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Arme, Bettler und Vaganten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
252 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.09.20161. Auflage
Seit dem Ende des Mittelalters reagierten die Obrigkeiten in ganz Europa zunehmend mit Restriktionen auf Bettler und Vaganten. Armut war ein gesamteuropäisches Phänomen, doch wandelte sich die Wahrnehmung. Neben die Fürsorge traten zunehmend Marginalisierung und Verfolgung. Martin Rheinheimer zeichnet das Schicksal der Armen nicht nur in ihrer Rolle als Objekte wirtschaftlicher Entwicklungen, sozialer Veränderungen oder politischer Maßnahmen nach. Er nimmt diese Menschen auch als Subjekte ernst und fragt nach ihren Weltbildern, ihren Werthaltungen und den Funktionsweisen ihrer Subkulturen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Martin Rheinheimer, geboren 1960 in Reinbek bei Hamburg, studierte in Kiel und Thessaloniki. 1989 Promotion zum Dr. phil., 1998 Habilitation. Ursprünglich Mittelalterhistoriker, wandte er sich um 1990 der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit zu. Er ist Professor für Maritim- und Regionalgeschichte (1500-1900) an der Syddansk Universitet in Odense (Dänemark).
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Produkt

KlappentextSeit dem Ende des Mittelalters reagierten die Obrigkeiten in ganz Europa zunehmend mit Restriktionen auf Bettler und Vaganten. Armut war ein gesamteuropäisches Phänomen, doch wandelte sich die Wahrnehmung. Neben die Fürsorge traten zunehmend Marginalisierung und Verfolgung. Martin Rheinheimer zeichnet das Schicksal der Armen nicht nur in ihrer Rolle als Objekte wirtschaftlicher Entwicklungen, sozialer Veränderungen oder politischer Maßnahmen nach. Er nimmt diese Menschen auch als Subjekte ernst und fragt nach ihren Weltbildern, ihren Werthaltungen und den Funktionsweisen ihrer Subkulturen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Martin Rheinheimer, geboren 1960 in Reinbek bei Hamburg, studierte in Kiel und Thessaloniki. 1989 Promotion zum Dr. phil., 1998 Habilitation. Ursprünglich Mittelalterhistoriker, wandte er sich um 1990 der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit zu. Er ist Professor für Maritim- und Regionalgeschichte (1500-1900) an der Syddansk Universitet in Odense (Dänemark).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105613450
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.09.2016
Auflage1. Auflage
Seiten252 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2090784
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Einleitung

»Sie begegnen auf der Straße einem Bettler«, so das imaginäre Bild, das uns der Hamburger Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun vor Augen stellt: »Bitte malen Sie sich die Situation genau aus, so daß sie Ihrem tatsächlichen Erleben entspricht: Sitzt er oder steht er? Ist er stumm oder spricht er Sie an ( Hassu mal ´ne Mark? )? Ist es überhaupt ein Er oder eine Sie ? Hat er/sie noch etwas dabei: ein kleines Kind, einen Hund, ein Schild, ein Musikinstrument?«[1] Dann fragt uns der Psychologe nach unserer eigenen Situation, ob wir in Eile sind oder Zeit haben, und kommt auf unsere inneren Regungen zu sprechen, indem er analysiert, welche Stimmen in uns laut werden: »Der/die peinlich Berührte: Wie unangenehm! Muß dieser Mensch mir an diesem schönen Tag das Elend der Welt so drastisch vor Augen führen!? Nicht hinsehen und schnell vorbei!  - Der/die Mitleidige: Der Arme! Schlimm, daß es bei uns solche Armut gibt! Ich sollte wenigstens stehenbleiben und ein paar Mark beisteuern, wenn ich schon sonst nichts tun kann!  - Der/die Hartherzige: Selber schuld! Bei uns muß niemand hungern! Die Polizei sollte solche Leute von der Straße jagen - sie beleidigen das Auge eines anständigen Bürgers! « Und »der/die Mißtrauische« flüstert: »Macht der nicht auf die Mitleidstour, und ich falle womöglich darauf herein? Schreibt Brot und meint Schnaps ? Und ich finanziere ihm dann seinen unseligen Lebenswandel!?« Weitere Stimmen könnten »der/die schuldbewußte Privilegierte«, »der/die Eilige«, »der/die nicht auffallen möchte«, »der/die Leistungsbetonte«, »der/die Systemkritikerin« usw. sein.[2]

Wie werden wir uns verhalten? Wie gehen wir heute mit den Armen und Bettlern um, jeder privat und die Gesellschaft insgesamt? Die imaginierte Situation macht quälend bewußt, daß hier ein innerer Konflikt schwelt, den jeder mit sich und den die Gesellschaft als ganze austrägt oder verdrängt. Die Stimmen sind zum Teil seit Jahrhunderten die gleichen, andere sind neu hinzugekommen oder einfach nur lauter geworden. So hat die Einführung von Sozialversicherungen seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Maß an sozialer Sicherheit geschaffen, das es in der Frühen Neuzeit nicht gab und das die Stimmen der Hartherzigen und Leistungsbewußten vielleicht hat lauter werden lassen. Zugleich ist die Abstraktion der sozialen Beziehungen auf eine neue Stufe getreten. Nachdem in der Versicherung der Anspruch auf Unterstützung juristisch festgeschrieben worden ist, wird das Herausfallen aus allen sozialen Netzen immer weniger vorstellbar.

Gerade die Armut hat sich nicht unabhängig von den übrigen gesellschaftlichen Prozessen entwickelt. Die von ihr betroffenen Menschen standen immer in einem dialektischen Prozeß mit der übrigen Gesellschaft und ihren Deutungen. Die sozialen Konflikte fanden Ausdruck in bestimmten Werten und Unwerten, die sich wiederum an bestimmten Verhaltensweisen (zum Beispiel Müßiggang, Unzucht, Kindsmord) oder ganzen Gruppen von Menschen (ledigen Müttern, »falschen« Bettlern, Zigeunern und anderen) kristallisierten. Die unterschiedlichen Diskurse entfernten sich dabei mitunter weit vom realen Leben in der Not, bestimmten es aber nichtsdestoweniger über die Gewährung oder Nichtgewährung von Unterstützung, über Diskriminierungen, Verfolgungen oder Erziehungsprogramme.

Jenseits der öffentlichen Debatten wurden in den sozialen Schichten und zwischen den Schichten verdeckte Diskurse geführt. Armut wurde einerseits von der Oberschicht inszeniert, um sich selbst darzustellen und die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu zementieren, andererseits inszenierten sich die Armen selbst als arm, um Sozialkapital und Unterstützung zu aktivieren. Abgrenzungen konnten dazu dienen, den eigenen Status zu bewahren oder Konkurrenz um Arbeit und Ressourcen abzuwehren. Diese Inszenierungen gilt es zu entschlüsseln. Erst indem wir hinter den Vorhang der gesellschaftlichen Vorurteile und Projektionen schauen, werden die individuellen Erfahrungen, Einstellungen und Überlebensstrategien deutlicher, die gesellschaftlichen Diskurse und Mißverständnisse erklärbar. Der Arme erscheint nicht nur als hilfloses Objekt, sondern als historisches Subjekt.

Um die unterschiedlichen Erfahrungsweisen und Deutungen von Wirklichkeit, das Netz aus sozialen Beziehungen, Normen und Institutionen zu verstehen, ist der mikrohistorische Blick auf das Kleine hilfreich. Der Lynchmord an einem Bettler, der nach einem Diebstahl erwischt wurde, führt uns tief hinein in die komplexe Problematik der Unterschichten, der Armut und des Vagantentums der Frühen Neuzeit:

Am 19. Juni 1727 gegen sechs Uhr abends kam ein Bettler in das Dorf Wohlde in Stapelholm, ganz im Süden des Herzogtums Schleswig. Er trug ein rotes Hemd, Leinenhosen und einen Tornister für Lebensmittel und seine wenigen Habseligkeiten. Um diese Zeit arbeiteten die meisten Einwohner noch auf den Feldern oder im Moor. So bot sich dem Bettler eine besondere Gelegenheit: Als er an das Haus eines Tagelöhners kam, fand er die Tür offen und drinnen nur einen gelähmten alten Mann. In seiner Dreistigkeit ging er durch das Haus und fand auf der Rückseite im Garten zum Bleichen ausgelegtes Leinen. Er ergriff es, sprang über den Zaun und lief weg.

Das Unheil nahm seinen Lauf. Die Frau des Gelähmten und seine Schwiegertochter kehrten zurück, der Alte berichtete von dem Diebstahl, die Frauen liefen zu den Nachbarn und schlugen Alarm. Die Leute machten sich auf die Suche nach dem Dieb. Da um diese Zeit viele von der Arbeit heimkehrten, konnte es nicht ausbleiben, daß der Mann schnell gestellt wurde. Er wurde verprügelt, und man nahm ihm das Gestohlene wieder ab. So weit ist der Fall nichts Besonderes: Es geschah ein Diebstahl, man verfolgte den Dieb und stellte die Ordnung wieder her. Da die Obrigkeit weit war, regelte man den Fall schnell und unbürokratisch selbst, indem man ihm eine Abreibung verpaßte, um ihm eine Lektion zu erteilen.

Aber in diesem Fall eskalierte die Situation. Der Dieb wurde immer mehr geschlagen, man trieb ihn mit Knüppeln weiter und hieb auf ihn ein, bis er zusammenbrach. Es gab zwar mäßigende Stimmen, doch einige prügelten weiter, der Mann raffte sich wieder auf, und sie schlugen aufs neue. Besonders taten sich der bestohlene Tagelöhner, der inzwischen ebenfalls von der Arbeit gekommen war, und seine Frau hervor. Man nahm dem Bettler auch seinen Beutel und seinen Rock weg. Schließlich blieb er an einem Damm liegen.

Den Beteiligten wurde allmählich klar, daß sie es übertrieben hatten; in der Nacht versuchte der Tagelöhner, den verletzten Bettler zum Weiterziehen zu bewegen, ja er organisierte sogar einen Wagen für ihn. Aber da war es zu spät: Der Bettler konnte nicht mehr aufstehen.

Anders die Reaktion des Bauervogts, also des Dorfvorstehers. Er ließ das Dorf in dieser Nacht bewachen. Offenbar fürchtete er weitere Diebstähle oder einen Racheakt des Bettlers, vielleicht eine Brandstiftung, wie man sie abgewiesenen Bettlern gern unterstellte.

Am nächsten Morgen war der Bettler tot.[3]

Der Tod des Bettlers war durchaus kein Einzelfall. Gerade in der Zeit kurz nach 1700 kam es wiederholt vor, daß Bettler oder vor allem auch Zigeuner, die bei einem Diebstahl erwischt wurden oder die man irrtümlich für die Schuldigen hielt, gelyncht wurden. Auch wenn diese Fälle eine extreme Form des Umgangs mit Bettlern und Zigeunern darstellen, so werden an ihnen doch die Spannungslinien im Verhältnis zwischen seßhafter Bevölkerung und den Marginalisierten, den Menschen am äußersten Rande der Gesellschaft, die schon fast gar nicht mehr dazugehörten, deutlich.

Ziel dieses Buches ist es, einen Eindruck von den Mechanismen der Armut zu vermitteln. Im Zentrum stehen dabei die Lebenswelten der frühneuzeitlichen Armen. Mit dem Begriff »Lebenswelt« ist, nach der Definition von Rudolf Vierhaus, »die - mehr oder weniger deutlich - wahrgenommene Wirklichkeit gemeint, in der soziale Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum Wirklichkeit produzieren«.[4]

Die einzelnen Kapitel zeigen jeweils an einer besonderen Gruppe die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Lebenswelten in Armut auf. Auf diese Weise möchte ich die Mechanismen ihrer Entstehung, der Abgrenzung, der gegenseitigen Durchdringung und Beeinflussung veranschaulichen sowie die komplexen Zuschreibungs- und Aneignungsprozesse, die innerhalb der Gesellschaft stattfanden, beleuchten. Viele Wahrnehmungs- und Handlungsweisen, die zum Teil bis heute wirken, werden daraus verständlicher. Die Beschäftigung mit der Armut in der Frühen Neuzeit erlaubt es, die Kategorien, die seitdem entstanden sind und uns prägen, an der historischen Wirklichkeit zu messen, ihre Ursprünge zu verstehen und sie dadurch zu relativieren. Insofern soll die Betrachtung der Vergangenheit helfen, die Gegenwart besser zu verstehen und Handlungsmaximen für die Zukunft zu entwickeln.

Die Gliederung dieses Buches folgt der Stufenleiter der sozialen Not nach unten. Im ersten Kapitel geht es um alle diejenigen Menschen, die von der Verarmung nur bedroht waren. Das zweite Kapitel widme ich den Frauen, die insgesamt der Not stärker ausgesetzt waren als die Männer. Im dritten Kapitel behandele ich die »wahren« Armen. Dort geht es sowohl um Aspekte der Fürsorge als auch um die Bedingungen eines Lebens in Bedürftigkeit und Abhängigkeit von obrigkeitlicher Unterstützung. Davon ausgeschlossen und kriminalisiert wurden zu Beginn der Frühen Neuzeit die fremden Bettler, weshalb im vierten Kapitel...
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Autor

Martin Rheinheimer, geboren 1960 in Reinbek bei Hamburg, studierte in Kiel und Thessaloniki. 1989 Promotion zum Dr. phil., 1998 Habilitation. Ursprünglich Mittelalterhistoriker, wandte er sich um 1990 der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit zu. Er ist Professor für Maritim- und Regionalgeschichte (1500-1900) an der Syddansk Universitet in Odense (Dänemark).