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Der Weg nach Lagoa Santa

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.06.20161. Auflage
Henrik Stangerup hat einen faszinierend vielschichtigen Roman über den dänischen Naturwissenschaftler Dr. Wilhelm Lund geschrieben, der im 19. Jahrhundert als Entdeckungsreisender in Brasilien vorzeitliche Höhlen erforscht und in jahrzehntelanger mühseliger Arbeit Tausende von fossilen Knochenfunden erfaßt hat, nur unterstützt von seinem Assistenten und aufopferungsvollen Freund, dem Kunstmaler Andreas Brandt. Irgendwann weiß Dr. Lund, daß er Lagoa Santa nie mehr verlassen wird, und längst haben die Einheimischen begonnen, Mythen um seine Person zu flechten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Henrik Stangerup (1937-1998) war ein dänischer Schriftsteller, der sich auch als Filmemacher einen Namen gemacht hat. Er erhielt 1981 den Kritikerpreis und 1986 den großen Preis der Dänischen Akademie. Seine Romane wurden in viele Sprache übersetzt.
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Produkt

KlappentextHenrik Stangerup hat einen faszinierend vielschichtigen Roman über den dänischen Naturwissenschaftler Dr. Wilhelm Lund geschrieben, der im 19. Jahrhundert als Entdeckungsreisender in Brasilien vorzeitliche Höhlen erforscht und in jahrzehntelanger mühseliger Arbeit Tausende von fossilen Knochenfunden erfaßt hat, nur unterstützt von seinem Assistenten und aufopferungsvollen Freund, dem Kunstmaler Andreas Brandt. Irgendwann weiß Dr. Lund, daß er Lagoa Santa nie mehr verlassen wird, und längst haben die Einheimischen begonnen, Mythen um seine Person zu flechten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Henrik Stangerup (1937-1998) war ein dänischer Schriftsteller, der sich auch als Filmemacher einen Namen gemacht hat. Er erhielt 1981 den Kritikerpreis und 1986 den großen Preis der Dänischen Akademie. Seine Romane wurden in viele Sprache übersetzt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105608319
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.06.2016
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1288 Kbytes
Artikel-Nr.1955504
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2

An all dies denkt Dr. Lund, während er auf seinem Maultier über das offene Campos-Land dahinreitet; Schweißperlen rinnen über die Brillengläser, der Strohhut mit der breiten, geschwungenen Krempe ist tief über den Kopf gezogen, und er verspürt einen kleinen Schmerz, wo der Kragen in den Nacken einschneidet. In der Ledertasche über der Schulter hat er seine unentbehrlichen hartgekochten Eier, Brot, Stücke des ungenießbaren brasilianischen Käses (im Geschmack am ehesten wie eingetrocknete, saure Sahne), etwas getrocknetes Fleisch sowie die Flasche mit abgekochtem Wasser und den Beutel mit Talglichtern. Die großen Fackeln sind nicht mehr nötig, nachdem die wissenschaftliche Arbeit abgeschlossen ist. Und weiter denkt er: Gedanken sind eins, etwas anderes ist ... Etwas anderes ist die Natur. Die Natur überall. Dr. Lund ist fähig, in einem Winkel von fast einhundertachtzig Grad zu sehen. Die geringste Bewegung bemerkt er, einen Frosch, der sich hinter einem Blatt rührt, einen Raubvogel, der weit draußen am Horizont sein ganzes Gewicht in den senkrechten Sturz nach einer Beute legt, und gleichzeitig überblickt er den unendlichen Teppich von blaugrünen Grasarten, die den Untergrund der Campos-Vegetation bilden, ein Teppich mit einer Vielfalt verstreuter Kräuter und kleiner Sträucher mit zarten Blüten. Darüber erheben sich unregelmäßig die größeren Büsche, aber das Eigentümlichste in Dr. Lunds Augen sind die Bäume. Sie sind alle weniger als mittelhoch, mit niedrigen, verdrehten Stämmen, in vielen Windungen verrenken sich die Äste und bilden eine Krone, die sich mehr in die Breite als in die Höhe entfaltet. Die Rinde ist dick, zerfurcht, korkartig.

Dr. Lunds Finger sind oft schwarz geworden, wenn er an die Stämme gefaßt hat. Kein Tag vergeht ohne gigantische Brände, und es gibt sie seit Jahrhunderten. Zuerst hatte er geglaubt, die Brände seien das Werk des brasilianischen Landmanns, doch nach näheren, gründlichen Studien ließ er diese Erklärung fallen. Er hat Dokumente über Güter in der Campos-Region gesehen, die auf die erste Besiedlung des Landes zurückgehen, und wo die Verteilung zwischen offenem Campos und Wald genauso eingezeichnet ist, wie sie noch heute aussieht. Die ausgedehnten campos de Araquara, die kein weißer Mann betreten hatte, bevor er mit Riedel zusammen dorthin kam, sind erst in den letzten fünfzehn Jahren den Indianern abgerungen worden, und die ersten brasilianischen Neusiedler haben ihm zu wiederholten Malen versichert, daß das Land vorher genauso aussah wie jetzt. Aber erst das Studium der Bäume hat Dr. Lund endgültig davon überzeugt, daß es lange vor den verstreuten Spuren der Zivilisation gebrannt hat. Er hat Bäume mit Stämmen von gewaltigem Umfang gefunden, aber mit verkrüppelten, verwachsenen Kronen - dieselben Bäume, die im jungfräulichen Wald, der catanduva, rank und himmelwärts wachsen. Doch, seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden, seit der Zeit des Vorzeitmenschen hat es in Brasilien gebrannt, wie jetzt, dort drüben, ungefähr hundert Kilometer von hier entfernt, oder dort, nur etwa zwanzig Kilometer weit weg, gigantische Rauchwolken, die plötzlich zum Himmel aufsteigen, verwehen, von neuem aufsteigen, tagelang, wochenlang. Hier ist es Kain, dem Gott seinen Windteppich über das Feuer legt, dort ist es Abel, dem Gott Glück gibt.

Und dennoch kehrt die Natur nach den Bränden zurück, Jahr für Jahr. Durch den Grasteppich schießen Kräuter, Büsche und Sträucher auf. Ein Ausflug über diese meeresblauen Ebenen belohnt jeden Botaniker mit einer Ausbeute von wunderbarer Blütenpracht: Dr. Lund fühlt sich noch einmal privilegiert, noch einmal weiß er, wie recht er daran tat, zur Natur Brasiliens zurückzukehren, und daß die Vorsehung mit ihm gewesen ist, ganz wie sie ihm nun deutlich wieder den Weg nach Europa zurückweist. Die Erinnerung an die Schätze, die er in den vergangenen Jahren hier in diesen Campos gesammelt hat, ist so reich, daß sie ihn stärker verzaubert als die Erinnerung an die Wiesen zu Hause in Dänemark. Vermißt er hier während der Regenzeit den dänischen Regen, wird er in Europa für immer den blaugrünen Grasteppich der Campos vermissen. Bald, gegen Ende der Trockenzeit, werden die Campos ihr Bild verändern, das Gras wird trocken werden wie Stroh, die Blüten werden verwelken, und Dr. Lund wird sich auf ein Haferfeld versetzt fühlen. Dann wird es überall brennen, kein Campo wird verschont bleiben, doch schon nach ein paar Wochen wird die Erde wieder mit einem Teppich von frischestem Grün bedeckt sein. So wird dem Frühling vorgearbeitet, und Dr. Lund wird den Anblick genießen, auf der einen Seite des roten, lehmigen Pfads, auf dem er gerade reitet, die triste, aschfahle Wintererde zu sehen, während sich auf der anderen die Landschaft in der ganzen Pracht des hervorbrechenden Frühlings entfaltet. Und wie jetzt wird es keinen Busch, kein Kraut und keinen Strauch geben, die er nicht kennt. Keine der Pflanzen ist einjährig. Derselbe Umstand, der die Bildung der einjährigen Pflanzen verhindert, die Härte der Erdkruste, dient als Schutz gegen die Einwirkung des Feuers auf die Wurzeln der mehrjährigen Pflanzen. Und doch! Auch das hat Dr. Lund untersucht: die wesentlichste Schutzvorrichtung liegt in der eigenen Substanz dieser Wurzeln. Bis auf wenige Ausnahmen entwickelt sich bei allen diesen mehrjährigen Kräutern die Wurzel zu einer Knolle, oft saftig und mehlig, wie morsches Holz. In dieses gegen die zerstörerische Einwirkung von Trockenheit und Feuer gesicherte Asyl zieht sich der Lebensprozeß zurück, und dieser Saftbehälter treibt schon bald mit erneuerter Kraft Keime, die vom Tau der Nacht oder von dem Regen, der stets auf das Feuer folgt, hervorgelockt werden.

Es wird allmählich spät. Dr. Lund schätzt, daß die Temperatur auf zwischen achtzehn und zwanzig Grad gefallen ist. Es hat nur zwei Regentage gegeben im Laufe des letzten Monats, und der rubinfarbene Himmel ist nahezu wolkenlos. Dr. Lunds Weg führt nach Süden, durch immer dichteren Campos-Wald hinunter zu einer sumpfigen Ebene, die im Norden und Westen durch das aufsteigende Hochland, im Süden durch den letzten Ausläufer des Bergrückens Serra do Espinhaço begrenzt wird. Dort liegt eine der Höhlen, die er am liebsten hat, Lapa da Cerca Grande. Nur die durchdringenden Stimmen der Papageien, die Klagetöne der Anus und das heisere Brüllen der Caracaras unterbrechen die Stille, als er hinunterreitet auf die Ebene mit dem Indianerfelsen Mocambo, der wie eine gigantische Raubritterburg mitten in dem Grünen liegt, den Eingang zur Höhle gut verborgen gegen Nordosten gerichtet. Dr. Lund ist wund nach dem langen Ritt. Er öffnet die Ledertasche, nimmt einen kleinen Schluck Wasser und schlägt zwei Eier aneinander. Er freut sich auf die Übernachtung in der kleinen Schutzhütte, die er an den Felsen hat bauen lassen, und er sieht noch immer alle Bäume und Büsche des Campos-Landes vor sich, nun wo es dunkler wird und die Ebene vor ihm liegt, während in seinem Hirn ihre trockene, bald lederartige, bald spröde Konsistenz von matter, schmutziggrüner Farbe und ihre Bezeichnungen aufeinandertreffen: Murcia, Eugenia, Psidium, Cassia, Mimosa, Acacia, Byrsonima, Kielmeyra, Davilla, Bombax, Anacardium, Zeyheria montana.

Der Platz in seinem Gehirn, wo alle diese Namen aufbewahrt werden, ist sein Saftbehälter, aus dem ihm jeden Tag neue Kraft zufließt. Er kann vor Erschöpfung umfallen oder tagelang krank daliegen - unweigerlich kehrt die Kraft in ihn zurück und füllt ihn mit Neugier und mit dem Wissen darum, daß Gott seine Schritte lenkt. Alles ist von dem göttlichen Willen hervorgebracht, alles wird von ihm beherrscht. Etwas in Gottes Plan als übernatürlich und vernunftwidrig zu bezeichnen heißt, es von Gott, der eins ist mit der Vernunftordnung, zu isolieren, und der Aberglaube, dem die Brasilianer sich anheimgeben, hat nichts mit Glauben zu tun. Der Name lügt: ein Glaube muß ausgesprochen werden können, wie Ørsted sagen würde. Murcia, Eugenia, Psidium ... das heißt, den Glauben auszusprechen. Cassia, Mimosa, Acacia ... das heißt, aus einem bescheidenen Winkel, nach bestem Vermögen, in Demut Gottes Plan zu beschreiben, von dem auch er, Dr. Lund ein Teil ist. Von diesen Camposbüschen bis zu den Knochen aus den Höhlen, die jetzt darauf warten, nach Dänemark versandt zu werden, von den Kiesgruben am Jagtvejen und Vibens Hus, in denen er als Junge spielte, bis zu dem Tag, als er auf dem Weg nach Vesterbro Gottes Wort am Himmel sah, mit leuchtenden Buchstaben, und niederkniete, bebend vor Ehrfurcht, aber zugleich fürchtend, jemand könne ihn sehen und für verrückt halten, von all den Vorlesungen, die er besucht hat, bis zu seiner eigenen Doktorarbeit, von den Fußwanderungen auf Sizilien zusammen mit Schouwbis zu jenem Tag in Paris, als er Alexander von Humboldt begegnete, von seinem ersten Besuch in Brasilien bis zu diesem Augenblick, da er nicht ganz zwanzig Jahre später über die Ebene reitet, während die Sonne ihre letzten Flammen über den Horizont schickt, direkt über einem weiteren rauchenden Campo; über all dem liegt eine tiefe Wahrheit, ist mit feinsten Fäden ein Zusammenhang gewoben.

Brandt, denkt Dr. Lund. Es muß eine Antwort geben auf das Problem Brandt! Europa, denkt Dr. Lund, und gerade in diesem Augenblick sehnt er sich nicht nach Straßenpflaster. Er steigt vom Maultier, bindet es an einen Pfosten der Hütte. Was ist das? Ein schwacher Schauer durchfährt ihn. Kurz danach wird er zu einem Schmerz, der sich vom Nacken bis über die Lenden hinab ausbreitet. Aber es ist kein physischer Schmerz, der an einer bestimmten Stelle seinen...
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Autor

Henrik Stangerup (1937-1998) war ein dänischer Schriftsteller, der sich auch als Filmemacher einen Namen gemacht hat. Er erhielt 1981 den Kritikerpreis und 1986 den großen Preis der Dänischen Akademie. Seine Romane wurden in viele Sprache übersetzt.