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Der Untergrund des Denkens

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
480 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am30.10.20151. Auflage
Eine grundlegende philosophische Analyse unbewusster Vorgänge Unser Bewusstsein ist das größte Rätsel der Wissenschaft: Wir bestehen aus Milliarden von Molekülen, die weder denken noch fühlen können - und doch machen sie zusammen unsere Persönlichkeit und unser subjektives Erleben aus. Das Unbewusste ist ebenso rätselhaft; was dort passiert, kann niemand so genau sagen. Wie bestimmen unbewusste Eindrücke, Wünsche und Informationen unser Denken, Fühlen und Handeln? Die gute Nachricht: Wir sind die Herren im eigenen Haus, auch wenn wir manchmal nicht wissen, wer im Keller umherschleicht. Die schlechte Nachricht: Wir überschätzen manchmal unseren Einfluss und reden uns fälschlicherweise ein, wir hätten gute Gründe für unsere Taten. Der Philosoph Philipp Hübl entlarvt den Mythos von der Macht des Unbewussten - er zeigt, wie Vernunft und kontrollierte Aufmerksamkeit uns vor Manipulation schützen. Ein ebenso grundlegendes wie provozierendes Buch. «Luzide geschrieben, wärmstens zu empfehlen.» Frankfurter Allgemeine Zeitung über «Folge dem weißen Kaninchen»

Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Er studierte Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford und lehrte in Aachen und Berlin.
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Produkt

KlappentextEine grundlegende philosophische Analyse unbewusster Vorgänge Unser Bewusstsein ist das größte Rätsel der Wissenschaft: Wir bestehen aus Milliarden von Molekülen, die weder denken noch fühlen können - und doch machen sie zusammen unsere Persönlichkeit und unser subjektives Erleben aus. Das Unbewusste ist ebenso rätselhaft; was dort passiert, kann niemand so genau sagen. Wie bestimmen unbewusste Eindrücke, Wünsche und Informationen unser Denken, Fühlen und Handeln? Die gute Nachricht: Wir sind die Herren im eigenen Haus, auch wenn wir manchmal nicht wissen, wer im Keller umherschleicht. Die schlechte Nachricht: Wir überschätzen manchmal unseren Einfluss und reden uns fälschlicherweise ein, wir hätten gute Gründe für unsere Taten. Der Philosoph Philipp Hübl entlarvt den Mythos von der Macht des Unbewussten - er zeigt, wie Vernunft und kontrollierte Aufmerksamkeit uns vor Manipulation schützen. Ein ebenso grundlegendes wie provozierendes Buch. «Luzide geschrieben, wärmstens zu empfehlen.» Frankfurter Allgemeine Zeitung über «Folge dem weißen Kaninchen»

Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Er studierte Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford und lehrte in Aachen und Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644026117
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum30.10.2015
Auflage1. Auflage
Seiten480 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1699446
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Jemand hat Schmerzen, bin ich das?

Ein Fahrrad lehnt an einem Baum. Jemand könnte fragen «Das Rad da drüben, wem gehört das eigentlich?». Selbst wenn der Besitzer nicht zu ermitteln ist, existiert das Fahrrad weiter vor sich hin. Es ist in seinem Dasein nicht davon abhängig, dass es jemandem gehört. Fragt man hingegen «Die Rückenschmerzen, wem gehören die eigentlich?», klingt das nach einem absurden Witz im Stil von Christian Morgenstern: «Ein Schnupfen saß auf der Terrasse, auf dass er sich ein Opfer fasse.» Ein Rückenschmerz kann nicht existieren, ohne der Schmerz von jemandem zu sein. Wir sagen zwar «Ich habe ein Fahrrad» genauso wie «Ich habe Rückenschmerzen», aber die Beziehung ist im zweiten Fall untrennbar.

Allgemeiner ausgedrückt: Schmerzen und andere mentale Zustände wie Wünsche, Gedanken, Ängste oder Vorstellungen haben eine Perspektive der ersten Person. Sie sind immer an jemanden gebunden, der sie erlebt. Ich nenne diesen «Jemand» hier der Einfachheit halber Person. Üblich sind auch die Ausdrücke Subjekt oder Individuum. An dem Begriff der Person hängt hier erst einmal nicht viel. Auch kleine Kinder und Tiere kann man im weiten Sinne als Personen auffassen, insofern sie in ihrem Bewusstsein etwas fühlen, sehen oder riechen. Die anspruchsvollere Frage, was uns zu menschlichen Individuen oder gar zu vernünftigen Personen macht, diskutiere ich in späteren Kapiteln. Im Gegensatz zum Schmerz hat ein Fahrrad eine Perspektive der dritten Person, denn es existiert unabhängig von einem bestimmten Betrachter. Mehrere Menschen können es ansehen, untereinander austauschen und darauf radeln. Meine Rückenschmerzen jedoch kann nur ich haben. Andere haben allenfalls Schmerzen derselben Art.

Wenn mein mentales Leben an mich gebunden ist, bin dann auch ich an mein mentales Leben gebunden? Anders gefragt: Nähme man all meine Gedanken, Gefühle und anderen mentalen Zustände weg, bliebe dann noch etwas übrig? Ich vielleicht? Eine Antwort lautet, dass immer noch ein «ich denke» übrig bleibt. So meint Kant, der Gedanke «ich denke» müsse jeden bewussten Zustand begleiten können. Der Teufel steckt hier im Modalwort «können», denn das drückt nur die Möglichkeit aus. Wenn wir Schmerzen haben oder uns freuen, denken wir ja nicht tatsächlich noch zusätzlich «ich denke».

Was ist außerdem mit kleinen Kindern und Tieren, die keinen Ich-Begriff haben, also nicht «ich denke» denken können. Haben sie deshalb kein Bewusstsein? Der Philosoph David Hume macht einen extremen Vorschlag. Nähme man alles weg, bliebe nichts übrig. Laut Hume bestehen wir aus dem Bündel von unseren Eindrücken, aber nicht noch zusätzlich dazu. Ludwig Wittgenstein sieht das ähnlich. Die Perspektive der ersten Person sei wirklich nicht mehr als eine Perspektive, also kein zusätzlicher Zustand in mir, sondern nur ein ausdehnungsloser Referenzpunkt. Der Mittelweg zwischen Kant auf der einen Seite und Hume und Wittgenstein auf der anderen scheint mir am plausibelsten zu sein. Unsere Perspektive besteht in unserem Selbstsinn, der all unsere Eindrücke im Bewusstsein so einfärbt, dass wir sie als zu uns gehörig empfinden. Doch dieser Selbstsinn liegt nicht sprachlich vor als der Gedanke «ich denke», sondern als eine, wie es manchmal heißt, gefühlte Zu-mir-Gehörigkeit oder Meinigkeit meiner Erlebnisse, die die englischsprachige Forschung «me-ness» nennt.

Aus der subjektiven Perspektive folgt die Privatheit. Nur bei mir selbst weiß ich genau, was in mir vor sich geht. Bei anderen Menschen benötige ich immer Hinweise. Ich muss ihre Gefühle und Interessen an ihrem Gesicht ablesen, an ihrer Körperhaltung und ihren Handlungen. Bei Absichten fällt mir das schon schwerer, und spätestens wenn es um Gedanken geht, muss ich nachfragen. Für mich selbst brauche ich keine Hinweise. Ich weiß direkt, was ich denke oder fühle. Dieser unmittelbare Zugang zum Innenleben ist die Autorität der ersten Person. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Aus einer Gruppe spielender Kinder ertönt plötzlich herzzerreißendes Geschrei. Die Eltern von Paul könnten aufschrecken und sich fragen: «Jemand hat Schmerzen. Ist es Paul, der Schmerzen hat?» Beide sind sich sicher, Paul an seinem Gebrüll erkannt zu haben, rennen zum Trampolin und merken, dass sie sich geirrt haben, denn es ist Paula. Bei uns selbst scheint es diese Form des Irrtums nicht zu geben. Wie Wittgenstein feststellt, klingt es unsinnig zu fragen: «Bist du sicher, dass du es bist, der Schmerzen hat?»

Ebenso unsinnig klingt es, wenn man erzählt: «Erst dachte ich, dass ich Schmerzen habe. Das Geschrei war so laut. Doch ich hatte mich geirrt. Es war jemand anderes.» Mein Wissen über mein Innenleben scheint gegen diese Art von Irrtum gefeit zu sein, denn ich kann mich selbst nicht fehlidentifizieren. Ich kann mich aber sehr wohl darüber irren, was ich erlebe. Auf der Webseite SMS von gestern Nacht stand einmal der Eintrag «Alter bin ich verliebt oder hab´ ich nur Hunger?!». Klingt lustig, hat aber auch einen philosophischen Kern. Mein flaues Gefühl im Magen ist untrüglich meins, aber was es ausdrückt, kann ungewiss sein. So merken Lebenspartner oder Freunde manchmal früher als wir, dass wir gerade nervös oder gereizt sind. Zudem sind wir zwar immun gegen Fehlidentifikation, aber nur aus der Innenperspektive, nicht jedoch, wenn wir uns von außen betrachten. Ich könnte auf einem alten Super-8-Film meiner Eltern sehen, wie ein Kind sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Knie hält. Hier kann die Frage sinnvoll sein: «Da hat jemand Schmerzen. Bin ich das?»

Neben der Meinigkeit und der daraus folgenden Privatheit hat unser Bewusstsein noch diese merkwürdige Einheitlichkeit. Trotz unserer grundverschiedenen Sinnesorgane erleben wir die Welt als zusammenhängendes Ganzes. Der amerikanische Psychologe William James stellte sich den Geist eines Neugeborenen als eine «blühende, schwirrende Verwirrung» vor, hervorgerufen durch Eindrücke, die unzusammenhängend und ungeordnet auf das Babybewusstsein einprasseln. Erst mit der Zeit kommt Ordnung in diesen phänomenalen Schauer. Wir sehen, hören und fühlen nicht nebeneinanderher, sondern alles formt sich zu einem strukturierten Bewusstseinsfeld. Kant nannte das die «transzendentale Einheit der Apperzeption». Heute spricht man vom Phänomen der Bindung. Wenn wir beispielsweise einen roten Flummi aufspringen sehen, werden Form, Farbe und Bewegung im Hirn unabhängig und leicht zeitversetzt voneinander verarbeitet, doch in unserem Erleben sehen wir lediglich eine rote Kugel, die sich bewegt. Dieser Bindungseffekt ist so allgegenwärtig, dass er uns erst auffällt, wenn etwas gestört ist. Neurologische Schäden können das verdeutlichen. Vergleichbar mit Farbenblinden leiden einige Patienten an Formblindheit. Sie können Farben und Bewegungen sehen, doch sie erkennen darin keine Figuren oder Gestalten. Im Alltag passiert uns das manchmal, wenn wir hektisch umhersehen und plötzlich etwas Sonderbares erblicken, was wir nicht so recht einordnen können. Erst bei genauer Betrachtung entpuppt sich die dunkle amorphe Masse aus dem Augenwinkel dann als ein Badehandtuch, das auf dem Sofa liegt. Ein anderes Beispiel ist die Akinetopsie, also die Bewegungsblindheit, die bei Patienten auftritt, bei denen der Bereich V5 der visuellen Hirnrinde geschädigt ist. Sie nehmen keine kontinuierlichen Bewegungen mehr wahr, sondern erleben die Welt als eine Reihe von Schnappschüssen. Die Erfahrung muss für sie wie für uns ein nicht endend wollender Discobesuch bei flackerndem Stroboskoplicht sein.

Unsere Sinneseindrücke verbinden sich nicht nur zu einem Bewusstseinsfeld, sie verändern sich auch ständig, von Moment zu Moment, und das normalerweise fließend und lückenlos. Ein Gedanke geht aus dem nächsten hervor. Was gerade noch im Bewusstsein weilte, wandert im nächsten Augenblick schon ins Gedächtnis. Anderes geht für immer verloren. Für dieses Phänomen eignet sich James´ Metapher «Strom der Gedanken» oder «Strom des Bewusstseins». Auch auf der Zeitachse sind Eindrücke also an- und ineinander gebunden.

Noch ein viertes Merkmal macht unser Bewusstsein aus, es ist nämlich transparent. Ein Beispiel: Ich schaue mir eine Blumenwiese an, sehe Gras, Stängel und Blütenkelche, erkenne Ranunkeln, Löwenzahn und Klatschmohn. Kann ich mir jetzt auch die Farben unabhängig von den Dingen und ihren Formen ansehen? Das reine Grün und das reine Gelb sozusagen? Es scheint eher so zu sein, dass ich Farberlebnisse habe, wenn ich Blumen anschaue, die Farbe also immer an einem Objekt, aber nicht für sich genommen zu sehen ist. So scheint es schwer, mir die Farbqualität als Teil meines Bewusstseins im Bewusstsein vor Augen zu führen. Mein Bewusstsein ist gleichsam die Brille, die man nicht findet, weil man die ganze Zeit hindurchblickt. Einige Philosophen glauben daher, man könne sich niemals die phänomenalen Qualitäten selbst vergegenwärtigen. Doch auch die Brille auf der Nase sieht man, wenn man etwas schielt. Im Fall des Bewusstseins muss man mental schielen. Ein Beispiel für reine Farberlebnisse sind einige Licht-Installationen des amerikanischen Künstlers James Turrell, bei denen man keine Gegenstände oder Räume, ja nicht einmal mehr Flächen sieht, sondern umgeben ist von farbigem Licht. In so einem Fall hat man ein pures Farberlebnis. Auch auf der Blumenwiese kann man mit etwas Konzentration die Farben unabhängig von den Trägerobjekten erleben, das Rot der Rose, das Grün der Blätter,...
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