau im Auto warten. Die Tochter geht noch zur Schule und ist schwanger. Ich danke ihm für den geliehenen Campingkocher, den Schlafsack und die Nähmaschine. Und für den Anorak, den er nicht wieder zurückhaben will.

Als Tim weg ist, merke ich, dass ich mich am liebsten auf den Boden setzen und losschluchzen würde, aber weil ich zu müde bin, lasse ich es sein. Ich fische einen alten Teebeutel aus dem Müll, setze mich im Wohnzimmer auf meinen Eimer und bringe auf Tims Gasbrenner Wasser zum Kochen. Die wummernden Technobässe aus dem unteren Stockwerk lassen den Topf vibrieren. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Enttäuschung und muss daran denken, wie viel Zeit es mich gekostet hat, hierherzukommen.

 

Bei meiner Freilassung überweist mich der Richter, fast erdrückt vom Gewicht seiner eigenen Weisheit, an ein Heim in Reading, wo ich eine Zeit lang bleiben kann. In dem Heim wohnen Leute, die auf Kaution freigekommen sind.

»Bitte, Euer Ehren«, will ich sagen, »überallhin, nur nicht nach Reading.« Ich sage nichts, und so wird mir eine Reiseerlaubnis ausgestellt. Die Strecke vom Gericht zum Bahnhof gehe ich zu Fuß. Es ist ein strahlender, aber bitterkalter Tag - und ich habe meinen Mantel nicht. Im Bahnsteigcafé warte ich auf meinen Zug. Der Mann hinter dem Tresen hat alle Hände voll zu tun. Als es ruhiger wird, kommt er zu mir.

»Kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragt er. »Sie sind ja schon ein Weilchen hier.«

»Ich warte auf den Zug nach Reading.«

»Ein paar haben Sie schon verpasst. In der nächsten Stunde kommt keiner mehr.«

»Ich habe Zeit«, sage ich.

»Kann ich Ihnen etwas bringen?«

»Ehrlich gesagt, ich komme gerade aus dem Gefängnis.«

Das überrascht ihn.

»Ich habe ein Pfund, aber ich glaube, diese Sorte von Scheinen ist nicht mehr im Umlauf.« Ich zeigte ihm den Geldschein. »Und ich habe eine Einzelfahrkarte nach Reading.«

Ich habe eine Plastiktüte mit Irenes Briefen bei mir, und in meinem linken Ohr habe ich ein zugewachsenes Loch. Das ist mein ganzer Besitz. Der Mann geht zum Tresen und kommt mit einem Becher Kaffee und mehreren Schinkenbrötchen und Schokoriegeln zurück.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagt er.

»Vielen Dank«, sage ich.

Er zieht einen Stuhl heran und setzt sich zu mir.

»Wo kommst du her?«, fragt er. »Du klingst ein bisschen nach der Gegend um London.«

Ich zucke die Achseln: Ich klinge vermutlich ein bisschen nach dem Gefängnis von Holloway, ein kleines bisschen nach Ladbroke Grove, nach Suffolk, nach Yorkshire Moor, nach den East Midlands, nach West Country. Ein kleines bisschen nach allem und nichts. Er legt etwas losen Tabak vor mich auf den Tisch.

»Ich bin Bernie«, sagt er. »Weswegen haben sie dich denn eingebuchtet?«

Durch die Glasscheibe sehe ich Menschen, die sich auf dem Bahnsteig sammeln. Sie tragen Hüte und sind mit Wintermänteln und Schals vermummt.

»Schön bunt, was?«, sage ich.

 

In Reading bekomme ich ein Einzelzimmer, aber die dreißig anderen Insassen sind nur halb so alt wie ich. Sie warten darauf, in den Knast geschickt zu werden, und ich komme gerade raus. Sie wissen nicht, was sie von mir halten sollen, etwas stimmt nicht mit mir. Sie kommen zu dem Schluss, dass ich eine verdeckte Polizeiermittlerin bin. Wenn ich den Gemeinschaftsraum betrete, wird es still. Eines warmen Frühlingstages stoße ich in der Eingangshalle auf Heath. Er besucht gerade einen Kumpel, den sie auf Kaution freigelassen haben. Seit elf Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen. Seine rot-grüne Lederjacke ist mit der Zeit verblasst, sie ist jetzt graurosa, aber die Neun auf der Rückseite ist noch genauso auffallend und schwarz wie damals. Er scheint keinen Tag gealtert zu sein, und im Profil ist sein Gesicht immer noch so schön wie das eines mittelalterlichen Heiligen.

»Hallo, Heath«, sage ich.

Wir waren immer auf einer Wellenlänge. Die vier Narben auf meinem Wangenknochen machen mich unvergesslich. Er lächelt. Lacht laut.

»Gut siehst du aus, Kim«, sagt er. »Mann, siehst du gut aus.«

Er meint meine Figur, die ich im Fitnessraum des Gefängnisses gestählt habe.

»Boxsäcke und Medizinbälle«, sage ich.

»Du säbelst dir das Haar immer noch mit einem Messer ab.« Er lacht und fordert mich zu einem kleinen Kämpfchen in der Eingangshalle heraus.

Aber ich lasse mich nicht darauf ein. Er legt mir den Arm um die Schultern und erzählt mir etwas von den guten alten Zeiten, die nicht wiederkehren.

 

Ich besorge mir einen Job in...

mehr

Autor

I. J. Kay (der Name ist ein Pseudonym) wurde 1961 in Suffolk geboren. Sie lebt in Bristol und Gambia und am liebsten auf einem Boot, mit dem sie schreibend die Wasserstraßen Englands bereist. »Nördlich der Mondberge« ist ihr erster Roman; er wurde u. a. mit dem Authors' Club Best First Novel Award 2013 ausgezeichnet und von der englischen und amerikanischen Kritik gefeiert.Steffen Jacobs, geboren 1968 in Düsseldorf, ist Lyriker und Essayist. Außerdem übersetzte er Romane u.a. von Philip Larkin, Kingsley Amis und Neil Jordan aus dem Englischen. Jacobs lebt in Berlin.
Weitere Artikel von
Kay, I. J.