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Panama

Roman
dtv Deutscher Taschenbuch Verlagerschienen am01.07.2015
Familiengeheimnissen auf der Spur Nach dem Abitur ein Praktikum und dann Studium. Alles schön ausgedacht. Doch da schickt ihr Großvater Liana nach Panama City. Sie soll den Sohn ihres verstorbenen Bruders abholen, der seit Jahren als verschollen galt.  Doch vor Ort ist natürlich alles viel komplizierter als gedacht. Liana will aufgeben. Doch  spätestens als sie Ruud kennenlernt, hat sie es nicht mehr eilig, in ihr altes Leben zurückzukehren.

Karin Bruder, in Kronstadt/Rumänien geboren, lebt seit 1970 in Deutschland. Sie leitet u. a. Schreibwerkstätten an Schulen und beim Bildungszentrum für politische Bildung Baden-Württemberg. Für >Zusammen allein< erhielt sie den Frau Ava Literaturpreis 2007 und wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011 nominiert. Karin Bruder lebt in Waldbronn.
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Produkt

KlappentextFamiliengeheimnissen auf der Spur Nach dem Abitur ein Praktikum und dann Studium. Alles schön ausgedacht. Doch da schickt ihr Großvater Liana nach Panama City. Sie soll den Sohn ihres verstorbenen Bruders abholen, der seit Jahren als verschollen galt.  Doch vor Ort ist natürlich alles viel komplizierter als gedacht. Liana will aufgeben. Doch  spätestens als sie Ruud kennenlernt, hat sie es nicht mehr eilig, in ihr altes Leben zurückzukehren.

Karin Bruder, in Kronstadt/Rumänien geboren, lebt seit 1970 in Deutschland. Sie leitet u. a. Schreibwerkstätten an Schulen und beim Bildungszentrum für politische Bildung Baden-Württemberg. Für >Zusammen allein< erhielt sie den Frau Ava Literaturpreis 2007 und wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011 nominiert. Karin Bruder lebt in Waldbronn.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423428071
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum01.07.2015
Seiten400 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2296
Artikel-Nr.1814496
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
2

Wie alles begann.

»Liana, ich wünsche, dass du mich besuchen kommst«, verlangte der Großvater in seinem harten Deutsch. Auch nach einundvierzig Jahren in der Schweiz hatte er sein rollendes R nicht abgelegt. »Lass keine Zeit verstreichen, es eilt.«

Als wäre ich eine Angestellte, kommandierte seine tiefe Stimme mich herum, Widerspruch schien ausgeschlossen.

»Morgen schreibe ich Mathe.«

»Ist recht. Ich drück dir die Daumen. Obwohl, weiß ich doch, dass Mathe ein Klacks, ein Kinderspiel, für meine Königin ist. Dann kommst du eben anschließend. Ist das die letzte Prüfung?«

»Ja! Die letzte schriftliche.« Das Ja laut und deutlich. Er sollte ebenso stolz auf meine Leistungen sein wie ich. Die Prüfungen waren gut gelaufen. Ich konnte mir meinen Abidurchschnitt nicht mehr versauen. Doch unser Ota überhörte meinen Triumph.

»Nimm den ersten Zug. Oder kommst du mit dem Auto?«

»Ich kann nur in Begleitung fahren, das weißt du doch. Aber ich habe bald Geburtstag, du kannst schon mal Geld für ein Auto zur Seite legen.« Er ging nicht auf mich ein. Ein Scherz, der sonst immer funktionierte, war im Stacheldraht seiner Zerstreutheit hängen geblieben. »Was ist denn los?«, wollte ich wissen.

»Alles Weitere vor Ort.« Die Großvaterstimme kratzte in meinem Ohr. Der Alte klang verschnupft.

Nach der letzten schriftlichen Prüfung, fuhr ich von Bad Bergzabern nach Brunnen. Ich fuhr durch weiße Schneelandschaften, die meinem Kopf viel Spielraum für Gedanken und Erinnerungen ließen. Stoppelfelder wechselten sich mit weiß bedeckten Hügelketten ab, zugeeiste Seen mit grau schäumenden Flüssen. In Brunnen lag der Schnee besonders hoch, reichte bis an die Ufer des Vierwaldstättersees, der mit hungrigen Zungen an ihm leckte. Auch die umliegenden Berge trugen Wintermäntel, die Rigispitzen, der Fronalbstock, der Mythen. Es war früher Nachmittag, als ich ankam. Der Anblick der Berge schaffte es immer wieder, eine kindliche Unbeschwertheit in mir auferstehen zu lassen.

Lachend nahm der Ota mich am Bahnhof in Empfang, küsste mich jedoch nicht, sondern legte lediglich seinen Arm um meine Schultern. Mit der freien Hand schnappte er sich den Rucksack. Unser Großvater war eine stattliche Erscheinung, immer noch, trotz seiner achtzig Jahre. In seiner Nähe stand man im Schatten. Sein struppiger Bart war noch ein bisschen wilder, noch eine Spur weißer geworden. Ich entdeckte rote Verästelungen in seinen Augen. Ein Nikolaus in Lederjacke und Lederhose. Immer war er anders gewesen, nie hatte er geredet, wie die Nachbarn redeten, sich einzig und allein seinem ureigenen Kleidergeschmack unterworfen. Mein geliebter Alter.

Allein die Familie zählte und der Erfolg eines jeden Einzelnen. Mangel an Ehrgeiz konnte er nicht verzeihen. Meinen Fleiß lobte er gern und ausgiebig, doch an jenem Tag zeigte er sich geizig.

»Jesses, die Vorgänge in Panama beschäftigen mich mehr, als mir lieb ist«, sprach er, lud mich und das Gepäck in seinen Geländewagen. Joschi war nicht dabei. Dem Ota war auch der letzte Hund gestorben. Im Wagen roch es säuerlich. Ein Anflug von Furcht streifte mich. Großvater hatte in den letzten Jahren nicht nur die Schallgrenze vom alten zum sehr alten Menschen überschritten und seine Frau und die einzige Tochter verloren, sondern auch einen Enkelsohn zu Grabe tragen müssen. Wie viele Verluste würde er noch verkraften?

Von der Seite musterte ich ihn, zählte Falten, strich in Gedanken über die lange Narbe an seinem Hals. Er hatte in Rumänien im Gefängnis gesessen, mehrere Monate, und selten darüber gesprochen. Und wenn, dann so, wie man über ungeliebte Verwandte spricht, leise, hinter vorgehaltener Hand.

Mitten aus tiefen Gedanken heraus schreckte ich hoch. Unser Ota fuhr die Bahnhofstraße nicht weiter, bog rechts ab. Der Verkehr war dicht, die Straßen eng. Wie Türme erhoben sich Schneehügel rechts und links der Fahrbahn. Von den Fußgängern waren nur die bunten Mützen zu sehen. Wir fuhren durch Eisgalerien, wir fuhren Richtung Friedhof.

»Muss das sein?« Mein Protest klang matt. Ich war müde nach der langen Fahrt.

»Überlass das einem erfahrenen Ritter.«

Gekonnt versuchte der Alte mich mit seiner bärigen Stimme einzuspinnen, erzählte lachend, was in Brunnen an Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem geschehen war. Und dann fragte er doch noch: »Und deine Matura? Wann ist das Mündliche?«

Aber jetzt wollte ich nicht mehr.

»Na, was hast du?«

Schon hielt der Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor. Für alle, die auch im Winter die Sehnsucht nach den Toten überkam, waren vier Parkplätze frei geräumt worden. Ich sah den gestreuten Hauptweg und die mir traurig zunickenden Hängebuchen. Meine Augen stolperten über das weiße Dach der Kapelle, und da waren sie wieder: die Bilder von Sigis Beerdigung. Ich sah meinen Vater, wie er am Grab zusammengebrochen war, und ich fühlte die Hand meiner Zwillingsschwester, die sich wie eine Handschelle um mein Armgelenk gelegt hatte. Immer noch konnte ich die Stelle benennen. Und dann fühlte ich gar nichts mehr, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Es war einfach ungerecht, dass Sigi hatte sterben müssen. Und es war ungerecht, dass Ota mich ohne Vorwarnung hierherschleppte. Plötzlich war mir klar, dass mein Besuch mit Sigi zusammenhing. Waren seine Mörder gefunden worden?

»Wir besuchen deine Omama ein anderes Mal«, erklärte der Alte und ergriff meine Hand. »Heute geht es um deinen Bruder. Ich habe ihm die Neuigkeiten noch nicht erzählt. Das holen wir jetzt nach.« Zielstrebig führte er mich zum Grab.

»Was für Neuigkeiten? Spann mich nicht auf die Folter«, schniefte ich.

Er beantwortete meine Frage nicht. Kramte stattdessen in seiner Tasche, holte ein Taschentuch heraus. Geblümt, nicht besonders frisch. Mitten in der Bewegung hielt er inne, ein Mann hatte sich uns genähert, der in der weißen Einsamkeit wie eine Fata Morgana aufgetaucht war.

»Grüezi miteinander«, sprach er.

»Na«, antwortete der Großvater. »Bei dem Wetter â¦«

Belangloses flog hin und her. Ich versuchte die Tränen zurückzunehmen, doch es war zu spät.

»Wein, mein Schatz, weinen ist gesund«, tröstete der Ota, drehte dem Grabnachbarn demonstrativ den Rücken zu und wandte sich an den unter Schnee begrabenen Erdhügel.

»Lieber Sigi«, begann er, und sein Blick ruhte auf dem schlichten Holzkreuz, »noch weiß es niemand. Dein Sohn Pablo ist wieder aufgetaucht. Abgegeben worden oder zurückgegeben worden, wie immer man das nennen will. Du bist einen Scheißtod gestorben, aber nun geht das Leben weiter.«

»Was soll das bedeuten, Ota?« Ich verstand weniger als nichts. Meinte er wirklich den kleinen Pablo, der vor drei, oder waren es schon vier, Jahren verschwunden war und den wir irgendwo im Himmel, bestenfalls in den USA bei reichen Pflegeeltern vermuteten? Sollte ich mich freuen? Wegen Pablo hatte Sigi sich in Gefahr gebracht. Wegen ihm war unser Bruder gestorben.

Ich fragte meinen Großvater, wie so etwas möglich war, wie das Unmögliche eingetreten sein konnte. Und ich merkte, wie mir die Erregung als warme Welle vom Bauchnabel bis zu den Haarspitzen hochstieg.

»Wo haben sie das Kind gefunden, Ota?«

»In Panama City. Jemand hat ihn ins Foyer der Deutschen Botschaft gestellt. Sie wissen nicht, wer das war.«

»Warum nicht?«

»Weil es am späten Abend passierte. Jemand von der Botschaft hat ihn unten abgeholt. Da war die betreffende Person, es war eine ältere Frau, bereits weg.«

Ich brauchte eine Weile, bis ich unser Glück fassen konnte. Sigi hatte also recht gehabt. Das Kind war entführt worden. Aber von wem? Und warum? Es gab nie Lösegeldforderungen.

Ich löcherte Großvater mit zahllosen Fragen. Wie geht es dem Kind, welche Sprache spricht es, ist es gesund, wo ist es jetzt, was hat Marisol dazu gesagt?

Kurz angebunden, denn Großvater fehlten offenbar die Informationen, antwortete er. Wohlbehalten, gut untergebracht, aber schwierig im Umgang, stellte er klar. Die letzte Frage beantwortete er besonders brummig. »Das ist ja das Problem. Die Mutter ist nicht auffindbar. Deshalb wurden wir informiert. Liana, ich will, dass du fährst. Sobald du die mündlichen Prüfungen hinter dir hast, sobald wir einen Flug gefunden haben, geht s los. Du holst den Jungen. Ich bin zu alt für solche Geschichten.«

Sein breites Glücksgesicht strafte ihn Lügen. Die Augen leuchteten, verjüngten seine Züge. Nein, er war nicht wirklich alt. Vor mir stand ein Lausbub, der sich mordsmäßig freute. Die Vorfreude galt nicht mir, das war mir natürlich klar.

Den Ota als Oberhaupt der Familie zu bezeichnen ist weit untertrieben. Er ist der Kaiser, der über seine Nachkommen herrscht und richtet. Der Großvater fragte nicht. Er tagte mit sich selbst, war Minister, Berater und Zeremonienmeister in einer Person. Wenn er zu einer Entscheidung gelangt war, verkündete er diese und drückte sie durchs Parlament, verwandelte sie in ein Gesetz. In seinen Ansichten war er klar und unbeweglich. Ein tiefer Bergsee. Und so ahnte ich sofort, dass es nicht darum ging, zu verstehen oder an der Entscheidung beteiligt zu werden. Nein, er hatte mich einzig und allein hierherbestellt, um sein Urteil zu verkünden: Ich will, dass du fährst!

Während der Großvater ein paar Tannenzweige aus dem Schnee zupfte, sprach er mit gedämpfter Stimme auf mich ein. Jedes Wort sprach er betont langsam. Die Luft war eisig klar, ich drängte mich in meine Daunenjacke. Erst sein Schlusssatz schreckte mich auf.

»Das Kind wartet im Waisenhaus in Panama City auf dich. Ein Anwalt ist eingeschaltet. Er wird dir helfen und...
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