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Stumme Herzen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
384 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am27.04.20171. Auflage
In ihrem vielstimmigen neuen Roman geht Carla Guelfenbein vor allem einer Frage nach: Wie viel schulden wir den Menschen, die wir lieben? Die legendäre Schriftstellerin Vera Sigall lebt im Alter zurückgezogen in ihrem Haus in Santiago de Chile. Kaum jemand weiß von ihrer Verbindung zu dem berühmten Dichter Horacio Infante. In jungen Jahren hatten die beiden eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, feilten gemeinsam an ihren Texten, feierten erste kleine Erfolge. Doch erst Jahrzehnte später, als Vera nach einem Unfall im Koma liegt, kommt eine junge Studentin auf die Spur einer ungeheuren Wahrheit

Carla Guelfenbein, geboren 1959 in Santiago de Chile, gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen ihres Landes. Als Reaktion auf das Regime Pinochets verließ sie als junge Frau Chile und studierte in England Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt; auf Deutsch sind bereits erschienen »Die Frau unseres Lebens«, »Der Rest ist Schweigen« und» Nackt schwimmen«. Für ihren letzten Roman, »Stumme Herzen«, erhielt Carla Guelfenbein den renommierten Premio Alfaguara.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextIn ihrem vielstimmigen neuen Roman geht Carla Guelfenbein vor allem einer Frage nach: Wie viel schulden wir den Menschen, die wir lieben? Die legendäre Schriftstellerin Vera Sigall lebt im Alter zurückgezogen in ihrem Haus in Santiago de Chile. Kaum jemand weiß von ihrer Verbindung zu dem berühmten Dichter Horacio Infante. In jungen Jahren hatten die beiden eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, feilten gemeinsam an ihren Texten, feierten erste kleine Erfolge. Doch erst Jahrzehnte später, als Vera nach einem Unfall im Koma liegt, kommt eine junge Studentin auf die Spur einer ungeheuren Wahrheit

Carla Guelfenbein, geboren 1959 in Santiago de Chile, gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen ihres Landes. Als Reaktion auf das Regime Pinochets verließ sie als junge Frau Chile und studierte in England Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt; auf Deutsch sind bereits erschienen »Die Frau unseres Lebens«, »Der Rest ist Schweigen« und» Nackt schwimmen«. Für ihren letzten Roman, »Stumme Herzen«, erhielt Carla Guelfenbein den renommierten Premio Alfaguara.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783104902333
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum27.04.2017
Auflage1. Auflage
Seiten384 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1565 Kbytes
Artikel-Nr.2111796
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


3

[Daniel]


Das Zimmer lag im Dämmerlicht. Ich ging zu dir und legte meine Finger auf dein weißes Haar. Heizungsluft und Schweigen erfüllten den Raum. Die Stille war so groß, als lauerte hinter ihr der Tod. Um ein Handgelenk trugst du ein Plastikarmband mit deinem Namen. Man hatte dir ein Bein und eine Hand eingegipst. Beide Arme wurden von zahllosen Schläuchen zu beiden Seiten des Bettes ruhiggestellt, die an Maschinen zur Kontrolle deiner Körperfunktionen angeschlossen waren. Deine Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Ein Beatmungsgerät versorgte dich mit Sauerstoff.

Der Arzt hatte mir erklärt, dass der Sturz neben den Prellungen ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Hämatomen im Gehirn verursacht habe. Sie müssten Zeit gewinnen, während es abschwelle, deshalb hätten sie dich »in Schlaf versetzt«. Ein Euphemismus, der dir gar nicht gefallen hätte. Das künstliche Koma war die einzige Form, die Reize auf das Gehirn so niedrig wie möglich zu halten und den intrakraniellen Druck zu kontrollieren. Er erläuterte alles ausführlich. Doch auf meine Frage, ob du mich hören oder überhaupt merken würdest, dass jemand bei dir ist, antwortete er ausweichend. »Mit Sicherheit können wir das nicht wissen«, sagte er, »aber alles deutet darauf hin, dass ein Patient im Koma nichts um sich herum wahrnimmt.«

»Vera«, sagte ich, dann verschlug es mir die Stimme.

Mir wurde schwer ums Herz bei dem Gedanken, du könntest dort sein, in diesem Körper unter den Laken verborgen; du könntest versuchen, mir von dieser anderen Seite des Lebens etwas zu sagen. Ich nahm deine Hand und drückte sie fest.

Es hatte geregnet, draußen warfen die ersten Laternen ihren Schein auf die nasse Straße.

Eine Krankenschwester klopfte und betrat das Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie war klein mit breiten Hüften, ich schätzte sie auf Mitte dreißig. Ihr Gesicht hatte die Drallheit einer reifen Frucht.

»Sie haben seit Stunden nichts gegessen. Warum gehen Sie nicht in die Cafeteria? Der Dame wird nichts passieren«, sagte sie, während sie etwas auf ein Notizbrett schrieb.

Als ich nicht antwortete, unterbrach sie ihre Arbeit und sah zu mir. Sie machte einen Schritt zurück und rückte sich den Dutt zurecht. Ihre Wangen wurden rot. Mir war klar, dass ich sie verunsicherte.

»Es ist gut, wenn Sie mit ihr sprechen und ihr Gesellschaft leisten. Ich bin sicher, dass sie Sie hören kann.«

Ich hätte sie gern noch etwas gefragt, aber ihr hochrotes Gesicht hielt mich davon ab.

»Ich heiße Lucy, wenn Sie etwas brauchen, drücken Sie einfach den Knopf hier.«

Nachdem sie gegangen war, setzte ich mich in den Sessel neben deinem Bett und schlief ein.

In regelmäßigen Abständen kamen Krankenschwestern herein, um deine Werte zu kontrollieren, und jedes Mal schreckte ich hoch. Als ich mitten in der Nacht wieder einmal brüsk aus dem Schlaf gerissen wurde, bereute ich plötzlich, so wenig über dich zu wissen. Über deine Herkunft, deine Familie, dein Leben. Du hattest einen Mann und einen Sohn gehabt, Manuel Pérez und Julián, aber du erwähntest sie nie. Ich wusste nur, dass dein Sohn mit dreißig Jahren an einer Lungenkrankheit gestorben war. Trotz unserer Nähe war auch ich dem Geheimnis unterworfen, mit dem du dich umgabst, um dich vor der Welt zu schützen.

Mich wunderte, dass sich auf die Nachricht deines Unfalls in den Zeitungen kein Angehöriger meldete. Und waren die Besucher, die kamen - Schriftsteller, Dichter, Geistesgrößen - auch ganz offensichtlich schmerzlich berührt, schien keiner dich besonders gut zu kennen. Die einzige Person, mit der ich mich in Kontakt setzte, war dein Freund Horacio Infante, der Dichter. Ich hatte seine Adresse nicht, aber Gracia brachte sie in Erfahrung. Aus unseren Gesprächen hatte ich herausgehört, auch wenn du es nicht ausdrücklich gesagt hast, dass Infante dir viel bedeutete. Seine Stimme am Telefon klang bewegt. Aber es kam mir seltsam vor, dass er dich nicht im Krankenhaus besuchte. Ich rief ihn ein weiteres Mal an, erreichte ihn jedoch nicht. Also hinterließ ich meine Mobilnummer auf dem Anrufbeantworter, sollte er sich nach dir erkundigen wollen. Später las ich in der Zeitung, dass er ein paar Tage nach deinem Unfall nach Paris zurückgeflogen war, wo er wohnte.

Als die Dunkelheit langsam dem ersten blauen Schimmer des Morgengrauens wich, stellte ich mir vor, wie in der Hülle deines Körpers dein Herz pochte und dass du dieses Herz warst. Auch wenn du mich nicht hören konntest, bewohntest du diesen Raum. In seinen Wänden lebtest du in anderer Form fort.

Benommen von der durchwachten Nacht, ließ ich das Auto am Krankenhaus stehen und ging den Fluss entlang zurück nach Hause. Das Morgenlicht stieg in den Bergen auf, erhob sich blendend hell über den verschneiten Gipfeln und blinkte in den Fensterscheiben auf.

Als ich in unsere Straße gelangte, sah ich unter einer Decke den Obdachlosen auf einem unförmigen Sack an einer Hauswand schlafen. Seit einem guten Jahr strich er in unserer Gegend herum, wir hatten uns an ihn gewöhnt, an seinen Geruch, an das Klappern der leeren Dosen, die an Schnüren um seine Schulter hingen und aneinanderschlugen, wenn er sich vorwärts bewegte. Er war groß, hatte einen kleinen Vogelkopf, und hinter seinem heruntergekommenen Äußeren konnte man den stattlichen Mann erahnen, der er einmal gewesen war. Er hatte uns nie um Essen oder Geld angebettelt, ob seine Würde es ihm verbot oder weil er in einer anderen Welt lebte, war schwer zu sagen.

Zu Hause zog ich mich aus, duschte und schmiegte mich an Gracia. Die Wärme ihrer Haut belebte meine Sinne, aber sie schlief und reagierte nicht auf meine Annäherungsversuche.

Zwei Stunden später wachte ich mit schmerzendem Körper auf. Gracia kam aus dem Bad, in ein Handtuch gewickelt. Sie ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Ich sah dein Haus, das überwucherte Ziegeldach. Mir fiel ein, dass Arthur und Charly furchtbar hungrig sein mussten. Gleich nach dem Aufstehen würde ich hinübergehen und sie füttern.

»Guten Morgen«, sagte Gracia mit ihrer rauen Stimme.

Ihre Augen waren gerötet, als habe sie wenig geschlafen oder geweint, und ihr Kinn bebte auf eine rührende Art.

Ihr stets gebräunter Teint hob sich von dem weißen Handtuch ab. Sie setzte sich im Schneidersitz in die Mitte des Betts und fasste ihr feuchtes langes Haar im Nacken zusammen. Gracia besaß ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Wir haben nie explizit darüber gesprochen, aber ich wusste, dass so etwas für dich keine Tugend darstellte. Du hast mir immer gesagt, das einzig Gute an einem Künstler seien seine Brüche, seine Ungewissheiten, seine Fragen und seine Irrungen, der ständige Zweifel an dem tieferen Sinn der Dinge. Durch diese Ritzen könnten Dinge hervorgehen, die es vorher nicht gegeben habe.

Aber Gracia hegte keinerlei künstlerische Ambitionen, und die Sicherheit, die sie in allen Lebensbereichen ausstrahlte, hatten ihr zu Karriere und Erfolg verholfen. Sie hatte Ingenieurwesen studiert, war dann aber mit zweiundzwanzig Jahren zum Fernsehen gegangen. Inzwischen, vierzehn Jahre später, präsentierte sie mit schwungvollem Temperament die Nachrichten im beliebtesten Fernsehsender des Landes und wurde täglich von Millionen Chilenen gesehen.

»Ich habe dich nicht nach Hause kommen hören. Wie geht es Vera?«, fragte sie mit besorgter Miene.

»Sie haben sie in ein künstliches Koma versetzt. In ihrem Alter ist die Möglichkeit groß, dass sie daraus nicht mehr aufwacht.«

Gracia schlug jäh die Augen zu, wie um einen schmerzlichen Anblick zu vertreiben. Dann schüttelte sie den Kopf, Wassertropfen spritzten auf, vom Licht erfasst. Sie strich ihr Haar wieder zurück und sah zu der Wand mit der von ihr gerahmten Skizze meines Museumsprojekts. Eine Zeichnung, die mich jeden Morgen daran erinnerte, dass ich einmal, in noch nicht allzu ferner Vergangenheit, einen wichtigen Preis gewonnen hatte und dass die Hoffnung noch bestand, die Idee einmal umgesetzt zu sehen.

»Das ist ja furchtbar.« Sie schlang die Arme um sich selbst.

Es war mir immer schwergefallen, Gracias Gedanken oder Gefühle zu erahnen.

Als ich sie kennenlernte, sehnte ich mich danach, durch unsere Liebe das Gefühl der Entfremdung zu überwinden, das mich begleitet hatte, seit ich ein Junge war. Du hast mir gezeigt, Vera, wie kindisch diese Illusion war. Du hast mir gezeigt, dass jeder eine eigene Welt in sich trägt, mit ihren Konstrukten und Landschaften, die niemand anderem zugänglich ist. Gracia mochte dich nie besonders. Du spürtest es. Sie gab dir mit Schuld an meinem »Faulenzertum«, wie sie die lange Warterei bis zum Beginn des Museumsbaus nannte. Es war schon über ein Jahr vergangen, und die Behörden waren sich immer noch nicht einig. Immer gab es jemanden, der das Projekt vorantrieb, und einen anderen mit größerem Einfluss, der es bremste. Machtstreitigkeiten, technische Überprüfungen, andere Prioritäten. Ich hing unterdessen in der Luft. Jeden Tag stand ich auf und überlegte mir irgendeine andere Verbesserung, ein neues Material, eine betontere Schräge, einen breiteren Flur, und es verging kein Tag, an dem ich nicht am Computer saß und irgendetwas hinzufügte oder löschte. Du warst während dieser Zeit an meiner Seite, Vera. In deiner Gegenwart ängstigten mich die ereignislos verstreichenden Tage nicht. Ich war eingenommen von unseren Gesprächen, unseren Spaziergängen, entdeckte nach und nach das Universum, in dem du dich bewegtest.

»Es ist schrecklich. Ich ...« Gracia verstummte.

»Was?«

»Nein, nichts. Das Leben nimmt nur manchmal so plötzlich eine grausame...
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Autor

Carla Guelfenbein, geboren 1959 in Santiago de Chile, gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen ihres Landes. Als Reaktion auf das Regime Pinochets verließ sie als junge Frau Chile und studierte in England Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt; auf Deutsch sind bereits erschienen »Die Frau unseres Lebens«, »Der Rest ist Schweigen« und» Nackt schwimmen«. Für ihren letzten Roman, »Stumme Herzen«, erhielt Carla Guelfenbein den renommierten Premio Alfaguara.Angelica Ammar wurde 1972 in München geboren, verbrachte nach dem Studium der Romanistik und Ethnologie in München und Madrid zehn Jahre in Paris, seit 2007 lebt sie in Barcelona. Sie übersetzte u.a. Sergio Pitol, Mario Vargas Llosa, Eduardo Galeano, Fernanda Melchor und Karina Sainz Borgo aus dem Spanischen. Eigene Veröffentlichungen: »Tolmed« und »Die Zeit der grünen Mandeln«.