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Die Verteidigung des Paradieses

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am10.03.20161. Auflage
Thomas von Steinaecker schreibt einen atemberaubenden Roman über die Zukunft unserer Gegenwart: literarisch virtuos, philosophisch radikal und zutiefst berührend. Er möchte ein guter Mensch sein. Aber Heinz lebt in einer Welt, die Menschlichkeit nicht mehr zulässt. Deutschland ist verseucht und verwüstet, Mutanten streifen umher, am Himmel kreisen außer Kontrolle geratene Drohnen. Zusammen mit seinem besten Freund, einem elektrischen Fuchs, dem Fennek, wächst Heinz in einer kleinen Gruppe Überlebender in den Bergen auf. Er nimmt sich vor, die verlorene Zivilisation zu bewahren, sammelt vergessene Wörter und schreibt die Geschichte der letzten Menschen. Doch was nützen Heinz Wissen und Kunst jetzt noch? Da gibt es plötzlich das Gerücht, weit im Westen existiere ein Flüchtlingslager. Und die Gruppe bricht auf zu einem mörderischen Marsch ins vermeintliche Paradies ...

Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextThomas von Steinaecker schreibt einen atemberaubenden Roman über die Zukunft unserer Gegenwart: literarisch virtuos, philosophisch radikal und zutiefst berührend. Er möchte ein guter Mensch sein. Aber Heinz lebt in einer Welt, die Menschlichkeit nicht mehr zulässt. Deutschland ist verseucht und verwüstet, Mutanten streifen umher, am Himmel kreisen außer Kontrolle geratene Drohnen. Zusammen mit seinem besten Freund, einem elektrischen Fuchs, dem Fennek, wächst Heinz in einer kleinen Gruppe Überlebender in den Bergen auf. Er nimmt sich vor, die verlorene Zivilisation zu bewahren, sammelt vergessene Wörter und schreibt die Geschichte der letzten Menschen. Doch was nützen Heinz Wissen und Kunst jetzt noch? Da gibt es plötzlich das Gerücht, weit im Westen existiere ein Flüchtlingslager. Und die Gruppe bricht auf zu einem mörderischen Marsch ins vermeintliche Paradies ...

Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104030241
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum10.03.2016
Auflage1. Auflage
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1882 Kbytes
Artikel-Nr.1862491
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Das schwarze Heft

Ich wache auf, ich habe Durst. Nicht nur ein bisschen, sondern Durst à la: Noch zehn Minuten, und ich bin tot. Es ist mitten in der Nacht. In meinem Zimmer haben meine Eltern den Homie, unseren Haus-Computer, ausgeschaltet, damit ich nicht an ihm herumspiele. Also muss ich hinüber zum Lichtschalter, und das, obwohl ich wirklich riesige Angst vor der Dunkelheit habe. Und wenn ich riesig sage, meine ich schrecklich. Ich nehme also all meinen Mut zusammen, steige aus dem Bett und stolpere los. Bei jedem Schritt kleben meine nackten Füße kurz am Parkettboden fest. Dazu taucht in meinem Kopf ein absolut unheimliches Bild auf: wie sich die Haut der Sohlen in die Länge zieht. Endlich ertaste ich an der Wand den Schalter. Für einen Moment hatte ich befürchtet, ich befände mich gar nicht in meinem Zimmer, sondern in einer gewaltigen, leeren Halle ohne Ausgang auf einem fremden Planeten. Aber da ist der Schalter, ich wische darüber, und es ist mein Zimmer, auf dem Boden liegt mein Spielzeug, da steht mein Kleiderschrank, da mein Tisch mit dem Mal-Screen. Trotzdem sieht im elektrischen Licht alles anders aus als tagsüber. Als wäre hier gerade eben erst etwas geschehen, das nichts für Kinder ist. Im hellen Kegel, der aus meiner Tür in den Flur fällt, husche ich los, am Zimmer meiner Eltern und dem meines kleinen Bruders vorbei, vorbei am Erbstück, dem Wandteppich, der eine golden schimmernde Stadt mit Zinnen und Türmen zeigt. Endlich in der Küche, rufe ich außer Atem: »Licht!« Sofort führt der Homie meinen Befehl aus. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um den Kühlschrank zu öffnen, strecke mich nach der Milchpackung, jetzt habe ich sie, sie ist schwerer als gedacht, aber heute rutscht sie mir nicht aus der Hand so wie letztes Mal. Ich drücke die Lasche auf. Leise ploppend zerplatzt eine durchsichtige Blase in der dreieckigen Öffnung. Das Hologramm auf der Packung ist Schönheit deluxe: Eine Kuh und ein alter Mann mit Schlapphut, grauem Bart und einem knorrigen Stab in der Hand schmiegen die Köpfe aneinander. Vor lauter Seligkeit haben beide ihre Augen zu Schlitzen verengt. Darunter steht ein Wort, von dem ich, obwohl ich noch nicht lesen kann, weiß, was es bedeutet, weil es meiner Mutter so wichtig ist. ARTGERECHT. Nur mal fürs Protokoll: Ich habe niemanden aufgeweckt und bin ganz allein nachts in die Küche geschlichen. Wenn ich meinen Eltern morgen davon erzähle, werden sie staunen. Vielleicht werden sie stolz auf mich sein. Wie die Zeit vergeht. Genau so sagen sie das manchmal. Ich führe die Kanten des Kartons an den Mund und spüre, wie die Milch durch meinen Körper fließt, durch meine Kehle, meine Brust, jetzt durch mein Herz, weiß und kalt.

 

Nur in absoluten Ausnahmesituationen rufe ich mir solche Glücksmomente deluxe aus der Voruntergangszeit ins Gedächtnis. Anders als sonst blieb ich also heute Morgen noch auf meiner Matratze liegen, während die anderen schon unten in der Stube rumorten. Jedes einzelne Altwort aus meiner Ich-hole-mir-Milch-aus-dem-Kühlschrank-Erinnerung flüsterte ich vor mich hin. Es ist ein ziemlicher Jammer, dass hier auf unserer Alm keiner mehr all die schönen Wörter braucht. Aber klar, was sollen die anderen auch mit Parkett, was mit Erbstück oder artgerecht anfangen, wenn das, was wirklich zählt, Vorräte, Ernte und Fleisch heißt? Ich stelle mir manchmal vor, die Altwörter wären kleine befellte Wesen und würden sterben, wenn man sich nicht richig um sie kümmert.

Ich muss gestehen, obwohl es ein wenig strange klingt: Ich habe das Gefühl, dass ich für diese Altwörter verantwortlich bin. Vielleicht versuche ich deshalb, sie mir so genau zu merken. Während ich putze, ausaste, die Schweine füttere oder was auch immer tue, sage ich mir all die inneren Listen, die ich in den vergangenen Jahren erstellt habe, wieder und wieder vor. Das hilft. In meiner aktuellen Top Ten der besten Altwörter ever steht zurzeit Salbader auf Nummer eins. Aber auch die Nummer zwei, weidlich, ist heftig. Genauso wie Amnestie. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Demonstration, Plenarsaal, Internet. Ich bin verrückt. Es ist schrecklich.

Aber ich wollte ja eigentlich von heute Morgen erzählen, von meinem fünfzehnten Geburtstag. Also. Ich bin aufgewacht, habe noch, wie gesagt, ganz kurz über ein paar Altwörter nachgedacht und bin wirklich freudigst aus unserer Schlafstube durch die Bodenluke die Leiter hinuntergeklettert, um Cornelius, Jorden, Chang, Özlem und Anne, die schon beim Frühstück saßen und besprachen, was es zu tun gebe, einen »wunderbaren Guten Morgen« zu wünschen. Das »wunderbar« habe ich ein klein wenig betont, weil dieses »wunderbar« ein gutes Wort ist, um daran anzuknüpfen, zum Beispiel mit »Einen wunderbaren Geburtstag wünsche ich dir!« oder so etwas in der Art. Kann schon sein, dass ich dabei ein wenig zu erwartungsvoll geguckt habe. Jedenfalls hat Jorden das alles wieder einmal in den falschen Hals bekommen.

»Schaust´n so?« Er blickte nur kurz von seinem Teller auf und grummelte dann in seinen langen dünnen Bart: »Is was?«

Na ja. Irgendwie war schon was: Niemand gratulierte mir zu meinem Geburtstag. Aber natürlich auch kein Grund zum Heulen, schließlich war ich ja nun wirklich kein Kind mehr. Also redete ich mir ein: Lass die erst mal richtig wach werden. Bestimmt ist Cornelius der Erste, der gleich was sagt. Irgendwie nahm ich es als ein Zeichen, dass er seinen himmelblauen Leinenanzug angezogen hatte, von all seinen Anzügen der mit den wenigsten Löchern. Cornelius trug ja trotz der Hitze immer wieder einen seiner sogenannten Sommeranzüge. Aber heute, da war ich mir sicher, trug unser weltbester Leader eben den himmelblauen extra wegen mir.

Plötzlich zischte er in Richtung Tür: »Gschgsch!« Vorfreude; doch dann sah ich das verschwommene haarige Gesicht an der Scheibe, die dunkle Gestalt, den Affen, der neugierig seine feuchte Schnauze gegen das Fenster presste. Sofort sprang Jorden, der wieder einmal in der allermiesesten Stimmung war, auf, stürmte nach draußen und begann, um ein Altwort zu gebrauchen, unflätig zu schimpfen und zu schreien. Seelenruhig wandte der Pavian unserer Hütte seinen fetten roten Popo zu und hoppelte über die Wiese, schaute sich herausfordernd lange um und setzte sich erst wieder in Bewegung, nachdem Jorden einen Stock in seine Richtung geschleudert hatte. Jetzt kam Leben auch in die anderen Affen, die in der großen Eiche am Waldrand hockten. Vor Begeisterung über das Schauspiel kreischten und sprangen sie auf den Ästen herum. Eines der Weibchen fletschte grinsend die Zähne, und es kam mir so vor, als würde es mich, Heinz, den Honk, auslachen.

In der Hütte machte sich derweil einer nach dem anderen bereit, an die Arbeit zu gehen. Ich war wirklich so nahe dran, Cornelius zu fragen, ob er nicht etwas vergessen habe. Bisher war doch immer der erste Februar, egal ob ich Mist gebaut hatte oder nicht, mein Festtag gewesen, Heinz-Tag.

Als hätte sie in diesem Augenblick meine Gedanken erraten, sagte Özlem etwas Herzliches, die Sommersprossen auf ihren hohen Wangenknochen tanzten, ich strahlte ihr ins Gesicht, freute mich riesigst - sie meinte allerdings gar nicht mich, sondern redete, während sie ihre schwarzen Locken zu einem Pferdeschwanz band, mit Chang, mit dem sie händchenhaltend abzog. Ich hörte, wie der Name Romy fiel. Sie sprachen ihn ganz fürsorglich aus. Also wollten sie nach der kranken Kuh schauen, die wir so getauft hatten und die seit gestern lahmte. Jorden war da schon weggestampft, klar, um erst einmal zu trainieren, wie er es nannte. Die anderen sagen, früher habe er sich fast ausschließlich um die Tiere und die Felder gekümmert - und jetzt mache er nur mehr seine sinnlosen Übungen. Aber die gute alte Anne, dachte ich mir, unsere Gemeinschaftsomi wird sich doch etwas für mich ausgedacht haben! Sie trat zu Cornelius, er streichelte ihr über die Schulter. Er flüsterte ihr irgendwas zu, wieder hörte ich Romy, immer bloß Romy, Anne seufzte tief, wie sie es manchmal tut, band sich ihren selbstgeflochtenen Strohhut ums Kinn und blinzelte in meine Ecke. Ich richtete mich auf. Sie sah mich gar nicht, schnarrte ein »Also dann« in Cornelius´ Richtung, und weg war sie.

Ich schwöre, all das hätte mich beinahe getötet. Ich knetete die Hände. Überlegte intensiv. Waren sie sauer auf mich? Manchmal konnten sie ja ganz schön angepisst sein, weil ich wieder, anstatt zu arbeiten, vor mich hin geträumt hatte. Früher hat Cornelius mich unseren Pinocchio genannt und gesagt, ich solle mal gut aufpassen, dass mir vor lauter Lügen nicht eine lange Nase wächst. Vor ungefähr einem Jahr hat es mir überall tierisch in den Beinen und Armen gezogen, und ich dachte schon, ich sei krank, und wenn ich sage krank, meine ich krank-krank, bis die anderen erklärten, ich komme jetzt wohl in das, was Pubertät heißt. Dann werde es bald erst so richtig schlimm mit mir. Ganz schlimm ist es nicht geworden, finde ich, aber ich bin seitdem fast jeden Monat ein Stückchen gewachsen, weswegen ich ab und zu heimlich vor unserem Spiegel im Klo stehe, dessen Glas grüne Flecken zuwuchern wie Schlingpflanzen die Tümpel im Wald. Immer wieder betaste ich meine Nase. Sie ist, wenn meine Berechnungen stimmen, mindestens einen Zentimeter länger geworden. Und obwohl ich weiß, dass das eigentlich nicht sein kann, befürchte ich manchmal echt, dass dieser eine Zentimeter vor allem die Folge meiner pinocchiomäßigen Untaten ist.

Als ich beispielsweise...
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Autor

Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.