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Einen Körper haben

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am25.05.20161. Auflage
Der Körper ist Hülle und Spiegel zugleich - ein Leben lang. Die Französon Brigitte Giraud über das Erwachsenwerden und den Verfall des Körpers. Als kleines Mädchen möchte die Icherzählerin lieber ein Junge sein, als junge Frau liebt sie es, begehrt zu werden und zu begehren. Als Mutter ist sie glücklich, den heranwachsenden Sohn Yoto immer neben sich zu haben. Als Yotos Vater bei einem Autounfall stirbt, wird ihr der eigene Körper unerträglich fremd. Bis zu dem Tag, an dem sie wieder wagt, Kleider zu tragen und eins ist mit ihrer äußeren Hülle. Brigitte Giraud erzählt eindringlich von den Wandlungen unsere Seele, die unter die Haut gehen.

Brigitte Giraud wurde 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien) geboren. Sie studierte Deutsch und Englisch und arbeitete als Buchhändlerin u.a. in Lübeck. Sie lebt seit langem in Lyon, wo sie ein Literaturfestival organisiert. Außerdem gibt sie bei ihrem Pariser Verlag Editions Stock eine Literaturreihe heraus. Brigitte Giraud hat mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt erschien bei S. Fischer ?Das fremde Jahr?.
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Produkt

KlappentextDer Körper ist Hülle und Spiegel zugleich - ein Leben lang. Die Französon Brigitte Giraud über das Erwachsenwerden und den Verfall des Körpers. Als kleines Mädchen möchte die Icherzählerin lieber ein Junge sein, als junge Frau liebt sie es, begehrt zu werden und zu begehren. Als Mutter ist sie glücklich, den heranwachsenden Sohn Yoto immer neben sich zu haben. Als Yotos Vater bei einem Autounfall stirbt, wird ihr der eigene Körper unerträglich fremd. Bis zu dem Tag, an dem sie wieder wagt, Kleider zu tragen und eins ist mit ihrer äußeren Hülle. Brigitte Giraud erzählt eindringlich von den Wandlungen unsere Seele, die unter die Haut gehen.

Brigitte Giraud wurde 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien) geboren. Sie studierte Deutsch und Englisch und arbeitete als Buchhändlerin u.a. in Lübeck. Sie lebt seit langem in Lyon, wo sie ein Literaturfestival organisiert. Außerdem gibt sie bei ihrem Pariser Verlag Editions Stock eine Literaturreihe heraus. Brigitte Giraud hat mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt erschien bei S. Fischer ?Das fremde Jahr?.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104035666
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum25.05.2016
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse910 Kbytes
Artikel-Nr.1862481
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Rote Flecken breiten sich aus, sie brennen, entzünden die Haut und kriechen bis auf meine Wangen. Ich bin ein Hummer, in kochendes Wasser geworfen, der innerlich schreit und unfähig ist, seine Gliedmaßen zu bewegen. Jeder Atemzug ist eine unsägliche Anstrengung, ich ringe nach Luft, die das Feuer in meiner Kehle eindämmen soll. Ich höre das Wort »Scharlach«. Ich höre meine Mutter kommen und gehen, merke, wenn sie sich auf mein Bett setzt und mir einen feuchten Waschlappen auf die Stirn legt. Das Fieber ist an seinem höchsten Punkt, manchmal wird alles schwarz. Mein Vater kommentiert das Fortschreiten der Infektion und kann seine Besorgnis nicht verbergen. Er ist aus der Froschperspektive über meinem Bett zu sehen und schwört auf Penicillin.

Als die Krankenschwester kommt, tragen mich meine Eltern auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie wollen vermutlich nicht, dass sie das Schlafzimmer betritt, wo mein Bett neben dem Elternbett steht. Die Trennwand zum Wohnzimmer lässt sich verschieben, ein Geräusch wie ein Donnerhall, der meinen Übergang vom Halbdunkel in die Helligkeit begleitet. Ich lege mich auf den Bauch, drücke die Pobacken zusammen, die gerade entblößt werden, und weiß, dass ich gleich die Zähne zusammenbeißen muss, weil ich ja ein tapferes Mädchen bin. Es ist eine stillschweigende Übereinkunft, ich weiß es instinktiv. Stolz bin ich bereits da. Ich muss die Komplizin meiner Eltern sein, um jeden Preis. Wir drei, verbündet im Haus der Würde. Als der kalte Wattebausch meinen Po berührt, wappne ich mich innerlich gegen den Schmerz, der mich gleich durchzucken wird. Es tut wirklich weh, wissen das die Erwachsenen überhaupt? Ich spüre, wie die Flüssigkeit unter meiner Haut austritt, zähflüssig, und sich dann verteilt. Ich muss es ertragen, damit ich geliebt werde und eine Heldin bin. Ich durchlebe alle Phasen, um die höchste Stufe des Podests zu erklimmen, und meine Belohnung besteht in einem Pfefferminzlutscher, den mir die Krankenschwester jeden Tag gibt. Ich muss insgesamt dreizehn Spritzen über mich ergehen lassen, sieben auf der einen und sechs auf der anderen Seite. Gut, dass man zwei Pobacken hat! Der körperliche Schmerz ist allerdings nicht das Schlimmste, es ist die Scham, halbnackt dazuliegen, weil mir das Nachthemd vor den Augen meiner Eltern hochgeschoben wurde und man meine nackten Pobacken sieht.

 

Anfangs ist mir nicht bewusst, dass ich einen Körper habe. Dass mein Körper und ich für immer zusammenbleiben werden. Ich weiß nicht, dass ich ein Mädchen bin, und ich sehe keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Dingen.

 

Anfangs tue ich, was man mir sagt, ich ziehe meine Strümpfe hoch, ich streichle keine Tiere, die ich nicht kenne, nehme von fremden Männern auf der Straße keine Bonbons an. Ich bin völlig unbewusst. Ich male Muster an beschlagene Fensterscheiben. Ich spiele mit Knetmasse, forme Männchen und Schlangen daraus, unzählige Schlangen, die ich zwischen den Händen rolle. Ich denke nicht. Ich esse, ich spiele, ich schlafe.

 

Ich klettere auf die Bänke in der Grünanlage, erklimme die Rutsche von unten, hänge mich an den Knien auf. Ich erprobe meinen Körper, eher in Shorts als in einem Kleidchen, ich springe von der obersten Treppenstufe, ich gehe in Kellerräume und tue so, als hätte ich keine Angst, ich setze mich über Verbote meiner Eltern hinweg, stoße die Türen mit einem kräftigen Fußtritt auf, bastle aus einem Stock eine Waffe und ein Messer, das ich Robi ausleihe. Ich spüre, dass ich mich wehre, aber ich weiß nicht, wogegen. Ich wehre mich gegen alles Mädchenhafte, weiß es aber nicht. Alles Zarte, Empfindsame. Ich bin ein Bulldozer, ein kleiner Fels, der nicht weint, wenn er sich die Knie aufgeschürft hat. Der die Demütigung, vom Rad gefallen zu sein, für sich behält. Ich schiebe beim Gehen die Hände in die Taschen, sage »Mhmm«, ich sage »Schon klar«.

 

Vermicelle - Suppennudel, sagt meine Mutter, die nichts ahnt, kleiner Aal, dabei ist es eine Made. Kleines Tierchen, komm aus deinem Panzer hervor. Doch es hat Krallen, es ist ein wildes Tier, ein brüllender Königstiger. Nein, meine Tochter, du sollst nicht beißen, du musst aufhören, auf allen vieren zu gehen.

 

Meine Mutter weiß, dass ich einen Körper habe, sie will ihn bekleiden, ihn herzeigen, ohne ihn zur Schau zu stellen, ihn schützen, indem sie ihn zur Geltung bringt. Sie näht mir ein Kleid mit Rüschen und einem komplizierten Halsausschnitt. Ich stehe geduldig vor dem Spiegel, als sie die Stoffteile zusammenheftet, mit Nadeln hantiert. Sie entscheidet für mich ein Schicksal als Mädchen, und die Kleider, die sie für mich näht, sind viel zu eng, ersticken mich eher, als dass sie mich umhüllen. Sie merkt nicht, dass sie mich daran hindert, mich zu bewegen, zu atmen, zu widersprechen.

 

Ich will ausbrechen, lehne diese Sachen ab. Wenn der Sommer kommt, gehe ich mit nackten Füßen über den Sand, nur in einem Badehöschen. Ich tolle in den Wellen herum, die am Ufer auslaufen. Das Wasser tut mir gut, ich bin wie in einer Waschmaschine und komme um einiges ruhiger wieder heraus. Anschließend spiele ich mit Sand, forme aber keine Mädchensachen wie Kuchen oder Törtchen, sondern normale Sachen, mit verkalkten Muscheln und stinkenden Algen. Ich vermische Sand und Wasser und stelle mir dabei vor, ich sei eine kleine Baufirma. Ich baue Brücken, Gräben und Burgmauern.

 

Meine Mutter sagt, eine Prinzessin sei in meinem Turm eingesperrt, eine Prinzessin in einem paillettenbesetzten, langen Kleid, die man befreien müsse. Auf meiner Baustelle hat eine Prinzessin jedoch nichts zu suchen; meinetwegen kann sie krepieren!

 

Ich habe zwei Augen, zwei Ohren, einen Mund. Man lehrt mich zu sprechen, zu lächeln. Man sagt mir, ich dürfe nicht laut reden. Ich habe zwei Schultern, zwei Arme. Man fordert mich auf, die Taschen zu tragen, wenn wir vom Markt nach Hause gehen. Ich habe zwei Lungenflügel, einen Magen. Man bringt mir bei, mit einer Gabel zu essen und nicht mit vollem Mund zu sprechen. Man schärft mir ein, nicht auf dem Stuhl herumzuzappeln. Die Füße nicht auf den Tisch zu legen. Mein Höschen nicht zu zeigen, wenn ich auf dem Sofa sitze. Mich nicht auf die Erde zu setzen. Man verlangt von mir, mich noch einmal zu kämmen. Ich habe rote Wangen, zerknitterte Kleidung.

 

Von einem Tag auf den anderen ist ein Bruder da, den ich nicht im Körper meiner Mutter vermutet hatte. Man legt mir das Baby in die Arme, um mir eine Freude zu machen, damit ich diese neue Realität begreife. Mein Bruder ist schwer. Ein passives Bündel in meinen Armen. Ein Baby, das sich manchmal verbiegt, allen Platz für sich beansprucht, stinkende Duftwolken verbreitet und einen dort drückt, wo es weh tut. Ein pausbäckiger Säugling ohne Haare, massig, kräftig, der einen mit seinem Gebrüll manchmal in den Wahnsinn treibt. Mein Bruder, dessen Kopf trotz seiner zarten Haut oft gerötet ist, der rebellisch und störrisch ist. Helle Wimpern und Härchen. Sein Schädel ist angeblich sehr zerbrechlich, ganz weich, ich lerne das Wort Fontanelle, und mir wird fast übel. Wenn die Knochen nicht zusammenwachsen, wird mir das Hirn irgendwann über die Finger fließen. Mein Bruder macht mir Angst, man weiß nicht, wo er hinschaut, es ist, als wäre ich gar nicht da, als hätte er mich nicht gesehen, nicht gespürt.

 

Ich beobachte und betrachte den Körper meines Bruders, wenn meine Mutter seine Windeln wechselt. Ich finde ihn unproportioniert und frage mich, ob das normal ist. Die Füße am Ende seiner Beinchen sind erstaunlich gelenkig, und sein Kopf erscheint mir viel zu groß. Es gibt bei uns zu Hause kein Wort für das, was er zwischen den Beinen hat. Dieses Ding richtet sich ein bisschen auf, wenn er pinkelt, wenn meine Mutter ihn mit einer Hand auf dem Wickelgestell festhält.

 

Meine Mutter näht auf einer Nähmaschine, und es klingt am Abend im Wohnzimmer wie das leise Rattern eines Maschinengewehrs. Das Fußpedal unter dem Tisch, mal schneller, mal langsamer. Ihre Hände ziehen den Stoff glatt. Ordnung und Konzentration. Auf die Nadel aufpassen, die kann stechen, sich in den Finger bohren. Das Rattern der Nähmaschine läutet bei uns die Nacht ein. In den Schlaf zu gleiten ist mit diesem Rattern verbunden, und das Vibrieren begleitet mich manchmal bis in meine Träume und strömt durch meinen ganzen Körper, hinter der Trennwand.

 

In der neuen Wohnung bekomme ich ein eigenes Zimmer, mit einer Tür, die ich abschließen kann. Ich kann darin auf und ab gehen, ich schreite durch den kleinen Raum, gehe um das Bett herum. Ich kann den Stuhl unter meinem Schreibtisch hervorziehen und mich daraufsetzen, ich kann mich mit dem Rücken an die Wand lehnen, mich langsam auf den Boden gleiten lassen, mich auf dem Linoleum ausstrecken und mir vorstellen, ich sei tot, ohne dass sich jemand aufregt. Ich fühle mich hier zu Hause, es ist das erste Mal, dass ich einen Raum für mich habe, die ganze Luft allein einatmen kann. Ich kann entscheiden, ob ich das Fenster aufmachen will, und dann bauschen sich die Vorhänge und tragen den Verkehrslärm der Straße herein. Ich kann das Fenster schließen, wenn ich Lust habe und mich ganz auf meine Gesichtszüge konzentrieren, die ich im Spiegel eingehend studiere. Ganz neues Aug-in-Aug in der Privatsphäre meines Zimmers, ein Tête-à-tête ohne Zeugen. Ich studiere jedes Detail, jeden Millimeter meiner Haut, vorne, hinten, dafür muss ich mir eine Reihe von Verrenkungen ausdenken, und mir gefällt nicht alles, was ich dabei entdecke. Ich lasse den...
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Autor

Brigitte Giraud wurde 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien) geboren. Sie studierte Deutsch und Englisch und arbeitete als Buchhändlerin u.a. in Lübeck. Sie lebt seit langem in Lyon, wo sie ein Literaturfestival organisiert. Außerdem gibt sie bei ihrem Pariser Verlag Editions Stock eine Literaturreihe heraus. Brigitte Giraud hat mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt erschien bei S. Fischer >Das fremde Jahr