Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Lass mich nicht allein mit ihr

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am17.02.20171. Auflage
Dieses Buch nennt sich selbstbewusst «Roman». Dabei heißt der Ich-Erzähler wie der Autor. Er weist auch gewisse biographische Gemeinsamkeiten mit diesem auf, aber was er vom Stapel lässt, ist so haarsträubend, voller irrer Zufälle, identitätenverbiegend, dramatisch und unernst, dass man nur folgern kann: Das ist nicht das wahre Leben, das ist Quatsch. Oder Literatur, eine wilde Räuberpistole, mit Doppelgänger, geheimen Botschaften (Schlüssel, Schließfach, heikle Polaroids, USB -Stick), einer erotischen Obsession (Vorabendserien-Diva Anja Kruse) und einem Toten im Kleiderschrank. Doch der Erzähler fährt sich immer wieder selbst in die Parade, verliert sich in intimen Bekenntnissen, Aufzählungen, Abschweifungen, reflektiert über Kunst und über Hochstapler in der Kunst; und immer wenn er es wirklich zu bunt treibt, schaltet sich ein ziemlich unsympathischer Lektor ein, um ihm den Marsch zu blasen und klarzustellen, was gerade geht auf dem Buchmarkt: Sogleich beginnt der Erzähler folgsam einen brutalen Thriller, um nach ein paar Absätzen doch wieder in eine völlig andere Richtung zu preschen, denn dieses phantastische Buch tut vieles - es verwirrt, reizt zum Lachen und zum Nachdenken, blendet durch Virtuosität, unterhält aufs Köstlichste -, aber brav eine Geschichte erzählen, das tut es nicht.

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 als Witzezeichner, Maler, Musiker und Schriftsteller in Wien. 2014 erhielt er den Bachmann-Preis.
mehr

Produkt

KlappentextDieses Buch nennt sich selbstbewusst «Roman». Dabei heißt der Ich-Erzähler wie der Autor. Er weist auch gewisse biographische Gemeinsamkeiten mit diesem auf, aber was er vom Stapel lässt, ist so haarsträubend, voller irrer Zufälle, identitätenverbiegend, dramatisch und unernst, dass man nur folgern kann: Das ist nicht das wahre Leben, das ist Quatsch. Oder Literatur, eine wilde Räuberpistole, mit Doppelgänger, geheimen Botschaften (Schlüssel, Schließfach, heikle Polaroids, USB -Stick), einer erotischen Obsession (Vorabendserien-Diva Anja Kruse) und einem Toten im Kleiderschrank. Doch der Erzähler fährt sich immer wieder selbst in die Parade, verliert sich in intimen Bekenntnissen, Aufzählungen, Abschweifungen, reflektiert über Kunst und über Hochstapler in der Kunst; und immer wenn er es wirklich zu bunt treibt, schaltet sich ein ziemlich unsympathischer Lektor ein, um ihm den Marsch zu blasen und klarzustellen, was gerade geht auf dem Buchmarkt: Sogleich beginnt der Erzähler folgsam einen brutalen Thriller, um nach ein paar Absätzen doch wieder in eine völlig andere Richtung zu preschen, denn dieses phantastische Buch tut vieles - es verwirrt, reizt zum Lachen und zum Nachdenken, blendet durch Virtuosität, unterhält aufs Köstlichste -, aber brav eine Geschichte erzählen, das tut es nicht.

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 als Witzezeichner, Maler, Musiker und Schriftsteller in Wien. 2014 erhielt er den Bachmann-Preis.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644000520
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum17.02.2017
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse940 Kbytes
Artikel-Nr.2137804
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

4.

Tex wollte mal einen Tag alleine sein, nur für sich die Stadt erkunden, und ich verstehe das. Ich hatte zwar zu tun an diesem Tag, wir waren gerade im Stress mit einem sehr großen Kunden, wir lebten praktisch von ihm, Ford. Die größten Kunden sind meist die konservativsten, sie können sich nichts wirklich Originelles leisten, sie zahlen viel dafür, möglichst unsichtbar zu sein, paradox, aber es ist eben so. Der Ford Sierra bekam serienmäßig eine doppelt obenliegende Nockenwelle eingebaut, und das sollte ich nun beschreiben. Aber ich konnte nicht, es ging nicht, ich wusste nicht mal, wie man doppelt oben liegt und was Nocken überhaupt sind. Ich musste mal raus, ich verließ das Büro und dachte, ich folge Tex ein bisschen auf Abstand, wie ein Detektiv, vielleicht inspiriert mich das, nicht unbedingt für die Nockenwellen, einfach irgendwie frei werden, indem ich mir von ihm die Stadt zeigen ließ, die ich schon so gut zu kennen glaubte, sozusagen mit stellvertretenden Augen das sehen, was ich schon lange nicht mehr sehe.

Rund um das Österreichische Kulturinstitut ist nicht die beste Gegend für eine kleine Verfolgung im Geheimen, man kann sich nicht in Menschenmengen verstecken, weil es keine gibt, es gibt keine Bänke, der einzige Park in der Nähe ist klein und abgeschlossen, Schlüssel haben nur die Anrainer. Er tut so, als sei es ein öffentlicher Raum, aber es ist nur eine Simulation, denn ein Park ist ja kein Park, wenn keiner drin ist. Ich lehnte entfernt am Zaun und wartete, dass Tex aus der Tür des Instituts tritt. Um nicht zu deutlich erkennen zu lassen, dass ich hier auf jemand wartete, stöberte ich ein bisschen in meinem kleinen Telefon. Bei Facebook sah ich eine dieser dummen automatisch generierten Aufgaben:


«Lieber Armand, Facebook möchte dich auf eine kleine Reise in die Vergangenheit schicken. Hier ist ein Foto, das du heute vor genau vier Jahren gepostet hast, erinnerst du dich? Schau dir an, was du in dieser Zeit noch so gemacht hast.»


Das Foto zeigt eine an irgendeiner Hauswand befestigte blaue Plakette, auf ihr stand:


Luke Howard

1772-1864

Namensgeber der Wolken

Lebte und starb hier


Ich konnte mich an die Aufnahme erinnern. Ich saß beim Fotografieren auf dem Oberdeck eines Busses, und das Schild hing an einem desolaten Gebäude, dessen Fenster mit weißen Platten zugenagelt waren. Ich konnte mich nicht daran erinnern, warum ich in dem Bus saß und wohin ich fuhr, aber an das Schild konnte ich mich erinnern, ganz besonders natürlich, weil ich es fotografiert hatte und weil ich so fasziniert war von Luke Howards Titel: Namensgeber der Wolken, ephemerer und lieblicher als etwas, was sonst so auf diesen Plaketten steht.

Weil Tex nicht aus dem Institut kam, suchte ich mit meinem Telefon die Adresse der Plakette. Bruce Grove Nr. 7 in Tottenham. Zufälligerweise war ich gestern in Tottenham gewesen. Konnte Facebook das wissen? Hatte es deshalb das Foto aus dem Haufen rausgesucht, und nicht wegen diesem von verblödeten Robotern konstruierten Vierjahreserinnerungsspielchen, hatte es mich beobachtet und den Moment gewählt, um mich mit schnöden Koinzidenzen zu zermürben? Ich hasse Koinzidenzen und will, dass sie irgendwann mal aufhören, einen zu belästigen und so zu tun, als wären sie etwas, wofür wir dankbar sein müssen. Kleine Lottogewinne der Erschöpften, das sind Koinzidenzen.

Ich googelte ein bisschen etwas über Luke Howard, den Namensgeber der Wolken. Britischer Chemiker und Amateur-Meteorologe. Zwischen 1818 und 1820 veröffentlichte er regelmäßig über das Klima von London. Das war die Zeit, in der er den Wolken ihre Namen gab, weil sie offenbar bis dahin keine hatten. Cumulus, Stratus, Cirrus, Cirrostratus, Cirrocumulus. Ein Gedicht aus klumpigen Zischlauten.

Plötzlich kam Tex auf mich zu. Ich erstarrte und war schon darauf gefasst, dass ich mir jetzt eine Geschichte würde ausdenken müssen. Er nahm aber keine Notiz von mir. Ich war in mein Handy vertieft, tat also beschäftigt, tauchte mit gesenktem Kopf in den Wolken ab, und er ging ganz knapp geradewegs an mir vorüber, seine Schulter war eine Schulter von meiner entfernt. Ich verstaute mein Telefon in der Tasche und begann ihm zu folgen, darauf bedacht, nicht zu flink und ihm nicht zu nahe zu sein, mein Herz schlug jetzt schneller, hoffentlich hörte er mich nicht.

Tex ging, ohne zu hetzen, inspizierte neugierig seine Umgebung, bewegte sich aber auch irgendwie zielgerichtet. Er sah an den Gebäudefassaden hoch, an denen er vorbeikam, aber nie zu lange, es war ein fließendes Observieren. Ich ging ein paar Meter hinter ihm, mein Tempo war sein Tempo, nach einiger Zeit fühlte ich mich weniger wie ein ihn verfolgender Schatten, sondern eher anonym wie eine Filmkamera. Ich war eine Kamerafahrt, wenn ich nach unten geschaut hätte, während da keine Schuhe gewesen, sondern Schienen.

Tex hatte ein neutrales, graues T-Shirt an. Ich wollte mehr über ihn erfahren und versuchte es über seinen Gang, seine Schultern, die Haut um den Hals, da konnte man ja lesen, wie so einer ist. Das T-Shirt schlotterte fahl um seine resignativen Schultern, die Frisur konnte sich nicht entscheiden, was sie sein sollte, nur die Hose war eine Hose, die sprach gar nicht.

An einer Kreuzung stoppte er und drückte auf den Ampelknopf, er wartete auf Grün, wenn ich jetzt weiterging, würde ich ihn einholen, wenn ich stehen bliebe, wäre das unlogisch und noch auffälliger, also tauchte ich wieder in meinem Telefon ab.

Luke Howard, der Namensgeber der Wolken, hat einen starken Einfluss auf Goethe gehabt, der dem britischen Chemiker ein Gedicht widmete. In dieser kleinen Ampelphase hatte ich das Gedicht schnell gefunden, und versuchte es gleich auswendig zu lernen.


Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn

Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn.

Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt,

Er faßt es an, er hält zuerst es fest;

Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,

Benennt es treffend! - Sei die Ehre dein! -

Wie Streife steigt, sich ballt, zerflattert, fällt,

Erinnre dankbar deiner sich die Welt.


Tex war verschwunden, ich hatte mich wohl zu lange mit dem Gedicht beschäftigt. Ich blickte von meinem Handy rüber zum Hyde Park, sah keine Spur von ihm, er war wohl im Park. Ich hatte ihn verloren, blöd, das wäre leicht vermeidbar gewesen. Ich ging durch das Tor des Parks, über den Sandstreifen für die sinnlosen Pferde, und suchte alles ab nach dem Mann mit dem grauen T-Shirt. Ich lief weiter Richtung Serpentine, vorbei an im Gras liegenden Familien, die sich in der englischen Sonne zu sonnen versuchten. Eine Gruppe spielte Frisbee, sie warfen ihre giftgrüne Scheibe zwischen den Sonnenden und deren Sonne. Ein kleiner Junge und zwei etwas ältere Mädchen standen beieinander, der Junge hielt einen langen Stock in der Hand, die Mädchen fragten, was er damit vorhabe, der Junge antwortete: «Vielleicht setzt sich ja ein reicher Vogel drauf.»

Ich war erleichtert, als ich Tex dann doch sah. Er schwamm im Wasser auf mich zu, kraulend; statt der normalen hatte er eine Schwimmbrille an und eine gelbe Badekappe aus Stoff auf dem Kopf. Wieder war ich überzeugt, dass er mich bemerkt haben musste, aber als er am Rand war, drehte er um und schwamm davon. Am Ufer lag ein Bein, da hatte wohl einer seine Prothese vergessen, oder jemand hatte sie einem Einbeinigen gestohlen, was ich in seiner Niederträchtigkeit plötzlich gut fand.

Um mich ein bisschen auszuruhen und um eine gute Beobachtungsposition auf den Schwimmer zu haben, setzte ich mich auf eine Bank. Etwas weiter entfernt von mir war eine Gruppe mit vier Leuten, zwei Paare augenscheinlich, sie waren aber noch in Hörweite, und ich lauschte ihrem Gespräch, während ich Tex bei seinen monoton geschaufelten Bahnen zusah.

Eine Frau hatte ihren Kopf auf dem Schoß eines Mannes abgelegt, als sei er ihr zu schwer geworden. Sie sei, wie sie erzählte, im Begriff zu kündigen. Sie erzählte, dass sie ihren Job satthätte, morgen würde sie ins Büro des Chefs gehen und einfach sagen, sie könne das nicht mehr ernst nehmen hier, diese Arbeit könne man nur ironisch machen, und es sei ihr egal, was er darauf sagen werde. Die andere Frau meinte, das sei eine richtige Entscheidung, und reichte ihr ein Würstchen im Schlafrock.

Über mir ballten sich ein paar Wolken, die einfach nur aussahen und vielleicht uninterpretiert aussehen wollten wie normale Wolken. Tex schwamm weiterhin seine Bahnen, mal atmete er links, mal rechts, mal nach dem zweiten, mal nach dem vierten Schlag, eine Ordnung war nicht zu erkennen. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, er war leicht zu orten mit seiner gelben Badekappe, ein leuchtender Punkt, erst wurde er kleiner, dann wieder größer, so als ob jemand in Zeitlupe Tennis auf der Oberfläche des Wassers spielen würde.

Die Frau neben mir sah ihren Mann an, vermutlich war es ihr Freund, und sagte, sie sei müde von London, sie seien schon viel zu lange hier. Der zweite Mann gab ihr recht, auch er wolle weg. Alles sei zu teuer, es sei schwer, sich über Wasser zu halten. Die ganzen schönen Galerien, sagte die Frau halb verzweifelt, und sie habe nicht mal Zeit, sie zu besuchen. Aber jetzt, beruhigte sie der Mann, wo der Sommer nun mal angekommen sei, werde es doch alles etwas leichter, und man könne sich häufiger in den Parks treffen.

Ich versuchte mich zu erinnern, was ich eigentlich vor vier Jahren, im Sommer 2013, so gemacht hatte und wohin ich wollte, als ich das Foto der Plakette vom Bus aus machte. Ich konnte mich zwar an das vernagelte Gebäude erinnern, an sonst aber nichts, so als sei auch alles andere...
mehr