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Wilhelm Meisters Abschied

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
208 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am16.11.20151. Auflage
Dies ist die Geschichte des jungen Wilhelm Meister, der seine Lehre schmeißt, von zu Hause abhaut und in der Kreuzberger Hausbesetzerszene Unterschlupf findet. Hier trifft er Schauspieler und Lebenskünstler, Instandbesetzer und Tagträumer, Arbeitslose und Ausgestoßene. Wilhelm lernt, daß ?selbständig sein? auch bedeutet, sein eigenes Leben mit Sinn und Ziel zu füllen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Leonie Ossowski wurde 1925 in Niederschlesien geboren. Mit 30 Jahren begann sie zu schreiben. Sie verfasste eine große Zahl von Drehbüchern für Film und Fernsehen, Theaterstücke und Romane, die vielfach ausgezeichnet wurden. Leonie Ossowski ist am 4. Februar 2019 in Berlin gestorben.
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Produkt

KlappentextDies ist die Geschichte des jungen Wilhelm Meister, der seine Lehre schmeißt, von zu Hause abhaut und in der Kreuzberger Hausbesetzerszene Unterschlupf findet. Hier trifft er Schauspieler und Lebenskünstler, Instandbesetzer und Tagträumer, Arbeitslose und Ausgestoßene. Wilhelm lernt, daß ?selbständig sein? auch bedeutet, sein eigenes Leben mit Sinn und Ziel zu füllen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Leonie Ossowski wurde 1925 in Niederschlesien geboren. Mit 30 Jahren begann sie zu schreiben. Sie verfasste eine große Zahl von Drehbüchern für Film und Fernsehen, Theaterstücke und Romane, die vielfach ausgezeichnet wurden. Leonie Ossowski ist am 4. Februar 2019 in Berlin gestorben.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105605202
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum16.11.2015
Auflage1. Auflage
Seiten208 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse763 Kbytes
Artikel-Nr.1864303
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Erstes Kapitel


»... er fühlte, daß er ein anderer
Mensch zu werden beginne ...«


Das Schauspiel dauerte sehr lange, zu lange, wie Wilhelm fand. Er lag in Marianes Bett, quer, auf dem Bauch, mit aufgestützten Armen. Er hätte gern Worte für seine Ungeduld gefunden, aber es fiel ihm nichts ein, was der Rede wert gewesen wäre. Also hielt er den Mund und sah Mariane zu, wie sie sich schminkte, schon länger als eine halbe Stunde.

Verschlafen, er hatte neben Mariane die erste Stunde der Berufsschule verschlafen. Statik und Festigkeitslehre. Wilhelm sah auf die Uhr, rührte sich nicht und beschloß, alle Unterrichtsstunden zu schwänzen. Ein Tag mit Mariane, ununterbrochen in ihrer Nähe, das würde heute ablaufen und keine Berechnung für Stahl im Hochbau. Er sagte: »Ich komm mit dir.«

Sie antwortete nicht. Sie rahmte die rotgeschminkten Lippen mit einem dunklen Stift ein. Als Mariane nach dem Aufwachen aus seinen Armen geschlüpft war, war sie nackt gewesen, ungeschminkt und ungekämmt. Er hatte ihr zugesehen, wie sie im Zimmer herumgegangen war. Ihre Haut hatte in dem dämmrigen Licht, das durch die dunklen Vorhänge in ihr kleines Zimmer drang, weiß geschimmert. Wilhelm hatte Marianes stilles Hin- und Hergehen nicht ausgehalten, vor allem nicht ihre weiße Haut. Er hatte zu schreien begonnen und wie wild mit den Fäusten auf die Matratze getrommelt. Das hatte ziemlich viel Krach gemacht und Mariane erschreckt.

»Wenn das die alte Barbara hört«, hatte sie gerufen und sich mit einem Satz über ihn geworfen, so daß Wilhelm Mühe gehabt hatte, Luft zu kriegen. Überall hatte er ihren Körper gespürt, auch auf dem Gesicht, dazu ihr Lachen, nur von Küssen unterbrochen, die sie wie winzige Knallfrösche in die Luft gesetzt hatte. Jedenfalls hatte er sie nicht gefühlt. Ihm war vor Glück zum Heulen gewesen, und er hatte Mariane mit all der Kraft festgehalten, zu der so ein Maurerlehrling fähig ist - und das ist eine ganze Menge.

»Ich laß dich nie mehr los«, hatte er dabei geflüstert, bestürzt, als sie ihm genau in diesem Augenblick entwischt war.

Auf dem Flur hatte er sie mit der Vermieterin flüstern gehört. Das war der Augenblick, wo er festgestellt hatte, verschlafen zu haben.

Statik und Festigkeitslehre; Berechnung von Mauerwerk, für Stahl im Hochbau und für Holztragwerke. Entfernt regte sich sein Gewissen.

Mariane kam wieder herein. Sie trug ein langes, weißes Gewand, ein Feenschleier, anders hätte es Wilhelm nicht bezeichnen können, ganz dünner Stoff, tüllartig, nur viel feiner, zu einem Mittelding zwischen Hemd und Mantel verarbeitet. Bei jedem Schritt tauchten Marianes Beine wie aus Eischnee hervor. Wilhelm fand, daß das ungeheuer stark aussah. Mariane zog die Vorhänge auf, und nun konnte er ihre Figur durch den Stoff hindurch sehen.

»Wo hast du das denn her?«

Sie war nicht auf die Frage vorbereitet, das sah Wilhelm ihr an. Sie zögerte mit der Antwort und nannte schließlich den Namen einer Boutique in der Uhlandstraße. Er hätte schwören können, daß sie log.

Und dann war mit dem Schminken für Wilhelm das Schauspiel weitergegangen: Die eine Mariane verwandelte sich vor seinen Augen langsam in die andere Mariane. Nie hätte er gedacht, daß so viele Farben auf einem einzigen Gesicht Platz finden könnten. Ihre Augen vergrößerten sich mit jedem Strich, wurden schräg, wodurch die Backenknochen hervortraten und der Mund, von Natur klein und blaß, nun wie eine geschälte rote Beete zum Blickfang wurde.

»Toll«, flüsterte Wilhelm, »machst du das alles für mich?« Mariane hob die Schultern, streckte die Arme nach hinten und betrachtete ihre Pose im Spiegel. Als nächstes beugte sie sich zurück, ließ eine Hand sinken, während sie mit der anderen die Haare seitlich hinters Ohr strich. Auch diese Bewegung kontrollierte sie im Spiegel und setzte ein Lächeln hinzu, das, wie Wilhelm sofort sah, nichts mit ihm zu tun hatte.

Es klopfte, und im gleichen Augenblick stand die alte Barbara im Zimmer. Kein Blick für Wilhelm, er brauchte sich weder zu verbergen, noch mußte er sein Hiersein rechtfertigen. Er schien für die Alte nicht wichtig zu sein.

Wilhelm bemerkte, daß auch die alte Barbara, wie Mariane ihre Vermieterin nannte, das weiße Gewand bestaunte und etwas von Ungerechtigkeit murmelte. Aber Mariane ließ sie nicht zu Worte kommen, sprang auf und sagte: »Wir haben Hunger!«

»So, so«, die Alte betrachtete Wilhelm, der nicht wußte, was er in dieser Situation für einen Eindruck auf die beiden machte. Er entschloß sich für einen selbstverständlichen Morgengruß, der zu seinem Ärger ohne Erwiderung blieb.

»Übrigens«, sagte die alte Barbara und zupfte an Marianes weißem Gewand, »Norberg hat angerufen. Er läßt dich in einer halben Stunde abholen. Ich soll dafür sorgen, daß du pünktlich bist.« Draußen war sie.

»Hast du denn nicht frei heute?«

Keine Antwort. Mariane kramte in einer Schublade und klimperte mit Ketten, die sie nacheinander hochhob, prüfte und wieder fallen ließ.

»Wer ist Norberg?« Jetzt war es Wilhelm, der nach dem Hemd griff. Er knüllte den Stoff zusammen und zerrte daran, daß die Nähte krachten.

Mariane nahm seine Hand, öffnete sie und küßte die Innenflächen. Auf den Hornhautschwielen blieb der Abdruck ihrer Lippen, knallrot und herzförmig.

»Norberg ist ein Modefotograf. Er will mich als Fotomodell rausbringen. Ganz groß, hat er gesagt. Ich soll mich ruhig auf ihn verlassen.«

Also hatte sich Mariane nicht für ihn schön gemacht, und sie hatte mit diesen affektierten Posen nicht ihn beeindrucken wollen, sondern Norberg; alles für Norberg.

Wilhelm stand auf, fühlte sich enttäuscht, zog sich langsam an, ging ins Bad, kam wieder zurück und trank in einem Zug den Kakao aus, den die alte Barbara inzwischen gebracht hatte. Dabei dachte er ununterbrochen nach, ob er gehen oder bleiben solle, ob sie ihn vielleicht betrog oder doch liebte, ob sie log oder er übertrieb. Während tausend Gedanken durch seinen Kopf jagten und er ein Honigbrötchen aß, merkte er, daß sie ihn von der Seite her beobachtete. Er spürte, daß sie nervös war. Plötzlich umarmte sie ihn und küßte ihn auf den Mund.

»Ich muß gehen, Wilhelm!«

Unten auf der Straße hupte ein Auto. Das Zeichen galt Mariane. Wilhelm konnte über ihre Schulter aus dem Fenster sehen, der Wagen stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Italienerkeller, direkt neben seinem Motorrad. Ein Mann winkte aus dem heruntergelassenen Fenster. Seine Glatze war besser zu erkennen als sein Gesicht, und so, wie er hinter dem Steuer saß, mußte er einen Bauch haben.

»Ist das der Fotograf?« Wilhelm grinste.

»Du spinnst wohl!« Mariane lachte, rannte los, war schon auf dem Flur, jetzt auf der Treppe, und Wilhelm mußte sich beeilen, wenn er ihr auf den Fersen bleiben wollte.

Bevor sie ins Auto stieg, bekam er sie zu fassen. »Ich fahr hinterher!«

Einen Augenblick lang sah sie ihn aus ihren schräg gemalten Augen an. Wilhelm rechnete schon mit einer Abfuhr, als sie ihm statt einer Antwort einen Kuß zuwarf. Schnell und nur für ihn allein.

 

Los ging´s, quer durch Berlin, Richtung Nollendorfplatz. Wilhelm konnte Mariane durch die Heckscheibe sehen. Kein einziges Mal drehte sie sich nach ihm um, sie quatschte mit zwei Mädchen, die mit ihr hinten im Auto saßen. Wilhelm hatte keine Ahnung, wohin die Fahrt ging. Am Winterfeldtplatz war Markt, er mußte auf der Hut sein. Der Glatzkopf umkreiste den halben Nollendorfplatz, dann ging´s ab in die Einemstraße, immer geradeaus nach Norden, bis die Siegessäule zu sehen war.

Es roch nach Frühling. In der Berufsschule hatten sie jetzt Pause. Wenn Wilhelm Maurermeister werden wollte, mußte er nach der Gesellenprüfung noch drei Jahre auf dem Bau arbeiten. Und er hatte noch nicht mal die Lehre abgeschlossen. Wilhelm öffnete den Mund und ließ sich den Fahrtwind hineinblasen. Jetzt war kein Gedanke zu verlieren, jedenfalls keiner an Beruf, Fortkommen und Zukunft, sonst entführte ihm der Typ da vorn seine Mariane.

Vollbremsung. Der Glatzkopf sprang aus dem Auto und lärmte herum, von wegen Traumtänzer, Vollidiot und Kleinkinder, die auf keine ausgewachsene Maschine gehörten. Als wenn Wilhelms mickrige Honda ein vollwertiges Motorrad wäre. Wilhelm hörte nicht weiter hin. Er beobachtete den Fotografen, der gerade ein Bild von Mariane gemacht hatte, als sie ausstieg. Klar, daß es sich bei dem um einen Angeber handelte.

»Tag, Norberg«, sagte Mariane. Statt einer Antwort legte der Fotograf seine Hand um ihren Hals und führte sie zu einem Wohnwagen, in dem sie verschwand, ohne sich nach Wilhelm umzusehen.

Wilhelm stellte seine Maschine ab und ging auf den Fotografen zu. Dabei fiel ihm sein eigener schwerfälliger Gang auf, er sah auf seine ausgelatschten Turnschuhe, die, verglichen mit den leichten Mokassins des Fotografen, wie Transportloren wirkten. Und sein T-Shirt kam ihm gegen das Seidenhemd des anderen wie Rinde auf der Brust vor.

Er nickte zu dem Wohnwagen hinüber, in dem Mariane mit den Mädchen verschwunden war, und tippte mit dem Zeigefinger auf die Herzgegend. »Heute bin ich dabei.«

Während Norberg weder Zustimmung noch Ablehnung äußerte, vielleicht nicht einmal verstand, was Wilhelm meinte, kam der Glatzkopf auf Armlänge heran.

»Kommt nicht in Frage«, sagte er, »bei der Arbeit sind Typen wie du unerwünscht. Das lenkt ab.«

»So«, gab Wilhelm zurück, »unerwünscht bin ich, lenke ab? Schon mal Haue gekriegt?«

»Laß das«, mischte sich Norberg ein, »sonst gibt´s Ärger. Komm mit.« Er winkte Wilhelm rechts herum in die Straße des 17. Juni...
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