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Mit dem Kindertransport in die Freiheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
204 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am16.11.20151. Auflage
Die Lebensgeschichte eines jüdischen Berliner Jungen, der im Dezember 1938 fliehen konnte, sich in der Fremde durchschlagen musste, blutjung als britischer Soldat gegen Hitler kämpfte, das Rheinland als Besatzungssoldat erlebte und 1947 nach Palästina auswanderte - gerade recht, um dort am Unabhängigkeitskrieg teilzunehmen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Gideon Behrendt, geboren 1924 in Berlin als Günther Behrendt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandert er illegal nach Palästina ein, schließt sich der zionistischen Untergrundorganisation Haganah an und kämpft im Unabhängigkeitskrieg. 1957 wird er im Range eines Hauptmanns aus der israelischen Armee entlassen. Anschließend arbeitet er in einer Fabrik, bevor er von 1964 bis 1984 eine Reitschule betreibt. Nach einem Aufbaustudium wirkt er bis 1998 als Sonderpädagoge für Behinderte. - Seine Erinnerungen schrieb Behrendt unter dem Eindruck eines Besuches in seiner Heimatstadt Berlin nieder.
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Produkt

KlappentextDie Lebensgeschichte eines jüdischen Berliner Jungen, der im Dezember 1938 fliehen konnte, sich in der Fremde durchschlagen musste, blutjung als britischer Soldat gegen Hitler kämpfte, das Rheinland als Besatzungssoldat erlebte und 1947 nach Palästina auswanderte - gerade recht, um dort am Unabhängigkeitskrieg teilzunehmen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Gideon Behrendt, geboren 1924 in Berlin als Günther Behrendt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandert er illegal nach Palästina ein, schließt sich der zionistischen Untergrundorganisation Haganah an und kämpft im Unabhängigkeitskrieg. 1957 wird er im Range eines Hauptmanns aus der israelischen Armee entlassen. Anschließend arbeitet er in einer Fabrik, bevor er von 1964 bis 1984 eine Reitschule betreibt. Nach einem Aufbaustudium wirkt er bis 1998 als Sonderpädagoge für Behinderte. - Seine Erinnerungen schrieb Behrendt unter dem Eindruck eines Besuches in seiner Heimatstadt Berlin nieder.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105605851
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum16.11.2015
Auflage1. Auflage
Seiten204 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1864289
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kindheit in Berlin

Während ich warm und gut genährt als Embryo im Mutterleib geborgen war, ging es draußen drunter und drüber. In Deutschland wütete die größte Inflation aller Zeiten. Ein Brot kostete Millionen von Mark, die Gehälter und Löhne wurden täglich, manchmal sogar zweimal täglich ausgezahlt, damit Arbeiter und Angestellte schnell in die Läden laufen konnten um Lebensmittel zu kaufen, ehe die Preise noch weiter in die Höhe schossen. Das Geld musste meistens in Koffern oder Riesentaschen getragen werden, so umfangreich waren die gebündelten Papierscheine.

Als die Inflation ihren Gipfel überschritten hatte und eine relative Stabilität in Aussicht stand, musste ich meinen warmen, geschützten Hafen verlassen und wurde in diese kalte, hasserfüllte Welt hinausgestoßen. Um präzise zu sein, war es zu später Stunde am 6. Dezember des Jahres 1924, als ich meine Ankunft mit lauter, starker Stimme verkündete. Ich war ein gesundes Menschenexemplar und wollte, dass es die ganze Welt wissen - und hören - sollte. Ich nehme an, dass meine Mutter glücklich war mich nun neben sich liegen zu haben. Auch die Hebamme war sicher zufrieden ihre Arbeit getan zu haben, sodass sie endlich nach Hause gehen konnte.

Da war ich also, gepackt und gebündelt, Günther Behrendt genannt, der Sohn der stolzen Eltern Bernhard und Ella Behrendt, geborene Birnbaum, mosaischer Religion. Ich hatte einen großen Mund, wenn es ums Essen und Schreien ging, war ansonsten aber - das heißt im Schlaf - sehr lieb und süß, wie mir später erzählt wurde.

An meinem achten Lebenstag fand eine festliche, wenn auch bescheidene Feier zu meinen Ehren statt: meine Berit Mila, meine Beschneidung. Einige Familienmitglieder und Gäste waren geladen. Natürlich erinnere ich mich weder an die Feier noch an das gute Essen, welches bei diesen Simches[1], Feierlichkeiten, nie fehlen darf, glücklicherweise aber auch nicht an die Schmerzen, die ich als kleiner Mann zu ertragen hatte. Alle Anwesenden waren sicher stolz, bei dieser uralten Zeremonie zugegen zu sein, es kommt ja nicht jeden Tag vor, dass ein Knabe mit so starkem Stimmvolumen in den Bund von Abraham, Isaak und Jakob aufgenommen wird. Ich war also der Mittelpunkt des Tages, doch nehme ich an, dass ich höchst zufrieden gewesen bin, als der Tag vorüber war.

Nun stelle ich mir selbst die Frage: Ist es ein glücklicher oder ein unglücklicher Umstand, dass meine frühe Kindheit unklar und vernebelt in meinem Gedächtnis verborgen ist, ja sogar in totale Vergessenheit geriet? Vielleicht ist es für mich ein Glück und ein Unglück zugleich. Es ist zu bedauern, weil mir später erzählt wurde, wie sehr mich meine Mutter als Baby geliebt hatte. Mein Dasein muss ihr ganzes Glück gewesen sein, der Sonnenstrahl in ihrem sonst grauen und allzu kurzen Leben. Vor meiner Geburt - es kann auch kurz danach gewesen sein - erkrankte sie nämlich an Schwindsucht, einer Krankheit, die in den Nachkriegsjahren weit verbreitet war. Tuberkulose war damals unheilbar. Vielleicht ist es ein Segen, dass ich diese Periode der Krankheit und des Leidens meiner Mutter vergessen habe.

Laut Geburtsurkunden wurden mein Bruder Heinz und ich in der Schönhauser Allee geboren, doch kann ich mich nur an die Zeit erinnern, als wir in der Kastanienallee wohnten, in einem Arbeiterviertel von Berlin. Die Straße war zu beiden Seiten mit großen Kastanien gesäumt. Die Häuser waren vier oder fünf Etagen hoch, sauber, gepflegt, mit großen Fenstern. Die Bewohner der Wohnungen, die zur Allee gingen, erfreuten sich eines gewissen Ansehens. Haustüren und Treppenhäuser führten von der Straße direkt hinauf in die Wohnungen der Vorderhäuser.

Doch hinter jedem Vorderhaus standen zwei, manchmal sogar drei Hinterhäuser. Diese waren um quadratische Hinterhöfe gebaut, die mit grobem Kopfsteinpflaster ausgelegt waren. Ein breiter Eingang oder eine Durchfahrt, durch die ein Pferde- oder ein Lastwagen bequem passte, führte zum ersten, zweiten und dritten Hinterhof. Die Parterrewohnungen der Hinterhöfe waren meistens von Bäckereien, Werkstätten oder kleinen Fabriken belegt. Manchmal befand sich sogar eine Molkerei im Hinterhof, wo man die Milch gleich vom Produzenten kaufen konnte. Die Leute, die direkt über einer solchen Molkerei wohnten, hatten den Vorteil, ihre Wohnung im Winter biologisch und unentgeltlich geheizt zu bekommen, dafür aber mussten sie im Sommer Schwärme von Fliegen und sonstigem Ungeziefer ertragen. Es gab damals keine abgesonderten Industriezentren, gerade die Arbeiterviertel hatten kleine Produktionsbetriebe und Werkstätten in ihrer Mitte. Natürlich in den Hinterhöfen.

Die Fenster der Hinterhäuser blickten oft auf kahle Wände. Ich erinnere mich ganz lebhaft an unseren Hof, denn beim Hinausgucken aus dem Fenster unserer Wohnung im zweiten Stock gab es ständig etwas Interessantes zu sehen. Da unten waren Straßenmusikanten, die sentimentale Lieder sangen oder spielten, welche man heute wahrscheinlich Schlager oder Hits nennen würde. Dazu kamen Clowns, Akrobaten und andere, die ihre Künste vorführten. Doch die großen Lieblinge der Slums und Hinterhöfe Berlins waren immer die Männer mit ihren Leierkästen. Manche von ihnen hatten dressierte Affchen, die in Papier gewickelte Pfennige einsammelten, welche die Bewohner ihnen aus den Fenstern zuwarfen. Je sentimentaler die Lieder oder je besser die Sänger, desto mehr Pfennige prasselten aufs Kopfsteinpflaster herunter. Sonnabend war der Tag, an dem die meisten Münzen vom Himmel fielen, weil freitags gewöhnlich Zahltag der Arbeiter war und die Leute noch etwas Kleingeld übrig hatten, bevor sie ins Wirtshaus oder in die Eckkneipe gingen.

Der Künstler Heinrich Zille malte seine Eindrücke von den Hinterhöfen Berlins, dem »Milljöh«, ähnlich wie Toulouse-Lautrec das Paris »hinter den weichen Vorhängen« in seinen Bildern festhielt.

Als mein Bruder Heinz sechs oder sieben Jahre alt war, musste er schon mithelfen und großer Bruder spielen. Mit anderen Worten, er musste mich im Kinderwagen spazieren fahren. Heinz hatte allen Grund, diese Spaziergänge zu hassen und erzählte davon oft in späteren Jahren. Wenn ich etwas haben wollte und es nicht schnell genug bekam, dann schrie ich aus Leibeskräften, so hysterisch, dass die Leute auf der Straße stehen blieben und meinen Bruder beschuldigten mich misshandelt zu haben: »Was hast du denn diesem kleinen, süßen Jungen nur angetan? Du solltest dich schämen, du Rabiat!«, oder »Du verdammtes Biest, wie kannst du diesem armen, unschuldigen Kind wehtun?«, oder »Du solltest selbst mal anständig versohlt werden!« Armer Heinz. Manchmal verursachte mein Gebrüll einen Menschenauflauf, man versammelte sich um meinen Kinderwagen und war drauf und dran Heinz zu schlagen oder gar zu lynchen. Kein Wunder, dass Heinz mich dies nie vergessen ließ. Der Erstgeborene zu sein mag sicher seine Vorteile haben, wenn es um eine Erbschaft oder einen Adelstitel geht. Je niedriger aber die Aussicht auf so etwas ist - wie in unserem Fall -, desto höher ist der Preis für so ein fragliches Privileg.

Meine Mutter kenne ich fast nur von Bildern, aber an meinen Vater erinnere ich mich gut. Er kam täglich mit seinem Fahrrad von der Arbeit. Ich muss um die zwei Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Heinz wurde damals in ein jüdisches Waisenhaus nach Emden geschickt, während ich zu Pflegeeltern in Berlin kam. Diese Pflegeeltern sowie auch die Zeit, in der ich bei ihnen war, sind mir gänzlich aus dem Gedächtnis entschwunden. Nur der Familienname der Pflegeeltern, Redlich, ist mir in Erinnerung geblieben, wahrscheinlich, weil dieser Name noch öfters nach meiner Rückkehr erwähnt wurde.

Als ich jedoch nach drei Jahren Abwesenheit nach Hause kam, gab es keinen Empfang und schon gar keine Feier für mich. Meine Mutter war immer noch im Spital. Unsere Großmutter, die wir Omama nannten, wohnte nun bei uns in der Kastanienallee und versorgte uns und die Wohnung, obwohl sie bereits an die achtzig war. Heinz kam auch zurück aus Emden. Es hatte ihm sehr gut im Waisenhaus gefallen. Er war nun schon fast dreizehn Jahre alt und erzählte, wie Leid es ihm tat, dass er zurück nach Berlin musste, denn in weniger als einem Jahr hätte er in Emden seine Bar Mizwa gefeiert. »Alle Waisenkinder erhielten wunderbare Geschenke zur Bar Mizwa von den Emdener Gemeindemitgliedern«, klagte er, »und nun werde ich gar kein Geschenk bekommen.« Leider hatte Heinz Recht. Er hatte nämlich überhaupt keine Bar Mizwa. Noch dazu hatte er es nun schwer in der Schule wegen des Schulwechsels und er hatte seine Freunde und Kameraden aus Emden verloren.



Meine Mutter Ella Behrendt, geborene Birnbaum



Wir hatten nicht weit zu gehen, unsere Schule war in der Kastanienallee, gleich unserer Wohnung gegenüber. Mir fiel das Lernen leichter als meinem Bruder. Ich erinnere mich ganz gut an meine erste Klassenlehrerin, weil ich irgendwie dachte, ich sei ihr Lieblingsschüler, denn sie zog mich den anderen Jungen vor. War ich so viel begabter als meine Mitschüler? War ich so ein guter und netter Junge? Lange Zeit war ich davon fest überzeugt. Mir wurde viel später erst klar (oder flüsterte es mir jemand ins Ohr?), warum unser Fräulein ausgerechnet mich so oft und so freundlich anlächelte. Das war nicht etwa wegen meiner Schönheit, Klugheit oder Freundlichkeit, sondern sie hatte - ganz einfach - mehr als ein Auge auf meinen Vater geworfen, war von ihm fasziniert, fühlte sich zu ihm hingezogen. Rückblickend kann ich mir nicht vorstellen, dass mein Vater das schöne Fräulein in seinen romantischen Gefühlen...
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Autor

Gideon Behrendt, geboren 1924 in Berlin als Günther Behrendt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandert er illegal nach Palästina ein, schließt sich der zionistischen Untergrundorganisation Haganah an und kämpft im Unabhängigkeitskrieg. 1957 wird er im Range eines Hauptmanns aus der israelischen Armee entlassen. Anschließend arbeitet er in einer Fabrik, bevor er von 1964 bis 1984 eine Reitschule betreibt. Nach einem Aufbaustudium wirkt er bis 1998 als Sonderpädagoge für Behinderte. - Seine Erinnerungen schrieb Behrendt unter dem Eindruck eines Besuches in seiner Heimatstadt Berlin nieder.Wolfgang Benz, 1941 in Ellwangen/Jagst geboren, Dr. phil., Historiker, war bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und von 1990 bis 2011 Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Zudem war er Herausgeber der im Fischer Taschenbuch erschienenen Buchreihe »Europäische Geschichte«.
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Behrendt, Gideon