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Dunkel, fast Nacht

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
480 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am07.03.20161. Auflage
Eine Stadt ist in Aufruhr. Drei Kinder sind verschwunden. Die erfolglosen Ermittlungen befeuern die Gerüchte. Verdächtigungen und Schuldzuweisungen greifen um sich. Gehetzt wird gegen die »Katzenfresser«, die Zigeuner. Im Radio und im Internet lodert die Sprache des Hasses. Als Alicja Tabor in die Stadt ihrer Kindheit zurückkehrt, um als Journalistin Nachforschungen über die rätselhaften Entführungen anzustellen, ereignen sich unerklärliche Dinge, die Atmosphäre ist unheimlich. Joanna Bator schildert, wie Stimmungen kippen können, wie latente Ängste und Traumata sich in jähe Ausbrüche von Wahnsinn verwandeln. Ein Roman über die Brüchigkeit einer Gesellschaft, die ihre gemeinsame Sprache verloren hat.



Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Die deutsche Übersetzung ihres Romans Sandberg durch Esther Kinsky war ein literarisches Ereignis. Seither gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. Für Dunkel, fast Nacht (2012) wurde sie mit dem NIKE, dem wichtigsten Literaturpreis Polens, ausgezeichnet. Joanna Bator ist Hochschuldozentin und lebt in Japan und Polen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR13,99

Produkt

KlappentextEine Stadt ist in Aufruhr. Drei Kinder sind verschwunden. Die erfolglosen Ermittlungen befeuern die Gerüchte. Verdächtigungen und Schuldzuweisungen greifen um sich. Gehetzt wird gegen die »Katzenfresser«, die Zigeuner. Im Radio und im Internet lodert die Sprache des Hasses. Als Alicja Tabor in die Stadt ihrer Kindheit zurückkehrt, um als Journalistin Nachforschungen über die rätselhaften Entführungen anzustellen, ereignen sich unerklärliche Dinge, die Atmosphäre ist unheimlich. Joanna Bator schildert, wie Stimmungen kippen können, wie latente Ängste und Traumata sich in jähe Ausbrüche von Wahnsinn verwandeln. Ein Roman über die Brüchigkeit einer Gesellschaft, die ihre gemeinsame Sprache verloren hat.



Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Die deutsche Übersetzung ihres Romans Sandberg durch Esther Kinsky war ein literarisches Ereignis. Seither gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. Für Dunkel, fast Nacht (2012) wurde sie mit dem NIKE, dem wichtigsten Literaturpreis Polens, ausgezeichnet. Joanna Bator ist Hochschuldozentin und lebt in Japan und Polen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518741788
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum07.03.2016
Auflage1. Auflage
Seiten480 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.1897627
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




Der Weg zurück




Ich folgte den Spuren, die ich vor Jahren hinterlassen hatte, verwundert, wie mühelos meine Füße hineinfanden. Erst nach dem Umsteigen in WrocÅaw kam mir zu Bewusstsein, dass ich in die Stadt meiner Kindheit unterwegs war. Auf dieser Strecke gibt es keine Eilzüge mehr, WaÅbrzych entfernt sich zunehmend vom großstädtischen WrocÅaw und dem Rest der Welt. Ich setzte mich auf einen Fensterplatz in einem alten Doppelstockwagen und tastete immer wieder nach dem Schlüssel, der durch das Leder meines Portemonnaies Wärme auszustrahlen schien.

Nach Vaters Beerdigung hatte ich den Schlüssel in einen billigen Geldbeutel aus dem Indienladen gesteckt und ihn fünfzehn Jahre lang mit mir herumgetragen. Ich musste ihn immer bei mir haben und gewöhnte mir an, bei jeder Gelegenheit nachzuprüfen, ob er noch da war, ein harter länglicher Gegenstand, wie ein Tier- oder Kinderknochen. Mit diesem Schlüssel hatte ich die Tür des Hauses, das auf Schloss Fürstenstein blickt, hinter mir abgeschlossen und die Stadt verlassen. Und bis vor kurzem gab es in WaÅbrzych nichts, was mich zu einer Rückkehr oder auch nur einem Abstecher hierher hätte verlocken können. Um das Haus kümmerte sich Albert KukuÅka, unser Nachbar, Freund meines Vaters, ein trauriger einsamer Mann mit Fliegermütze, der nur lächelte, wenn er Geige spielte. Als ich Kind war, hat er als Gärtner im WaÅbrzycher Botanischen Garten gearbeitet, ich besuchte ihn in seinen tropischen Gewächshäusern, und er zeigte mir Bananenstauden, Euphorbien, bis unter das gläserne Dach wuchernde Araukarien, fleischfressenden Sonnentau und Leuchtmoos. Er hob mich hoch zum saftigen Grün der Bäume, sodass ich mein eigenes verkleinertes Spiegelbild in den Wassertropfen auf den Blättern erkennen konnte. Wie gebannt wiederholte ich die Namen, die er mir vorsprach: Araukarie, Zantedeschie, Euphorbie. Seit ich nach Vaters Tod aus WaÅbrzych weggegangen war, schickte ich Herrn Albert Geld, auch wenn er es nicht annehmen wollte, ab und zu mähte er den Rasen und lüftete die Zimmer, bis auf das größte Zimmer im Erdgeschoss, das auf meinen Wunsch geschlossen blieb. In diesem Zimmer hatte Vater seine letzten Jahre verbracht, hier lagerten noch zahllose Karten von unterirdischen Gängen unter Schloss Fürstenstein und Listen mit Dingen, die er sich von dem Schatz kaufen wollte, den er jedoch nie entdeckt hat. Auf dem mächtigen Schreibtisch aus deutscher Eiche stand eine Fotografie: Vater, Mutter und wir beiden Töchter vor dem berühmten Gebäude, in einen Sommernachmittag vor fast vierzig Jahren gegossen wie Fliegen in Bernstein. Geblieben waren nur ich und das Schloss. Ich wollte nicht, dass Herr Albert sich mit der Traurigkeit ansteckte, die in den Ecken des Zimmers lagerte wie Ektoplasma. Ektoplasma. Die Substanz, aus der Geister gemacht sind, wie meine Schwester Ewa immer sagte. »Und woraus ist Ektoplasma gemacht?«, fragte ich. »Aus Kohlenstaub und Tränen!« Herr Albert hatte auch mit Geistern zu tun, er pflegte das Grab meiner Verwandten, was er sicher auch ohne meine Bitte getan hätte, aber dass ich ihn darum gebeten hatte, linderte meine Schuldgefühle. Fünfzehn Jahre lang war ich nicht nach WaÅbrzych gekommen, in Gedanken aber jeden Tag zurückgekehrt, in allen anderen Städten habe ich nur diese eine gesucht, und Herrn Alberts künstliche Tropen im Palmenhaus ließen mich die echten Tropen nur als billigen Ersatz für etwas unwiederbringlich Verlorenes empfinden.

Am Fenster des Zuges zogen Bilder vorbei, die mir bekannt vorkamen wie ferne Traumbilder. In der Dunkelheit hinter der Scheibe formten Licht und Nebel geisterhafte Reisende, zerfloss und versickerte die Stadt, als wären Bewegung und Leben nur eine Insel in einem Meer von Schatten und Leere. Neue Siedlungen und Einkaufszentren machten kahlen, von Schleh- und Weißdornhecken durchschnittenen Feldern Platz, auf den Bäumen am Straßenrand lauerten Raubvögel beharrlich auf allzu leichtfertige Katzen oder Füchse. Bald zeichnete sich in weiter Ferne der Berg ÅlÄża ab, unten an seinem Fuß gingen in den hingestreuten Häusern nach und nach die Lichter an, flackernd wie Kerzenflammen. Der Zug kroch voran, die Kleider der dicht gedrängten Menschen dampften, und Essensgeruch stieg auf, Plastikbeutel raschelten, Zungen schnalzten.

»Und ich hab meine Barbie im Backofen verbrannt«, sagte auf einmal eine helle Kinderstimme, doch niemand schenkte ihr Beachtung.

Armut klingt überall gleich, und einer ihrer Laute ist das Geschlürf und Geschmatz, wenn Essensreste aus löchrigen Zähnen und schlecht angepassten Kronen herausgesaugt werden. Neben mir knüllte ein Mann in dickem Wollpullover sein Butterbrotpapier zusammen, schmatzte aufdringlich und musterte mich unter buschigen Brauen, seine Augen waren hart wie Chitinpanzer. Ich fühlte mich wie früher als Studentin, wenn ich, was selten vorkam, freitags nach dem Seminar nach WaÅbrzych fuhr. Damals änderte ich ständig meine Haarfarbe und erkannte manchmal mein eigenes Spiegelbild nicht, das mir in der Zugtoilette vorwurfsvoll entgegenstarrte. Meine Schwester sagte immer, meine Haare seien kamelfarben. Sie nannte mich »Kamelin«, und ich habe schon damals geahnt, dass dies das schönste Wort war, das sich für mein durchschnittliches Äußeres finden ließ, fühlte ich mich doch selbst mit schwarzen, blondierten oder roten Haaren unscheinbar und farblos. Im Zug nach WaÅbrzych fragte ich mich jedes Mal, ob Vater zu Hause umständlich einen Teller Käsebrote zubereiten und eine Kanne georgischen Tee aufsetzen würde, damit wir uns für eine Weile der Illusion eines normalen Familienlebens hingeben konnten. Doch meistens war Vater nicht da, oder er hatte sich voller Verzweiflung in seinem Zimmer vergraben und streckte nur kurz den Kopf heraus, um mit trauriger Verwunderung »Alicja?« zu fragen, als gelte seine freudige Erwartung einer anderen Tochter. Ich antwortete »Papa?«, und vielleicht hörte auch er Enttäuschung in meiner Stimme.

Auf halbem Weg begann die Landschaft plötzlich Wellen zu werfen wie windgepeitschtes Wasser. Regen setzte ein, das Grau vor dem Fenster verdichtete sich zu einer wabernden Masse. Wir hatten eine Gegend erreicht, in der die Nächte schwärzer sind, der Winter schon im November hereinbricht und sich auch dann noch beharrlich hält, wenn andernorts längst die Krokusse und Forsythien blühen. Mit gegenüber saß eine stille Studentin, die ein Heft auf den Knien liegen hatte, neben ihr eine ältere Frau mit einer Miene, als stiege ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase und als sei sie sich nicht sicher, ob er von uns ausging oder von ihr selbst. Auf dem Boden zwischen ihren Beinen klemmte eine große karierte Plastiktasche, die zwischen ihren Schenkeln herausstand, als hätte sie sie soeben zur Welt gebracht. Die Schenkel steckten in hautengen, glänzenden Leggings mit Zebramuster, und ihre Besitzerin hielt den Blick auf eine Illustrierte geheftet, von deren Titelbild uns ein blondes Schlagersternchen künstliche Brüste entgegenreckte, rund wie unter die Haut gestopfte Wassermelonenhälften. »Schock! Was soll sie jetzt tun?«, las ich die Schlagzeile. Meine Nachbarin leckte sich den Zeigefinger an und blätterte endlich weiter, ein Spuckefaden glänzte zwischen ihrem Mund und dem abblätternden rosa Nagellack. Sie saugte, schmatzte. Wie aus der Tiefe eines WaÅbrzycher Stollens entfuhr ihr ein dumpfes »Ogottogottogott«. Auf der nächsten Seite wölbten sich die Lippen des Sternchens wie zwei pralle Gummireifen kurz vor dem Platzen, was zweifellos den ganzen Waggon mit einer klebrigen Masse überschwemmt hätte. Ohne den Blick von ihrem Heft zu lösen, holte die stille Studentin ein Döschen aus der Hosentasche und verkleisterte sich die Lippen mit künstlicher Himbeer-Glanzcreme. »Ogottogottogott«, seufzte die Frau in Leggings noch einmal und sah mich so starr an, als hätte sie jemanden in mir erkannt. Sie hatte Zebrabeine, aber die Augen gehörten einer Ziege.

»Früher da war ja alles wie SantorEleni wie Boney M war alles besser lebte man wie man lebte diese Jahre bringt uns keiner zurück.«

Ich schwieg, doch die Zebraziege ließ sich nicht beirren und nahm Fahrt auf:

»Boney M in Sopot SantorEleni Lebensmittel ohne Gene eingelegte Gurken Heringe lustig geht's in die Sommerfrische in die grünen grünen Wälder Gurken ohne Gene SantorEleni der ganze Bus am Singen Kinder ins Sommerlager an die polnische See oder in die polnischen Berge Lachen beim Schlangestehen für Fleisch für Knochen über GierekGomuÅka man lebte man wollte träumte und jetzt Beine in den Bauch Martermeinemarter.« Die Zebraziege begutachtete mich, als suchte sie beim Fleischer Suppenknochen aus. »Sie sehen auch blass aus müde.«

Das sollte offenbar eine Frage sein, und ich nickte, um jedes Gespräch im Keim zu ersticken.

»Sehen Sie selbst!«, freute sie sich und wurde lebhaft. »Müde! Gepeinigt! Mehr tot als lebendig! Sie wollen uns zugrunde richten. Das ganze polnische Volk peinigen. Oder die Haare.« Sie tippte mit dem Finger auf die künstlichen Haare der Sängerin.

»Die Haare?«, wiederholte ich erstaunt.

»Früher hielt eine Dauerwelle ein Jahr die Farbe wusch sich nicht aus«, erklärte Zebraziege und fuhr ohne Punkt und Komma fort. »Ei-Shampoo wie Goggelmoggel dass man Goggelmoggel wollte was Süßes mit Kakao Eigelb auf die Haare mit einem Tuch umwickeln einwirken lassen rumlaufen wie Mama mit Regenhaube für den Krebs Martermeinemarter und Regenhaube in die Waschwanne Bauchspeicheldrüse ganz zerfressen Regenhaube Regenhaut. Regenhaut?«, wiederholte Zebraziege, anscheinend erstaunt über den Klang dieses Wortes, sie schmatzte, zuckte die Achseln und kehrte zu ihrem Artikel zurück.

Die stille Studentin machte...

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Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Die deutsche Übersetzung ihres Romans Sandberg durch Esther Kinsky war ein literarisches Ereignis. Seither gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. Für Dunkel, fast Nacht (2012) wurde sie mit dem NIKE, dem wichtigsten Literaturpreis Polens, ausgezeichnet. Joanna Bator ist Hochschuldozentin und lebt in Japan und Polen.
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