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Alte Sachen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
496 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am22.01.20161. Auflage
Ein elegant erzähltes Buch über Verfolgung, Flucht und die Kraft der Liebe. Die Zeit nach dem Abitur: wochenlanges Feiern, Wetten auf die Zukunft, Klubstreifzüge. Rieke lässt sich durch die Tage tragen. An einem Morgen nach durchtanzter Nacht lernt sie Lior kennen, einen jungen Israeli. Er hat eine Änderungsschneiderei. Bald bemerkt Rieke, dass dieser Mann, dessen Kopf immer in irgendeinem Takt wippt und der nach Kaffee und noch etwas anderem riecht, kaum Begabung für sein Handwerk besitzt. Er muss einen anderen Grund gehabt haben, nach Berlin zu kommen. Langsam stellt sich heraus, dass es um seine Familie geht, die einst das Modegeschäft «Mäntel Rettig» in Kreuzberg besaß. Als Rieke aber Lior und seiner Geschichte wirklich nahekommt, verschwindet er ohne Warnung...

Markus Flohr, geboren 1980 in Hannover, ist Journalist. Er studierte Geschichte in Hamburg und Jerusalem, besuchte anschließend die Henri-Nannen-Schule, war Redakteur bei Spiegel Online. 2011 wurde er mit dem Buchpreis Hirzen ausgezeichnet. Heute arbeitet er als Autor für Spiegel, Merian und Die Zeit. Außerdem unterrichtet er Journalistisches Schreiben an der Universität Hamburg. Sein großes Interesse gilt der dritten Generation nach der Schoah. 'Alte Sachen' ist sein erster Roman. Markus Flohr lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Hamburg und Tallinn.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR19,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR4,99

Produkt

KlappentextEin elegant erzähltes Buch über Verfolgung, Flucht und die Kraft der Liebe. Die Zeit nach dem Abitur: wochenlanges Feiern, Wetten auf die Zukunft, Klubstreifzüge. Rieke lässt sich durch die Tage tragen. An einem Morgen nach durchtanzter Nacht lernt sie Lior kennen, einen jungen Israeli. Er hat eine Änderungsschneiderei. Bald bemerkt Rieke, dass dieser Mann, dessen Kopf immer in irgendeinem Takt wippt und der nach Kaffee und noch etwas anderem riecht, kaum Begabung für sein Handwerk besitzt. Er muss einen anderen Grund gehabt haben, nach Berlin zu kommen. Langsam stellt sich heraus, dass es um seine Familie geht, die einst das Modegeschäft «Mäntel Rettig» in Kreuzberg besaß. Als Rieke aber Lior und seiner Geschichte wirklich nahekommt, verschwindet er ohne Warnung...

Markus Flohr, geboren 1980 in Hannover, ist Journalist. Er studierte Geschichte in Hamburg und Jerusalem, besuchte anschließend die Henri-Nannen-Schule, war Redakteur bei Spiegel Online. 2011 wurde er mit dem Buchpreis Hirzen ausgezeichnet. Heute arbeitet er als Autor für Spiegel, Merian und Die Zeit. Außerdem unterrichtet er Journalistisches Schreiben an der Universität Hamburg. Sein großes Interesse gilt der dritten Generation nach der Schoah. 'Alte Sachen' ist sein erster Roman. Markus Flohr lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Hamburg und Tallinn.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644312517
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum22.01.2016
Auflage1. Auflage
Seiten496 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1699476
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Teil Eins



Pulver


Die Schlange vor dem Klo des Klubs, der überwiegend von Auswärtigen besucht war, zog vorbei wie eine Prozession. Geduldig schoben die Gestalten einander vorwärts. Blieben stehen. Gingen einen Schritt. Rieke hatte auf dem Waschbecken Platz genommen, Iza stand. In ihren Mündern glimmten Zigaretten. Sie warteten, allerdings nicht auf ein freies Klo, sondern auf einen Jungen, der Paul hieß und aus Paris kam. Paul war Riekes Junge, sie hatte ihn zuerst gesehen, und Iza hatte das bestätigt, wie sie da saßen und pafften: «Ja, du hast ihn zuerst gesehen.» Iza nickte, aber so, als wäge sie ab. Rieke dachte, dass sie gerne ein Bild von der Prozession gemacht hätte, aber Fotografieren war hier verboten. Sie rollte ihre Kippe sorgfältig zwischen den Fingern, rieb sie am Rand des Beckens, sodass die Asche gleichmäßig abfiel, als sei das zum Beispiel besser für die Gesundheit.

Sie blickte konzentriert auf ihre Hände. Spürte, wie der Rauch gemächlich in die Lunge zog. Iza dagegen paffte widerwillig und ohne Genuss. Sie balancierte ihre Aschewurst, die immer größer wurde, beiläufig auf dem Stängel, als halte die Zigarette dadurch länger. Sie sagte: «Du hast Paul zuerst gesehen, das stimmt, aber mich hat er so angeschaut, anders als dich, und darauf kommt es an.»

Es hatte geregnet an diesem Tag, der grau und viel zu kalt war für einen Donnerstag Ende August. Behäbig wie dicke Sahne waren die Wochen des Sommers dahingeflossen, eine Zeit neben der Zeit. Mit der großen Feier nach dem Abitur hatte es begonnen, mit dem Händedruck vom Kunstlehrer und seinem zitternden «Ade». Seitdem waren sie durch die Tage getragen worden, durch die Zeit «nach dem Abitur», wie sie es genannt hatten. Sie konnten nicht aufhören, sich den Witz aus der Abiturrede des Jahrgangssprechers wieder und wieder zu erzählen, laut dem im Grunde nur zwei Dinge an der Schule unterrichtet worden seien: Nationalsozialismus und Sexualkunde. Ihre Köpfe waren randvoll mit Albernheit, und mit Stolz.

Im Zeugnis, das sie vom Schulleiter überreicht bekommen hatten; in den Glückwünschen der Eltern und Lehrer, der Erwachsenen, vor allem des Kunstlehrers; in den schnellen Küssen, den guten Ratschlägen, die sie einander gaben; auf den Fotos vom Abiball, die Rieke und Iza geknipst hatten; in den Kleidern und Anzügen, in die ihre jungen Körper noch gar nicht gepasst hatten; im wochenlangen Feiern, das mit jeder Nacht zügelloser geworden war: In alldem hatte stets ein Versprechen mitgeschwungen, eine Wette auf die Zukunft, die plötzlich offen und ungeregelt schien, ohne Stundenplan, Halbjahresnoten, Hausaufgaben und Klassenbuch. Das Einzige, was die beiden festhielten, war: Wir machen das zusammen. Wir ziehen gemeinsam los. Wir werden Fotografen oder so etwas. Auf jeden Fall zusammen. Versprochen.

Sie hatten die Prüfungen gemeistert, Kunst und Mathe, sie waren nächtelang durch die Stadt gezogen. Sie hatten ein wenig Geld gemacht, mit Fotos, solchen und solchen. Sie hatten Bewerbungen losgeschickt, aber mehr, um es gemacht zu haben. Sie bewarben sich stets zusammen. Nur kurz hatten sie sich damit aufgehalten, ihre Noten zu vergleichen; war ja auch egal. Länger hielt dieses besondere Gefühl an, der Eindruck, dass alle Leute sie bewundernd anzusehen hatten, dass man ihnen Beifall schuldig war, dass sie den Schritt in die Gesellschaft geschafft hatten. Dass sie schon morgen, vielleicht übermorgen Bundeskanzler, Filmstar, Professor oder Supermodel sein würden. Wenn man sie nur ließe.

Sie probierten jeden Abend einen anderen Klub aus und wunderten sich, dass es Tage gab, an denen auch in Berlin kaum etwas offen hatte. Sie schliefen nicht zu Hause; sie schliefen zu Hause, aber nicht alleine; sie nahmen dies, sie nahmen das, alles mögliche Unvernünftige stellten sie an. Sie bissen in jeden Apfel, den man ihnen hinhielt. Sie investierten das Geld, das bisschen, das ihnen von den Eltern als Anzahlung auf ihr Erwachsensein gegeben worden war, nicht für eine Reise nach Ibiza oder Capri, nicht für den Flug nach Australien, wie fast alle aus dem Jahrgang, sondern sie gaben es mit beiden Händen und in Windeseile in der Nachbarschaft aus. Sie waren auch in jenen Winkeln der Stadt unterwegs, die schlecht ausgeleuchtet waren und in denen es übel roch.

Da es rund um den Klub nur Kieselwege und kleine Wiesen gab, trugen die Gäste an diesem Donnerstagabend jede Menge Matsch herein, der sich auf dem Boden in schwarzen Schlieren ablagerte. Es war wenig Platz vor dem Waschbecken, überall standen Leute, die zur Klo-Prozession gehörten. Rieke konnte kaum etwas sehen, und sie wusste ja auch nicht, hinter welcher Tür Paul aus Paris verschwunden war.

Neben ihr schminkte sich eine Frau; sie trug Leopardenleggins. Das Licht war so schlecht, dass die Frau in ihrem Taschenspiegel kaum etwas von sich sehen konnte, aber vielleicht ging es darum nicht. An der Wand fehlte jede Art von Spiegel. Da war nicht einmal eine Scheibe, in der man sein Gesicht hätte erkennen können, im ganzen Klub nicht. Als ob die Besucher dieses Ladens ein Hofstaat von Vampiren und Trollen oder eine große Fata Morgana seien, die ganz schnell verschwände, wenn sie ihr Abbild sähe, wenn das Licht im falschen Winkel stünde.

Die Klotüren blieben lange, sehr lange dicht - daher die Schlange -, und man konnte sich denken, was dahinter geschah. Wenn Rieke neugierig gewesen wäre, hätte sie sich hinknien können und schauen, wie viele Füße in den Kabinen zu sehen waren oder wie viele Schuhe; wo nur zwei Füße zu sehen waren, die Füße von Paul. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie das vielleicht noch gemacht, aber jetzt nicht mehr. Zudem musste man schon sehr neugierig sein, um sich hier auf den Boden zu knien, der wie ein umgepflügter Acker aussah und stank wie eine Kloake.

Aus dem Gang wehte es warm herein. Riekes Hemd klebte auf ihrer Brust. Sie zog es mit den Fingern ein Stück nach vorne, um Luft heranzulassen. Sie warf die Kippe ins Waschbecken und drehte den Hahn auf. Es war nur ein Augenblick, den sie dafür brauchte, in dem sie wegsah. Er genügte, damit Iza sich vor sie stellte und laut rief: «Hi, Paul! Hier sind wir!»

Rieke trug an diesem Abend ein schwarzes, sehr kurzes Kleid, ärmellos, darunter eine schwarze Strumpfhose. Iza trug in etwa das Gleiche. Iza war zwar am Nachmittag mit anderen Kleidern zu Rieke gekommen; Sachen, die sie gerade erst gekauft hatte und die knapp und bunt waren und Izas Körper betonten. Als hätte sie das tun müssen. Ihre neuen Sachen hatte Iza aber auf Riekes Bett liegenlassen, weil sie ihr dann doch nicht mehr gefielen. Iza hatte auch mal einen Jungen auf Riekes Bett liegenlassen, Bastian aus dem Jahrgang, den sie mitgenommen hatte und zu Rieke geschleppt, weil es zu Hause nicht ging. Iza hatte ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Mutter. Einen Vater gab es nicht, also gab es schon, aber der wohnte in Stettin. Iza hatte einen Schlüssel zu Riekes Wohnung, und die Wochenenden verbrachten sie ohnehin zusammen.

Bei Rieke war die Sache mit dem Vater ähnlich: Den gab es nicht, und natürlich gab es ihn doch, aber er war angeblich Fischer auf der Ostsee, angeblich auf Bornholm, seit Rieke zwölf war, und angeblich deswegen selten zu sehen. Wobei es schwierig war, sich zu merken, ob diese Insel Bornholm zu Schweden oder Dänemark gehörte. Ob der Vater dort wirklich wohnte, war noch einmal eine ganz andere Frage, denn Riekes Mutter erzählte nicht viel von ihm, und gesehen hatte Rieke ihn seit Jahren nicht.

Auf Riekes Bett lagen also Izas Kleider, ohne Luft und Spannung, ohne Körper. Iza hatte sich stattdessen Sachen von Rieke genommen, und als sie sich fertig angezogen hatten, ähnelten die Mädchen einander sehr - jedenfalls, was die Kleider betraf. Ansonsten eher nicht. «Jetzt sehen wir aus wie Schwestern!», hatte Iza gerufen, als sei das etwas Neues, als sei es der erste Abend, an dem das so war; an dem Iza fand, sie sei Riekes Schwester. Sie hatte Rieke umarmt und an ihre Brust gedrückt, und Rieke hatte auch ein wenig lachen müssen. Weil man einfach lachen muss, wenn jemand lacht wie Iza. Sie lachte wie ein Kinderchor, und sie warf sich mit voller Kraft auf Rieke, sie kippten zusammen auf die Dielen im Flur, Iza oben, Rieke unten. Sie versuchten sich in dem kleinen Spiegel zu spiegeln, den die Mutter vor Jahren in den Flur gestellt hatte. Bloß angelehnt. Dazu mussten sie in die Knie gehen, wie Zwerge, und es sah aus, als pinkelten sie auf die Dielen. Iza war Rieke mit den Händen die Oberarme entlanggefahren. «Du bist die Schönste, schau dich an!», hatte sie gerufen. «So will ich auch aussehen!» Und: «Meine Schwester!» Heftige Umarmung, kniend. Iza sagte solche Sachen häufig. «Du bist die Schönste!»; «Du bist so schlau!»

Iza konnte das gut sagen, denn es war nicht wahr, und genau deswegen konnte sie es gut sagen. Sie war in der Position, ein solches Kompliment zu verschenken, da es doch immer klar blieb, dass Iza die Schönere von ihnen war. Jeder konnte es sehen, wie lange, volle Haare Iza hatte, dick wie die Haare der Wikinger. So dick jedenfalls, dass Rieke manchmal selbst einfach mitten hinein greifen musste, wenn sie auf dem Sofa lagen und irgendwas im Fernsehen schauten. Wenn sie aufs Dach kletterten und sich die Sachen auszogen, weil das da oben keiner sehen konnte. Wenn sie mit dem Rad raus an den Wannsee fuhren und in der kleinen, ruhigen Bucht hinter der Schmetterlingsinsel baden gingen. Ein Griff in Izas Haare, die sich anfühlten wie dicker, weicher Stoff. Danach küssten sie sich lange und feucht auf die Lippen, einfach weil es ging.

Paul war nicht Izas Kerl, Rieke hatte Paul zuerst gesehen. Sie hatte...

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Autor

Markus Flohr, geboren 1980 in Hannover, ist Journalist. Er studierte Geschichte in Hamburg und Jerusalem, besuchte anschließend die Henri-Nannen-Schule, war Redakteur bei Spiegel Online. 2011 wurde er mit dem Buchpreis Hirzen ausgezeichnet. Heute arbeitet er als Autor für Spiegel, Merian und Die Zeit. Außerdem unterrichtet er Journalistisches Schreiben an der Universität Hamburg. Sein großes Interesse gilt der dritten Generation nach der Schoah. "Alte Sachen" ist sein erster Roman. Markus Flohr lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Hamburg und Tallinn.