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Federgewicht

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
236 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.05.20151. Auflage
Ungewöhnliche Familienverhältnisse: Ajot, der Rollstuhlfahrer, braucht eine Pflegerin, die wiederum findet in ihm einen Ersatzvater für ihren unehelichen Sohn Bert. Die Krankengymnastin Elisabeth dagegen verläßt Mann und Kinder, weil sie sich nach einem Liebhaber sehnt. Dagmar Leupolds Roman über das empfindliche Gleichgewicht, in dem diese Menschen balancieren und das sie »vorübergehend glücklich macht«, ist mit federnder Leichtigkeit geschrieben - und von großem menschlichen Gewicht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dagmar Leupold, Schriftstellerin, wurde 1955 in Niederlahnstein geboren. Studium der Komparatistik in Marburg, Tübingen und New York. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den aspekte-Literaturpreis für das beste Prosa-Debüt 1992.
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Produkt

KlappentextUngewöhnliche Familienverhältnisse: Ajot, der Rollstuhlfahrer, braucht eine Pflegerin, die wiederum findet in ihm einen Ersatzvater für ihren unehelichen Sohn Bert. Die Krankengymnastin Elisabeth dagegen verläßt Mann und Kinder, weil sie sich nach einem Liebhaber sehnt. Dagmar Leupolds Roman über das empfindliche Gleichgewicht, in dem diese Menschen balancieren und das sie »vorübergehend glücklich macht«, ist mit federnder Leichtigkeit geschrieben - und von großem menschlichen Gewicht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dagmar Leupold, Schriftstellerin, wurde 1955 in Niederlahnstein geboren. Studium der Komparatistik in Marburg, Tübingen und New York. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. den aspekte-Literaturpreis für das beste Prosa-Debüt 1992.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105602379
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum15.05.2015
Auflage1. Auflage
Seiten236 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1412 Kbytes
Artikel-Nr.1704479
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Winter

ANSTELLE DES FOTOS VON ROSA hatte Ajot eine Ansicht der Kettenbrücke, die Buda und Pest seit 1849 verbindet, in den Rahmen eingesetzt. »Ein phantastisches Bauwerk«, sagte er zu Dorothea, die sich neugierig zu dem Bild beugte, »zwei englische Ingenieure haben es erdacht und konstruiert. Im Unterschied zu Mauern sind Flüsse kein besonders dauerhaftes Hindernis.«

In den letzten zwei Monaten hatte Ajot oft von Budapest gesprochen. Der Umstand als solcher mochte nostalgisch sein; die Art, wie er einzelne Begebenheiten aus seiner Kindheit und Jugend vortrug, war die vertraut lakonische, die Dorothea an ihm schätzte. Vor knapp zwei Monaten, am 23. Dezember, hatten sie Dorotheas 28. Geburtstag gefeiert. Ajot hatte ihr aufgetragen, Marzipan und kandierte Früchte zu besorgen, wie er sie in seinem Lieblingscafé, dem Café Müvész in der Nähe der Oper, immer gegessen hatte. »Budapest hat heute auch Geburtstag«, hatte er zur Erklärung gesagt, »es ist seit genau 120 Jahren vereinigt.«

Nur Bert schmeckte das klebrig-süße Konfekt, Ajot hatte mißtrauisch ein Stück angebissen und unter Flüchen auf ungarisch sofort wieder ausgespien. »Die Deutschen haben noch viel zu lernen«, er hob seine Teetasse und prostete Dorothea zu, die lachend ihr mittlerweile kinnlanges Haar aus dem Gesicht strich. »Seit drei Zentimetern leben wir zusammen - ein gutes Zeichen, wenn etwas wächst, nicht?« sagte sie, und die Farbkleckse auf ihrer Iris tanzten.

Am Abend war Elisabeth gekommen; sie hatte sich gerade eine kleine Wohnung genommen und betreute außer Ajot noch weitere fünf Patienten privat, so daß sie von ihrem Mann so gut wie unabhängig war. Die Kinder hatten sich für ein Zusammenleben mit dem Vater entschieden und besuchten Elisabeth regelmäßig. Mit dem Umzug war die Mutterliebe von ihr abgefallen wie eine alte Haut, und Elisabeth begriff, daß sie nur noch aus Versorgungsritualen bestanden hatte, die ihrerseits an die familiäre Umgebung geknüpft waren. Sie, die früher gerne gekocht und gebacken hatte, verspürte in ihrer neuen Küche nicht die geringste Lust, andere zu verpflegen. In ihrer Wohnung fühlte sie sich jünger und anziehender; oft lehnte sie sich erwartungsvoll aus dem Fenster und musterte die Passanten auf der belebten Straße, als müsse sie den Prinzen ausfindig machen, der zweifellos gleich an ihrer Tür klingeln würde. Den Besuch ihrer Kinder nahm sie hin wie etwas Notwendiges, aber nicht unbedingt Erfreuliches. Anfangs kochte sie, nach wenigen Wochen kaufte sie Fertiggerichte oder Wurst- und Käseaufschnitt, in der Hoffnung - wie sie sich eingestand -, den Besuch damit zu verkürzen. Sie hatte immer das Gefühl, daß genau dann, wenn ihre Kinder da waren, der entscheidende Anruf oder entscheidende Besucher eintreffen und von ihr nicht gebührend empfangen werden könnte. Besonders die Anwesenheit ihres Sohnes störte sie; er saß meist schweigend vor dem tonlosen Fernsehgerät und rauchte. Eines Tages zeigte er ihr eine Tätowierung, die sich entzündet hatte. Elisabeth desinfizierte die wunde Stelle, ohne das Motiv - einen Soldaten - zu kommentieren. Sie reinigte seine Schuhe mit teurer englischer Schuhcreme und legte zum Abschied ihre Hand auf sein kurzgeschorenes Haar. Sie mußte sich fast auf Zehenspitzen stellen - war er gewachsen? Sie zuckte mit den Achseln, als sie die Tür hinter ihm schloß; dann öffnete sie die Wohn- und Schlafzimmertür, so daß sie vom Flur aus ihre ganze Wohnung überblicken konnte. »Ich bin an der Reihe«, sagte sie leise zu sich selbst und berührte die Kommode aus Kirschholz, die sie sich für die neue Wohnung gekauft hatte. Ihre Tochter brachte einmal einen Freund mit; verliebt saßen sie auf der Couch, drückten sich gegenseitig die Pickel aus. Angewidert hatte Elisabeth den Raum verlassen - mit vierzehn! So bieder. Elisabeth hatte ihre gesamte Unterwäsche nach dem Umzug weggeworfen und sich verführerische Kombinationen gekauft, die sie nun auch zum Einkaufen trug.

Es war ein milder Donnerstag im Februar, Ajot erwartete sie um zehn Uhr. Sie entschied sich für ein dunkelrotes Spitzenbustier mit passendem Slip. Obwohl die Farbe unter ihrem Pullover nicht zu erkennen war, probierte sie so lange, bis sie den passenden Lippenstift gefunden hatte. Als sie das Haus verließ, hoffte sie, daß Dorothea nicht dasein würde und Bert auch nicht. Seit sie allein war oder »frei«, wie sie sich in Gedanken nannte, schien es ihr, als brauche sie doppelt soviel Platz wie vorher; die Gegenwart anderer beengte sie, schränkte sie ein. Sie wußte nicht, daß Ajot sie im Gespräch mit Dorothea »das Einzelkind« nannte. »Frauen, die ihre Männer nach langen, ereignislosen Ehejahren verlassen, benehmen sich wie Einzelkinder: Auf einmal gehört alles ihnen.« Dorothea hatte zustimmend genickt, weil sie spürte, daß Ajot mit dieser Beschreibung ihre eigene Antipathie auf einen Nenner brachte.

 

Dorothea war an diesem Morgen tatsächlich mit Bert unterwegs. Sie traf sich einmal in der Woche mit anderen Müttern und Kleinkindern zu einem zweiten Frühstück, Bert war mit seinen acht Monaten der jüngste (was ihn völlig unbeeindruckt ließ), die vier anderen Kinder standen oder liefen schon. Dorothea fand die zwar nicht verabredete, doch automatisch eintretende Beschränkung auf Themen, die entweder Mütter oder Kinder betrafen, entspannend und ein bißchen töricht. Sie ging gern zu den Treffen, auch, weil die Abwesenheit eines Vaters um diese Tageszeit nicht auffiel: Selbst die verheirateten Frauen waren vormittags allein. Während sie an ihrem heißen Kaffee nippte, sich am Gespräch beteiligte und dem Getümmel auf achtzig Zentimeter Höhe amüsiert zusah, half Ajot ein paar Straßen entfernt Elisabeth ungeschickt aus dem Mantel. Um ihm diesen Kavaliersdienst zu erleichtern, ging sie in die Knie und verlor das Gleichgewicht, als er durch heftiges Reißen am Kragen versuchte, den Mantel ganz herabzuziehen. Im Sturz rutschte ihr Rock nach oben, und man konnte die farbliche Übereinstimmung von Lippenstift und Slip unerwartet doch feststellen. Elisabeth stand auf, strich ihren Rock glatt und sagte: »An die Arbeit.«

Sie setzten sich an den Eßzimmertisch, und Elisabeth baute eine kleine Trennwand mit armdicken Öffnungen auf. Ajot mußte seine Hände hindurchstecken und erraten - die Wand verhinderte Sichtkontakt -, was Elisabeth ihm zureichte. Es war sehr schwierig, auch nur die Konsistenz des Gegenstands, den er in Händen hielt, zu bestimmen. War das samtig? Oder eher rauh? Fest oder nachgiebig? Einmal hatte er »Gummikaktus« geraten, weil er meinte, Stacheln zu spüren (die aber nicht verletzten), und in Wirklichkeit ein Stück Seife in der Hand gehalten. Um sich besser konzentrieren zu können, schloß Ajot die Augen. Er lehnte sich zurück, so weit er konnte, ohne die Hände aus den Öffnungen zu ziehen.

»Eine Kastanie«, riet er. »Gut«, lobte Elisabeth.

Der nächste Gegenstand schien hart und weich, handfüllend und doch klein. Ajot begann zu schwitzen, seine linke, halbgelähmte Hand gehorchte ihm nicht und fühlte fragend weiter, obwohl sein Kopf schon längst wußte, was er berührte. Elisabeth stieß leise Seufzer aus, wie eine Katze, die um Futter bettelt, und dann gelang es Ajot, mit der Rechten seinen linken Arm aus der Öffnung zu ziehen. Die Trennwand fiel um, und er öffnete die Augen. Elisabeth saß mit aufgehaktem dunkelrotem Mieder da (Ajot wußte kein zeitgemäßeres Wort) und schaute ihn auffordernd, neckisch an. »Willst du?« fragte sie.

Ajot fuhr um den Tisch herum zu ihr und antwortete: »Du bist verführerisch - aber warum ich?«

Sie begann: »Ich habe noch nie ...«, als Ajot sie unterbrach.

»Mit einem Behinderten? Einem Idioten? Einem Ungarn? Einem Unentschlossenen?«

Er fegte wütend die Trennwand vom Tisch, nahm die Kastanie und warf sie gegen die Fensterscheibe, die klirrend zerbrach.

Im Aufspringen versuchte Elisabeth ihr Oberteil zuzuhaken, schrie: »Du hast mich falsch verstanden«, und stolperte über den zur Seite gedrehten Rollstuhl. Ajot saß jetzt ganz reglos und schien den kalten Luftstrom, der durch das zerschlagene Fenster hereinströmte, in tiefen Zügen einzuatmen. »Schaufel und Besen sind im Wandschrank in der Küche«, sagte er und verließ den Raum.

In seinem Zimmer zog er die Vorhänge zu, streifte die Schuhe von den Füßen und blieb nach einem vergeblichen Versuch, sich seitlich aus dem Rollstuhl ins Bett zu hieven, außer Atem sitzen. Ihm war übel. Die Szene erinnerte ihn unangenehm an seine frühen Ehejahre, als er auch das Gefühl hatte, daß seine Frau als Beweis für ihre Attraktivität (über die sie, da war er sicher, ununterbrochen nachsann) von ihm Erregung verlangte - nicht etwa, weil sie selbst sie verspürte oder verspüren wollte. Er ignorierte seine Erektion, als handele es sich bei dieser um ein Signal des uneinsichtigsten Teiles seines Körpers, dem man zwar Geduld, nicht aber Entgegenkommen zeigen mußte, und ging mit dem Finger über die Kettenbrücke spazieren. Den Spaziergang hatten seine Füße oft mit seinem Vater unternommen, meist sonntags, und sein Vater hatte seine noch glühenden Zigarettenkippen in die Donau geschnippt, mit zwei Fingern. »Die kann jemand in Rumänien weiterrauchen«, sagte er oder: »Einem Hecht mit Liebeskummer zum Trost«, und Ajot hatte dankbar gelacht. Nicht weil er es witzig fand, sondern weil er sich an der guten Laune seines Vaters freute, die solche harmlosen Späßchen hervorbrachte. Spaziergänge mit seiner Mutter - nein, Spaziergänge konnte man das nicht nennen, ihre Einkaufstouren im...
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