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In den Wäldern des menschlichen Herzens

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
272 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am25.02.20161. Auflage
Antje Rávik Strubel, die Autorin von ?Kältere Schichten der Luft? und ?Blaue Frau?, erzählt von Reisen in den Mittelpunkt des menschlichen Herzens Leigh. René. Emily. Sara. Sie sind Liebende, Begehrende, sie sind unterwegs und begegnen einander in der kalifornischen Wüste, am Stechlin, in finnischen Wäldern und im Eiswind Manhattens. Renés Verlust der ersten Liebe und Emilys Verschwinden setzen einen Reigen an Beziehungen in Gang, in denen sich klassische Liebesvorstellungen auflösen. Sara. Ute. Katt. Gerade das Oszillieren zwischen Ländern und Geschlechtern entfacht eine Faszination, die sich in unvertrauter Sinnlichkeit und neuen Sexualitäten offenbart. Antje Rávik Strubel erzählt hellsichtig und leidenschaftlich von wilder Neugier, von Unruhe, Aufbruch und einem Begehren, wie man es in der deutschen Literatur lange nicht gelesen hat.

Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Fremd Gehen. Ein Nachtstück« (2002), »Tupolew 134« (2004) sowie den Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens« (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Blaue Frau« wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essayband »Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss«. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam (www.antjestrubel.de)
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextAntje Rávik Strubel, die Autorin von ?Kältere Schichten der Luft? und ?Blaue Frau?, erzählt von Reisen in den Mittelpunkt des menschlichen Herzens Leigh. René. Emily. Sara. Sie sind Liebende, Begehrende, sie sind unterwegs und begegnen einander in der kalifornischen Wüste, am Stechlin, in finnischen Wäldern und im Eiswind Manhattens. Renés Verlust der ersten Liebe und Emilys Verschwinden setzen einen Reigen an Beziehungen in Gang, in denen sich klassische Liebesvorstellungen auflösen. Sara. Ute. Katt. Gerade das Oszillieren zwischen Ländern und Geschlechtern entfacht eine Faszination, die sich in unvertrauter Sinnlichkeit und neuen Sexualitäten offenbart. Antje Rávik Strubel erzählt hellsichtig und leidenschaftlich von wilder Neugier, von Unruhe, Aufbruch und einem Begehren, wie man es in der deutschen Literatur lange nicht gelesen hat.

Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Fremd Gehen. Ein Nachtstück« (2002), »Tupolew 134« (2004) sowie den Episodenroman »In den Wäldern des menschlichen Herzens« (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman »Kältere Schichten der Luft« (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman »Sturz der Tage in die Nacht« (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Blaue Frau« wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essayband »Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss«. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam (www.antjestrubel.de)
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104033402
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum25.02.2016
Auflage1. Auflage
Seiten272 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3820 Kbytes
Artikel-Nr.1862439
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Der Anfang von etwas

Stora Le, Dalsland, Schweden


Alles wurde anders mit ihrem zweiten Sommer im Camp.

Im vorigen Jahr war hier noch braches Land gewesen, auf dem Brennnesseln und gelbe Raute wucherten. Ein alter Holzschuppen hatte als Küche gedient. Inzwischen wurde der Schuppen als Lager benutzt, in dem Paddel, Zelte und Schwimmwesten aufbewahrt wurden, die alle den Schriftzug Hemingway trugen.

Das war der Name des Camps. Teilnehmer der geführten Kanutouren hatten sich über das veraltete Männlichkeitsbild beschwert, das darin zum Ausdruck kam, ausgerechnet hier, wo sie sich erholen wollten. Aber die Campleitung hielt an diesem Namen fest. Die Teilnehmer hatten Outdoor-Urlaub gebucht inklusive Verpflegung und Ausrüstung, Erste-Hilfe-Sets und Wasseraufbereitungstabletten, sie wurden in die Paddeltechnik eingewiesen und über Verhaltensregeln auf Rastplätzen belehrt, sie waren versichert und trugen wasserabweisende Kleidung. Der Name war das Einzige, was noch echte Abenteuer heraufbeschwor. Er erinnerte an Überlebenskämpfe in der Wildnis, an das Ringen mit den Gewalten der Natur, das entschieden wurde nach den großen, unzweideutigen Prinzipien von Sieg oder Tod.

Im letzten Sommer hatten die Scouts Tipis aufgestellt. Sie hatten junge Bäume gefällt und die Stämme entastet und gehobelt, ohne es je vorher gemacht zu haben. Die Aufbauanleitung einer alten Cheyenne-Indianerin aus dem Internet hatte ihnen geholfen, und so standen jetzt Cheyenne-Tipis mit schön gekreuzten, blanken Fichtenstämmen auf der Wiese und erinnerten daran, dass nichts und niemandem ein fester Platz auf der Welt vorherbestimmt war.

 

Katja und René hatten schon im Vorjahr in einem der Tipis geschlafen, nach der langen Anreise von Berlin. Es waren hohe Zelte. Durch eine Öffnung in der Spitze kam frische Luft. Die Feuerstelle in der Mitte war unbenutzt, aber die Leinenplanen waren von der Witterung inzwischen ausgebleicht genug, um den Anschein zu erwecken, dass es sich um Originalstücke handelte.

Während der Tour schliefen sie in einem schnell aufstellbaren Igluzelt. Ihre Gruppe war klein. Fünf Kanus auf der Weite des Stora Le, der sich bis nach Norwegen erstreckte. Schroff ragte Trollön aus dem See, eine Insel mit Kanurastplatz hoch oben auf einem Plateau. Das Wasser um die Insel herum war aufgewühlt. Wellen brandeten an die Klippen, besprengten den Pfad, der im Zickzack vom Ufer aus anstieg. Das Felsplateau war von einer so dünnen, trockenen Erdschicht bedeckt, dass die Heringe beim Straffen der Zeltleinen immer wieder aus dem lockeren Boden flippten. Aber niemand protestierte. Die Aussicht von hier oben wog die Schwierigkeiten auf.

René und Katja spannten eine Plane als Windschutz über die Lebensmittel und stiegen noch einmal zum Ufer hinunter. Sie schoben ihr Kanu ins Wasser, ließen die Gruppe und das Lagerfeuer zwischen den Zelten zurück und paddelten hinaus. Katja saß vorn, René am Ende des Bootes. Als der Grund in die Tiefe abfiel, begannen sie zu angeln. Nach einer Weile fingen Tiere an zu rufen. Die Rufe kamen vom gegenüberliegenden Ufer und mischten sich unter die Fetzen der Songs, die die Gruppe am Feuer zu singen begonnen hatte, einmal klang es wie die deutsche Nationalhymne.

»Sie sollten die schwedische singen«, sagte René, »oder die kanadische.«

»Die kanadische? Weil die Typen im Camp behaupten, die Tipis stammen aus einem Indianerreservat?«

»Die Cheyenne leben in Nordamerika, nicht in Kanada.«

»Sie behaupten, sie hätten die Dinger bei kaputten Hippie-Häuptlingen gegen Halluzinogene eingetauscht«, sagte Katja. »Und die Mädels haben das geglaubt.«

»Die Landschaft hier hat was von Kanada. Riesige Seen, unberührte Weite. Endlose, tiefe, dunkle -«

»Du mit deiner Schwäche für den Norden«, sagte Katja. »Warst du überhaupt schon in Kanada?«

»- Wälder«, sagte René. »Mit einem ungeheuren Fichtenbestand.«

»Wie kommen sie auf sowas Blödsinniges wie die Nationalhymne?« Katja stach das Paddel senkrecht ins Wasser und zog durch, was René mit einem sorgfältigen Schlag ausglich.

»Vielleicht weil sie ein paar Textbruchstücke kennen«, sagte René. »Kannst du dich an den Text erinnern?«

»Kein Bedarf.«

»Er ist mehr wie ein Volkslied.«

Katja sagte nichts. Sie paddelten langsam weiter und achteten darauf, der Angelsehne nicht in die Quere zu kommen.

Dann legte Katja das Paddel aus der Hand, und nur die Steuerschläge Renés hielten das Boot noch in leichter Bewegung auf Kurs.

»Sie beißen nicht an«, sagte Katja.

»Noch nicht.«

 

René fischte gern mit Katja. Sie hatten es im letzten Jahr zum ersten Mal getan. Sie hatten vom Ufer aus geangelt, an einem windstillen, warmen Morgen. Die Holzstämme waren noch feucht gewesen vom nächtlichen Regen. Katja trug knielange, ausgefranste Jeans, ein altes Jackett mit aufgekrempelten Ärmeln und rote Hosenträger. Ihre weißblonden Haare stachen wirr vom Kopf ab in die Luft. Sie hatte Ginger Beer mitgebracht und die kleinen, braunen Flaschen im Wasser gekühlt. Morgennebel trieb auf dem See.

Später hatte Katja ihr Jackett ausgezogen. Sie hatte es über einen Ast gehängt und im Umdrehen Renés Gesicht berührt. Ihre Hand lag um Renés Kinn, das sie zu sich hochgehoben hatte, kräftige, warme Finger. Sie hatte so nah gestanden, dass Renés Haut das raue Band der Hosenträger streifte.

Katja war älter. Sie war schon in Berlins Nachtclubs unterwegs gewesen, als René noch in Neuruppin gewohnt hatte und gerade ein paar Filmklassiker kannte, Desert Hearts, Mädchen in Uniform, High Art. Da hatte Katja schon die Zapfhähne im Roses, im Bierhimmel, im Berghain bedient, war in Safer-Sex-Performances aufgetreten, zu denen sie mit ihrer cremefarbenen, verchromten Chopper fuhr, hatte jeden Drag King kennengelernt und jeder Drag King sie, und an diesem warmen, nebligen Morgen vor einem Jahr hatte sie René den Kopf in den Nacken gebogen.

René hatte sich nicht klargemacht, dass sie zum Küssen hergekommen waren. Hatte nicht damit gerechnet, dass der Kescher und die Köder in den Einweckgläsern, der Wassereimer, die Bleischrote und Rutenhalter zwischen feuchten Stämmen auf Moos den Schauplatz einer romantischen Episode abgeben würden. Unter dem Kuss hatte René lächeln müssen. Erst, als Katja nach ihren Brüsten gefasst hatte, um sie in einem festen Griff zu verankern, hatte sie sich entzogen. Sie hatten Ginger Beer getrunken und aufs Wasser geschaut, bis ein Barsch anbiss. Und als Katja mit gebogener Angel am Ufer stand, in ihren roten Hosenträgern und im gleichen ärmellosen Kapuzenshirt wie jetzt, war das der Moment gewesen, in dem René sich verliebt hatte. Beim Töten hatte sie weggesehen.

 

Sie angelten noch immer in der Mitte des Sees. Die Strömung war schwach, und hinter den Spitzen der Fichten kam noch einmal die Sonne hervor. Im schwindenden Licht, das aufs Kanu fiel, leuchtete Katjas kurzgeschorenes Haar.

Es wurde kühl.

Unter ihnen im Wasser zog ein Schatten entlang, der ein Fisch sein konnte. Aber in der Dämmerung war er nicht gut zu erkennen, und als Katja die Angel aus dem Wasser zog, war der Köder abgefressen. René sah zu, wie sie einen neuen Tauwurm auf den Haken drückte. Sie nahm ihn aus dem Glas, in das sie vorhin, als es noch hell war, die Würmer gesammelt hatten.

»Sie fressen«, sagte René.

»Aber sie beißen nicht an.«

Das Kanu schaukelte, als Katja weit ausholte und die Sehne davonschnellen ließ. Das Auswerfen verursachte ein Sirren, das kurz die Rufe der Tiere und den Gesang der Frauen zerschnitt. Dann verschwamm die Sehne mit der Dunkelheit. Das Einzige, was sie erkennen konnten, war das wippende Rot des Blinkers, das langsam grau wurde.

»Lagerfeuer sind doch genial«, sagte René und hielt das Boot auf Kurs. »Erwecken den Eindruck von Wildheit, wirken aber zivilisatorisch. Kaum brennt eins, fangen die Leute an zu singen. Und nie scheinen ihnen die Texte auszugehen.«

»Die singen bis zum Umfallen«, sagte Katja. »Egal, wie kaputt sie sind. Wenn es heißt, fünfzehn Kilometer, paddeln sie fünfzehn Kilometer, und dann schleppen sie die Verpflegungstonnen trotz Totalerschöpfung noch auf diesen dämlichen Felsen, als gäb´s dafür ´ne Medaille -«

»Du warst auch für Trollön«, sagte René. »Wie im letzten Jahr. Da hat es dir gefallen. Du wusstest, wie steil´s hier ist.«

René achtete darauf, dass ihr Paddel sich nicht in der Angelsehne verfing. Wenn sie sich über den Rand des Bootes beugte, konnte sie nichts erkennen. Tagsüber sah man deutlich die Köpfe auf den Wellen tanzen, aber jetzt sah aus der Dunkelheit nichts zurück.

Sie musste an den Text der deutschen Hymne denken, Väter und Brüder, und an den Text der anderen deutschen Hymne, Väter und Brüder und Ruinen, und dachte lieber an ihr Buch. Sie dachte nicht daran, wie sie es angehen wollte. Sie machte sich keine Gedanken über Aufbau oder Titel, sondern stellte sich vor, wie Katja reagieren würde, wenn es eines Tages geschrieben wäre und bei einem Verlag. Es würde ihr imponieren. Sie würde die Daumen unter ihre Hosenträger klemmen. Skeptisch lächeln. »Werden wir jetzt etwa berühmt?«

Katja würde auf Empfänge gehen wollen, zu Vorträgen und Partys, die ihnen bislang unzugänglich waren. Sie würden ein Teil der Kulturelite sein, der High Society Berlins, weil sie, René, sich einen Namen gemacht hätte. Ein Name, der sie auch schützen würde. Zwei schlanke Frauen in Hosenanzügen, von denen die eine sich die Lippen schminkte, die andere nicht, die ihr weißblondes, kurzgeschnittenes Haar...
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