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Über Land

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am26.08.20161. Auflage
Über das, was wir suchen - in uns, im Anderen, in der Fremde Ein Fahrradunfall in Berlin, ein Turmbau bei Kolkata, eine zurückgelassene Familie in Bagdad - innerhalb weniger Wochen verändert sich das Leben von Amal, einer Archäologie-Studentin, die aus dem Irak geflohen ist, von Clara, einer jungen Ärztin in Berlin, und von Claras Freund Tarun, einem aus Indien stammenden Architekten. Welche Grenzen muss man überwinden, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Und welcher Verantwortung muss man sich stellen, um sich selbst treu zu bleiben?

Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman >Strom<, ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextÜber das, was wir suchen - in uns, im Anderen, in der Fremde Ein Fahrradunfall in Berlin, ein Turmbau bei Kolkata, eine zurückgelassene Familie in Bagdad - innerhalb weniger Wochen verändert sich das Leben von Amal, einer Archäologie-Studentin, die aus dem Irak geflohen ist, von Clara, einer jungen Ärztin in Berlin, und von Claras Freund Tarun, einem aus Indien stammenden Architekten. Welche Grenzen muss man überwinden, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Und welcher Verantwortung muss man sich stellen, um sich selbst treu zu bleiben?

Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman >Strom<, ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423430814
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum26.08.2016
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
IllustrationenFormat: EPUB
Artikel-Nr.1952102
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
CLARA

Ihr Impuls, immer wieder auf die Internetseite mit den Verkehrsregeln zurückzukehren, führt Clara vor Augen, dass sie nicht zur Ruhe kommt. Obwohl sie bereits vor über einer Stunde erfahren hat, was sie wissen wollte: Der Zusammenstoß heute Morgen ist nicht ihre Schuld gewesen. Denn auch Fußgänger sind angehalten, eine Fahrbahn »unter Beachtung des Straßenverkehrs« zu überqueren, und das Hervorspringen zwischen parkenden Autos heraus auf die Fahrbahn ist sogar ausdrücklich zu vermeiden. Clara schließt das Fenster auf dem Bildschirm. So weit die Rechtslage. An ihrem schlechten Gefühl ändert die jedoch nichts. Was, wenn die junge Frau die Vorschriften nicht kannte? Obwohl sie sie kennen müsste, aber was bedeutet das schon, wenn die Frau hier fremd ist und sie sich in dem ruhigen Wohngebiet auf die Umsicht der anderen verlassen hat? Geht es hier denn nur um Schuld oder auch um Vorsicht, um genau jene Vorsicht, denkt Clara, die sie selbst doch oft beim Anblick ihrer Patienten einfordert ... In der Notaufnahme sieht sie täglich Menschen nach einem Unfall vor sich auf der Trage, Patienten mit leichten Prellungen, komplizierten Knochenbrüchen oder lebensgefährlichen Blutungen. Und wie oft fragt sie sich, wenn im Bericht die Wörter »angefahren« oder »zu Boden gerissen« stehen: War das nicht vermeidbar? Wer Schuld an dem Unfall hatte beziehungsweise ob ein Schuldiger auszumachen war, steht in den Berichten der Rettungssanitäter nicht, oder nur dann, wenn es für den Zustand des Patienten unmittelbar von Bedeutung ist: »wurde überrascht«, oder: »schlitterte wegen technischen Defekts frontal ...«. In den meisten Fällen aber sieht sie nur das Resultat und fragt sich zuweilen nach dem Zunähen, oder während sie Jörg, ihrem Chef, bei schwierigen Operationen assistiert, was es gebraucht hätte, um den gequetschten Brustkorb oder das künstliche Koma zu vermeiden. Glück? Anderes Wetter? Oder mehr Vorsicht bei allen Beteiligten? Clara beißt sich auf die Unterlippe: bei allen Beteiligten ... Denn auch wenn die junge Frau heute Morgen offensichtlich nicht vorsichtig um sich geschaut hat, bevor sie zwischen den geparkten Autos heraus auf die Straße lief - hätte sie selbst den Zusammenstoß dennoch verhindern können, wenn sie anders reagiert hätte? Langsamer gefahren wäre? Wie schnell ist sie denn gefahren, überlegt Clara und merkt, wie schwer sie diese Frage beantworten kann. Sie ist nicht gerast, das ist sicher, kann aber auch nicht genau sagen, wie schnell sie im Moment des Zusammenpralls gewesen ist oder wo ihre Gedanken waren. Ihre Erinnerung ist lückenhaft. Unverlässlich. Und das ärgert sie.

Zumal die junge Frau, je länger Clara über den Vorfall nachdenkt, wirklich nicht so wirkte, als kenne sie sich in der Gegend aus. Dafür schaute sie beim Davonlaufen zu oft hektisch um sich. Wie eine Touristin wirkte sie in ihrer Panik aber auch nicht. Clara schließt die Augen und versucht, die Frau so deutlich wie möglich vor sich zu sehen: Ihr dichtes, schwarzes Haar, das schon dabei war, sich aus dem Knoten am Hinterkopf zu lösen, ihr Teint, den Clara zwar nur flüchtig, selbst noch benommen, mehr mit den Augen gestreift als wirklich gesehen hat - war er nicht eine Spur dunkler, gebräunter als das deutsche Durchschnittsblass? Und das Haar ein wenig kraus? Wahrscheinlich. Eindeutig und scharf ist das Bild vor ihrem inneren Auge nur, wenn es um den Rücken der Frau geht, um ihre schlecht sitzende, wie zusammengewürfelt wirkende Kleidung, ihre hohen Schnürstiefel und ihre ausladende Art zu rennen, aus der geschlossen werden kann, dass die junge Frau vermutlich keine geübte Läuferin ist, aber eine gute Kondition hat. Dass sie, wenn es darauf ankommt, schnell und effizient die Flucht ergreifen kann. Nur warum, vor wem rannte sie so panisch davon?

Es klopft. Tarun öffnet zum zweiten - oder bereits dritten? - Mal die Tür und erkundigt sich vorsichtig, ob Clara vielleicht jetzt Hunger habe? Statt einer Antwort steht Clara auf, geht auf Tarun zu und streckt die Arme aus, während sie ihn fragt: »Und du?« Tarun zieht stumm die Wangen ein, reißt die Augen auf und hält sich den Bauch. Clara muss lachen, derart »eingesogen« wirkt Tarun noch größer als sonst, sie küsst seinen in der Grimasse spitzen Mund, und sie verlassen das Zimmer.

 

Als Tarun das duftende Lammcurry und den Reis auf ihren Tellern verteilt, ist ihm die Vorfreude anzusehen. Sonntagabend, der einzige Tag in der Woche, an dem Tarun kocht, da man zum Kochen, wie er sagt, »Zeit, Musik und Muße braucht«. Musik heißt bei ihm meist eine der Bands, denen Tarun »lebenslange Treue« geschworen hat: Portishead, Krosswindz und, seitdem er in Deutschland lebt, auch Rammstein; wohingegen Zeit bedeutet, dass das Lammfleisch bereits seit heute Vormittag in seiner Marinade immer aromatischer geworden ist. Clara schenkt den Rotwein ein. Ihre Gläser berühren einander kurz und klirrend, und sie lächeln sich an, anstatt etwas zu sagen. Es folgt das Klappern des Bestecks, ein stummes, genussvolles Kauen. Clara streift sich die Hausschuhe von den Füßen und legt ihre Zehen auf Taruns Füße, die wippen zweimal, wie immer. Nach einer Weile beginnt Tarun zu erzählen, berichtet, er habe am Nachmittag lange mit dem Bauleiter vor Ort in Haora telefoniert.

»Heute, am Sonntag?«, fragt Clara nach.

Tarun nickt: »Wir haben über das Fundament gesprochen. In ungefähr zwei Monaten beginnt der Monsun, bis dahin muss das gesamte Fundament fertig ausgehärtet sein.«

»Ich verstehe«, antwortet Clara, sie greift nach ihrer Gabel, isst weiter und sieht dabei, was Tarun beschreibt, vor ihrem inneren Auge: große Stahlgitter, die waagerecht in die Schalung im Boden gesetzt werden, über Rohre in die Schalung einfließender Beton und daneben Messgeräte, für die Kontrollen. Ein rundes Fundament für ein, wie Clara weiß, rundes, sechsgeschossiges Gebäude, für den »Turm«, mit dem die wachsende Millionenstadt Haora, die Nachbarstadt Kolkatas, versucht, für die vom Land kommenden Arbeiter einen Ort zu schaffen, der etwas anderes ist als die Hütten aus Palmblättern und Plastikplanen entlang der Bahngleise oder im Schatten der Industrieanlagen. Die Industriekonzerne selbst bauen zurzeit in Absprache mit der Stadt Wohnblocks für zehntausend Arbeiter und ihre Familien, und das Berliner Architekturbüro, in dem Tarun arbeitet, wurde von der Stadt Haora und der Landesregierung ausgewählt, um neben den neuen Wohnungen seinen Entwurf eines »Ortes zum Durchatmen« zu bauen, einen »Ort zum Durchatmen« in dem Sinne, dass die Luft in dem Turm besser sein soll als auf den befahrenen Straßen und in den Fabrikhallen, ein Ort zum Durchatmen aber auch in der Hinsicht, dass die neuen Stadtbewohner in den Etagen des Turms verweilen, essen, lesen, meditieren oder Sport treiben können.

»Schon bei der Herstellung des Fundaments müssen wichtige Entscheidungen, was die Verlegung der Rohre, die Lüftungs- und Sanitäranlagen und die Elektronik im gesamten Gebäude betrifft, gefällt sein«, erklärt Tarun, »ein übersehenes Detail in der Planung oder ein Fehler beim Legen der Rohre kann später langwierige, kostspielige Folgen haben«, Tarun runzelt die Stirn, »was die Sache einigermaßen komplex macht, wenn der fertige Bau Dinge wie Wasserläufe in den Gängen und kleine Springbrunnen zur Reinigung der Luft enthalten soll, wenn noch nicht bekannt ist, wer die Restauration im zweiten Stock betreiben wird und die vor Ort geltenden Bauvorschriften vieles anders, nicht so klar und detailliert definieren, wie wir es in Europa gewöhnt sind.« Tarun lacht auf und wird gleich wieder ernst: »Schon allein, um sicher zu sein, dass nichts Wichtiges übersehen oder vergessen wurde, ist eine ständige Prüfung des Fundaments so wichtig.«

»Selbst kannst du die Details im Fundament von hier aus aber nicht prüfen, oder?«, fragt Clara und greift nach der Schüssel mit dem Reis.

»Nur bedingt«, erwidert Tarun. »Ich kann anhand der Messwerte und der Bilder, die der Bauleiter mir schickt, erkennen, wie weit wir sind, und mir manche Sachen anschauen, bevor sie später ummauert werden.«

Clara nickt. In den fast zweieinhalb Jahren, die sie Tarun seit dem Silvestermorgen 2010 kennt, ist dieses Projekt das erste, das Tarun von Anfang an mitgeplant und betreut hat, das Projekt, bei dem er nicht, wie bei dem Bahnhof in Schweden oder den Bauten hier in Berlin, dazugestoßen ist, sich integriert und »geholfen« hat, nein: »der Turm«, wie Tarun den Bau im Werden gerne nennt, ist das Projekt, bei dem er, der Inder in einem Büro voller Deutscher und Engländer, er, der seine Kindheit und Schulzeit selbst in Kolkata verbracht hat, von der ersten Zeichnung an federführend gewesen ist; das Projekt, bei dem Tarun auf die Idee mit dem Rundbau, den Wasserläufen und den einander umschlingenden Treppen im Gebäudeinneren gekommen ist.

»Das, was mich als Student beim Analysieren von Bauzeichnungen so fasziniert hat, ist auch die größte Herausforderung beim Bauen«, sagt Tarun und lächelt: »Alles hängt mit allem zusammen, das am Ende Sichtbare mit dem Unsichtbaren, die Sporthallen mit den Entlüftungsschächten, die Wasserbecken für die Kinder mit dem Rohrsystem im Boden, und selbst der leere Saal oben unter dem Dach braucht funktionierende Klimaanlagen und genügend Stromleitungen.« Tarun beugt sich vor, zu Clara: »Ich habe in den letzten Tagen öfters an meinen ersten Professor in London gedacht, der einmal zu uns gesagt hat: Ein guter Architekt muss in der Lage sein, von jedem Punkt des Fundaments aus hochzublicken und alles über ihm, jeden Boden, jedes Rohr und jede Isolierfolie, jedes Detail bis zum Dach in Maß und Material genau benennen...
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Autor

Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman ¿Strom¿, ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.
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Dübgen, Hannah