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Verwandt und verfremdet

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
156 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.02.20161. Auflage
Der russische Literaturwissenschaftler Lew Kopelew stellt seine Auseinandersetzungen mit Autoren aus der Bundesrepublik und der DDR vor. In leicht lesbaren Essays erfahren wir Aufschlußreiches über Bertolt Brecht und die russische Theaterrevolution, über Anna Seghers, Erwin Strittmatter, Gerhard Wolf/Johannes Bobrowski, über Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Günther Weisenborn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Lew Kopelew, geboren 1912 in Borodjanka/Ukraine. Literatur- und Theaterwissenschaftler. Veröffentlichungen: Dissertation über »Probleme der Revolution in Schillers Dramen« (1941); u. a. Bücher (Biographien, Bibliographien, Monographien) über Heinrich Mann (1957), Jaroslav Ha?ek (1958), Goethes Faust (1962), Bertolt Brecht (1966/68); zahllose Zeitschriftenaufsätze über deutsche Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart; Übersetzer von Brecht, Erwin Strittmatter und Heinrich Böll. Kopelew starb 1997 in Köln.
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Produkt

KlappentextDer russische Literaturwissenschaftler Lew Kopelew stellt seine Auseinandersetzungen mit Autoren aus der Bundesrepublik und der DDR vor. In leicht lesbaren Essays erfahren wir Aufschlußreiches über Bertolt Brecht und die russische Theaterrevolution, über Anna Seghers, Erwin Strittmatter, Gerhard Wolf/Johannes Bobrowski, über Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Günther Weisenborn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Lew Kopelew, geboren 1912 in Borodjanka/Ukraine. Literatur- und Theaterwissenschaftler. Veröffentlichungen: Dissertation über »Probleme der Revolution in Schillers Dramen« (1941); u. a. Bücher (Biographien, Bibliographien, Monographien) über Heinrich Mann (1957), Jaroslav Ha?ek (1958), Goethes Faust (1962), Bertolt Brecht (1966/68); zahllose Zeitschriftenaufsätze über deutsche Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart; Übersetzer von Brecht, Erwin Strittmatter und Heinrich Böll. Kopelew starb 1997 in Köln.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105608623
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.02.2016
Auflage1. Auflage
Seiten156 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1897165
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

II. Neue Erkenntnis alter Wahrheit ( Verfremdung )

Noch immer scheiden sich die Geister, sobald Literatur- und Theaterwissenschaftler über Verfremdung zu sprechen beginnen. Es tauchen derart grundlegende Deutungsunterschiede hinsichtlich Paradoxie , Versonderbarung (ostranenie), Entfremdung (otcuzdenie) und Verfremdung (ocuzdenie) auf, daß gegenseitiges Verstehen unmöglich wird und eine Situation wie die von Puschkin beschriebene entsteht, in der ein Tauber einen Tauben vor einen tauben Richter bringt. Daher sollen in unserem Zusammenhang die Begriffe noch einmal geklärt werden.

Die Paradoxie in dramatischen Situationen, in Reden und im Handeln der Personen, wie sie z.B. der Dramaturgie Oscar Wildes oder G.B. Shaws eigentümlich ist, kann verschiedene Funktionen erfüllen: Sie kann einfach komisch sein oder die charakteristischen Besonderheiten einer Person (des Wunderlings) unterstreichen. Oder sie kann eine ungewöhnliche Fabel schaffen, den Grundgedanken, das Leitmotiv zuspitzen oder unterstreichen - in diesem Fall ist die Paradoxie Mittel der Verfremdung.

Versonderbarung liegt vor, wenn äußere Gestalt, Gesten oder Reden auf der Bühne bewußt sonderbare, ungewöhnliche Züge erhalten. Alle möglichen Anachronismen, Ungereimtheiten, Masken, wunderliche Kleidungsstücke und Situationen haben Maeterlinck und Pirandello, Meyerhold und Wachtangow vor allem für die Schaffung einer ungewohnten Umgebung, einer schroffen Entfernung der Szene von der Wirklichkeit oder besser, für die Erzeugung einer besonderen theatralischen Wirklichkeit gedient, die ihrer Ansicht nach allein geeignet ist, den Zuschauer zeitgemäß zu beeinflussen. Viele der ersten Theoretiker und Praktiker der szenischen Versonderbarung sahen in ihr ein Mittel, die Menschen der Revolutionsepoche geistig zu erziehen. Dennoch entwickelte sich gerade die Methodik des absoluten Theaters logisch zur Poetik des Absurden Theaters und seinem Programm weiter als beginnende wie als endgültige Entfernung von der realen Wirklichkeit. Gleichzeitig sind durch die Versonderbarung viele Kunstformen charakterisiert, die ihrerseits auf die Zerstörung der stereotypisierten Aufnahme abzielen wie beispielsweise die Karikatur, die Clownerie, die Farce, die Parodie.

Entfremdung ist ein wirtschaftlicher, philosophischer und politischer Begriff. (Siehe Entfremdung der Erzeugnisse vom Erzeuger , Entfremdung der Persönlichkeit in der gegenwärtigen Klassengesellschaft , Entfremdung des Staates von der Gesellschaft .)

Verfremdung ist ein Begriff, den Brecht zur Bestimmung einer der wesentlichen permanenten Eigenschaften verschiedener Formen des künstlerischen Schaffens vorgeschlagen hat. Verfremdung bedeutet, das Gewöhnliche als ungewohnt, Eigenes als Fremdes und, im Gegensatz dazu, Ungewöhnliches als alltäglich darzustellen. Die Verfremdung setzt voraus, daß dem Künstler die Distanz zwischen dem Ding und dem Kunstprodukt bewußt ist, daß er weiß: die wirkliche Form (Mensch, Begebenheit, Gefühl) und ihre Darstellung sind nicht identisch. Als Mittel der Verfremdung werden sowohl die Paradoxie wie das poetische Oxymoron benutzt, ferner verschiedene Arten der Versonderbarung, lyrische Abschweifungen, kurz: beliebige Mittel des Dichters oder Prosaisten, sich an den Leser, und des Dramatikers oder Schauspielers, sich an den Zuschauer zu wenden.

Dieser Verfremdungsmethode, die Brecht selbst vielfältig in Lyrik, Dramaturgie und Bühnenwerk entwickelte, ist das beharrliche Bestreben eigentümlich, Leser und Zuschauer zum selbständigen und kritischen Denken anzuregen, nicht darüber, was man unmittelbar zuvor las oder sah, sondern über Fragen von Weltbedeutung.

Dieses Bestreben unterscheidet sich auch prinzipiell von jenem zweckfreien Spiel des Theaters für das Theater , das zum Programm der Dramaturgie des Absurden Theaters wurde. Es unterscheidet sich auch von der direkten, agitatorisch-propagandistischen, erzieherischen Zielstrebigkeit der Kunst der Aufklärer, der Moralisten oder des jungen revolutionären Theaters. Obwohl dem Theater Brechts notwendig sowohl das eine wie das andere eigen ist - auch die elementaren Leidenschaften des Spiels -, die Schöpfungen und Wundertaten und die berechnende Taktik sind die des Revolutionärs, der Bewußtsein und Seelen der Zeitgenossen erobert.

Verfremdung ist also ein bedeutend umfassenderer Begriff als Paradoxie und Versonderbarung, sie kann das eine wie das andere oder noch ganz andere, bisher unbekannte Mittel der Objektivierung , der ablenkenden Mitteilung in sich einschließen (letztere Bezeichnung taucht mancherorts als Übersetzung für Verfremdung auf). Aber die Brechtsche Verfremdung bedeutet außerdem das Bemühen des Künstlers, den Zuschauer über die Grenzen des Gegenstandes im Musikstück oder Schauspiel - allgemein: im Theater - hinauszuführen und ihn das Bewußtsein zu lehren, daß es gilt, die Welt zu verändern.

Den Begriff Versonderbarung (ostranenie) prägte schon 1914 Viktor Schklowskij.[21] Später wurde er von ihm und Jurij Tynjanow ausführlich definiert,[22] in den dreißiger Jahren aber als formalistisch verworfen.

John Willet leitet die Brechtsche Verfremdung vom Priem ostranenija (Verfahren der Versonderbarung[23]) der russischen formalistischen Kritiker her und glaubt, ... daß die Theorie wie auch das Schlagwort erst nach Brechts erstem Aufenthalt in Moskau 1935 in seinem Werk auftaucht .[24]

Beides stimmt nicht. Brecht war 1932 zum ersten Mal in Moskau, und seine Theorie der Verfremdung hatte er noch früher formuliert - spätestens im Prolog und Epilog zu Die Ausnahme und die Regel (1930).


Was nicht fremd ist, findet befremdlich!

Was gewöhnlich ist, findet unerklärlich!

Was da üblich ist, das soll euch erstaunen.


Und noch bedeutend früher hat er bewußt und betont Verfremdung dichterisch praktiziert. Schon Die Legende vom toten Soldaten (1918) war eine vorbildlich zielbewußte und spielerisch spontane Verfremdung. - Unheimlich grotesk und poetisch verklärt, expressionistisch übertrieben und volkstümlich naiv verfremdete der junge Autor die ganze unfaßbare Trostlosigkeit eines nichtendenwollenden, zum Alltag breitgetretenen Krieges. In gleicher Art und ebenso kraß einleuchtend verfremdete er in Baal den exaltiert pathetischen Idealismus mancher deutscher Schriftsteller, und in Trommeln in der Nacht die Aussichtslosigkeit der deutschen Revolution des kleinen Mannes .

(Willet erwähnt übrigens selbst, daß Brecht 1924 bei Reinhardt den Proben zu Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor beiwohnte[25], und dieses Stück ist ja schon an sich die Verfremdung selbst.) Ilja Fradkin hat Willets Auffassung, die R. Grimm, P. Böckmann und andere teilen, sowie Schklowskijs Anspruch, Erfinder des Begriffs Verfremdung zu sein, den Brecht erst über Tretjakow kennengelernt habe,[26] ausführlich und überzeugend widerlegt. Allerdings ließ er dabei die Frage unberücksichtigt, wie weit Schklowskijs Begriff ostranenie (Versonderbarung) und Brechts Begriff Verfremdung übereinstimmen und worin sie sich unterscheiden. Fradkin entdeckte und wies nach, daß die Verfremdung als Erkenntnis-Methode von Hegel in der Phänomenologie des Geistes vorweggenommen und von Brecht marxistisch transponiert wurde.[27] Viktor Klujew, der ein russisches Äquivalent für den Brechtschen Begriff konstruierte, ocuzdenie im Unterschied zu otcuzdenie (Entfremdung), meint, der V-Effekt - die Brechtsche Entdeckung, die von ihm dank seiner dialektischen und materialistischen Weltanschauung gemacht wurde , sei hauptsächlich mit Bühnenkunstmitteln verwirklicht worden.[28] Kurz aber trefflich erörtert Boris Zingerman die eigentliche dramatische wie bühnenmäßige Gestaltung des V-Effekts und erwähnt dabei, daß das Bemühen, Gewöhnliches ungewöhnlich darzustellen , auch bei Shaw und Chaplin zu finden ist.[29] Zingerman wie auch Arsenij Gulyga[30] halten Verfremdung und Versonderbarung für gleichbedeutend, ebenso Otto F. Best, der im Handbuch literarischer Fachbegriffe beide Termini gleichsetzt und auf Schklowskij zurückführt.[31]

Eine ausführliche, gründlich vergleichende Studie der theoretischen Schriften von Brecht, Tynjanow, Schklowskij und anderen wird die grundsätzlichen Unterschiede zeigen, wir können bei diesem Problem nicht verweilen; denn trotz der Unterschiede ist in dem, was und wie sie über den Sinn künstlerischen Schaffens gedacht und geschrieben haben, eine offenbare Verwandtschaft der Weltempfindung deutlich - eben eher der Empfindung als der Anschauung -, unleugbar eine Verwandtschaft, die vor allem vom welthistorischen Moment bestimmt war.

Schon im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts waren scharfsinnige Denker und seismologisch feinfühlige Künstler sich dessen bewußt, daß die scheinbar so friedlich und erfolgreich fortschreitende Zivilisation katastrophale Überraschungen barg, daß die Erkenntnisse der positivistisch metaphysischen Wissenschaften unzulänglich waren, daß jede neue Entdeckung neue Rätsel aufgibt und auf neue Geheimnisse in der Natur und in der Gesellschaft, im Atominneren und in der Menschenseele deutet. Lenins historisch-politische Analysen und Prognosen, Machs und Einsteins...
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Autor

Lew Kopelew, geboren 1912 in Borodjanka/Ukraine. Literatur- und Theaterwissenschaftler. Veröffentlichungen: Dissertation über »Probleme der Revolution in Schillers Dramen« (1941); u. a. Bücher (Biographien, Bibliographien, Monographien) über Heinrich Mann (1957), Jaroslav HaSek (1958), Goethes Faust (1962), Bertolt Brecht (1966/68); zahllose Zeitschriftenaufsätze über deutsche Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart; Übersetzer von Brecht, Erwin Strittmatter und Heinrich Böll. Kopelew starb 1997 in Köln.
Weitere Artikel von
Mendel, Heinz-Dieter
Übersetzung