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Das eiserne Tor

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Diogeneserschienen am01.12.20161. Auflage
Ein unscheinbares Päckchen, von einem Unbekannten abgegeben, schreckt Lucille, die glückliche zweite Frau des Arztes Andrew Morrow, aus ihrer zufriedenen Existenz. Was hat das Päckchen mit dem blutigen Mord an Andrews erster Frau zu tun? Mit unerbittlicher Akribie zerpflückt Margaret Millar familiäre Harmonie und Nächstenliebe.

Margaret Millar, geboren 1915 in Kitchener, Ontario, studierte klassische Philologie, Archäologie und Psychologie, brachte es als Pianistin zum Konzertdiplom, arbeitete in Hollywood und erhielt so die gediegene Ausbildung zum Verfassen von Psycho-Thrillern. Seit 1938 war sie mit Kenneth Millar, besser bekannt als Ross Macdonald, verheiratet. Die First Lady of Crime, gekrönt mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis und gefeiert als witzigste Analytikerin des American Way of Life and Death, starb 1994 in Santa Barbara.
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Produkt

KlappentextEin unscheinbares Päckchen, von einem Unbekannten abgegeben, schreckt Lucille, die glückliche zweite Frau des Arztes Andrew Morrow, aus ihrer zufriedenen Existenz. Was hat das Päckchen mit dem blutigen Mord an Andrews erster Frau zu tun? Mit unerbittlicher Akribie zerpflückt Margaret Millar familiäre Harmonie und Nächstenliebe.

Margaret Millar, geboren 1915 in Kitchener, Ontario, studierte klassische Philologie, Archäologie und Psychologie, brachte es als Pianistin zum Konzertdiplom, arbeitete in Hollywood und erhielt so die gediegene Ausbildung zum Verfassen von Psycho-Thrillern. Seit 1938 war sie mit Kenneth Millar, besser bekannt als Ross Macdonald, verheiratet. Die First Lady of Crime, gekrönt mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis und gefeiert als witzigste Analytikerin des American Way of Life and Death, starb 1994 in Santa Barbara.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783257607437
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Verlag
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum01.12.2016
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse761 Kbytes
Artikel-Nr.2146972
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
{7}I Die Jagd

{9}1

Der Traum begann ganz still. Sie und Mildred waren zusammen in einem Zimmer, Mildred hatte sich in einen Sessel gekuschelt und schrieb.

»Was schreibst du da, Mildred?« sagte Lucille. »Du schreibst doch, was schreibst du?«

Langsam, verträumt lächelte Mildred, »nichts, ich bin schon fertig, ich bin schon ganz fertig damit«, und sie erhob sich und spazierte durch das Fenster hinaus in den Schnee.

»Du darfst nicht einfach so im Kleid hinauslaufen, Mildred, du wirst dich erkälten.«

»Nein ... Ich gehe fort ... ich bin ganz fertig damit ...«

»Nein, es ist dunkel, es schneit.«

Aber sie setzte ihren Weg fort, unbeirrt, ohne eine Spur zu hinterlassen, ohne einen Schatten zu werfen.

»Mildred, komm zurück! Dein Hinterkopf ist offen.«

»Nein ...«

»Du blutest. Du wirst den Park beschmutzen.«

»Ich gehe fort«, kam Mildreds Stimme sanft zurück. »Lebe wohl, Liebste. Lebe wohl, Lucille.«

Sie ging weiter, zwischen den Bäumen hindurch und über die Hügel hinweg. Mit jedem Schritt wurde sie kleiner und kleiner und zugleich deutlicher, als besäßen weder Raum noch Zeit die Macht, ihre Züge zu verwischen. {10}Hin und wieder drehte sie sich um, und immer lächelte sie wie eine kleine Puppe.

»Kleine Puppe!« schrie Lucille. »Kleine Puppe ...«

»Fort«, kam die Antwort, kaum mehr als ein Hauch und dennoch so klar. »Lebe wohl - lebe wohl, Liebste ...«

In alle Ewigkeit ging sie und blutete und lächelte und wurde deutlicher und deutlicher.

Lucille wachte auf, dem Ersticken nahe, und würgte an dem Grauen vor dem kleinen Ding, das - nicht größer als ein Finger, ein Zündholz, eine Nadel - ihr durch den Kopf schritt.

Sie sprang aus dem Bett und riß die Vorhänge von den Fenstern zurück. Sie schaute hinaus - ja, da war der Park, da waren die Bäume, die Hügel, der spurenlose Schnee. Aber Mildred war seit sechzehn Jahren tot.

 

Irgendwo in der Ferne läutete eine Kirchenglocke den Sonntagsklang einer Stadt ein. Ihr wurde plötzlich bewußt, wie grotesk es wäre, wenn Andrew hereinkäme und sie gerade so, beim Fenster kauernd, den Schnee nach seiner toten Frau absuchte.

Sie stand auf, wandte sich um und sah sich unverhofft im Spiegel. Sie hatte vergessen, daß der Spiegel da stand, und ganz kurz - ehe sie Zeit fand, eine gefaßte Miene aufzusetzen - schien sie eine Fremde, eine Dame im Spiegel, die nicht mehr jung war, einen blauen Morgenrock trug und ihr volles, rotgoldenes Haar zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte, die zu beiden Seiten ihres Kopfes auf die Schultern herabfielen. Sie hielt inne, um die Fremde eingehender zu betrachten, lächelte schwach, weil es nur ein Spiel war, zugleich ziemlich unsicher, {11}weil, wie Andrew zu sagen pflegte, ein Spiel nie bloß ein Spiel war, irgendein Motiv mußte dahinterstecken.

Vielleicht fühlte sie sich selbst jetzt nach fünfzehn Jahren in diesem Haus noch immer wie eine Fremde, die den Mann einer anderen besuchte, die Kinder einer anderen.

»Ach, Unsinn«, sagte sie laut. Sie trat an den Spiegel heran, die Fremde rührte sich, wuchs und wurde mit ihr selbst identisch. »Kompletter Unsinn!«

Sie sprach in dem Ton, den sie Andrew und den Kindern gegenüber anzuschlagen pflegte, halb ernst, halb spielerisch, aber voll tiefen Verständnisses. Die Trotz-Lächeln-mein-voller-Ernst-Stimme. Ihr Klang war so vertraut, daß automatisch die dazugehörige Miene von ihrem Gesicht Besitz ergriff. Ihre Augen verloren den angestrengten, ängstlichen Blick und wurden wohlwollend und intelligent, ihr voller, gespannter Mund löste sich und eine Augenbraue hob sich ein wenig.

Na also. So bin ich eigentlich. Ich, Lucille Morrow.

Mildred war nicht mehr wichtig, obschon im Wohnzimmer immer noch ein Porträt von ihr hing und sie sich zuweilen in Lucilles Träume einschlich. Eine dicke Puppe aus fetter Seife, dachte Lucille. Etwas Zähes und Teigiges, das einem an den Händen klebenbleibt ...

Sie nahm eine Bürste und begann, ihr Haar kräftig durchzubürsten. Mit jedem Zug verblaßte der Traum, verschwamm die Puppe und schmolz.

Die augenblickliche Unsicherheit war überstanden, und was blieb, war ein bewußteres Gefühl des Besitzens. Dies war ihre Hand, ihre Bürste, ihr Haus, ihr Mann, der im Nebenzimmer ein Liedchen pfiff. Nur die Kinder würden immer Mildreds Kinder bleiben. Andrew zuliebe hatte Lucille sich bemüht, sie gern zu haben und zu {12}erreichen, daß die Kinder sie mochten. Trotzdem blieben sie Mildreds Kinder - sie wurde mit ihnen nie so recht warm und war schon froh, wenn sie es zu einer Art Waffenstillstand gebracht hatte.

Aber sie waren ja keine Kinder mehr. Polly wollte diese Woche heiraten. Eines Tages würde auch Martin heiraten, und dann würden sie und Andrew allein im Haus zurückbleiben. Mit Edith natürlich, aber die zählte nicht.

Ihre Hand stockte. Sie hatte das Gefühl, jenseits des Spiegels ihre Zukunft liegen zu sehen - ein weit ausgerollter roter Samtteppich, über dem sich ein Baldachin wölbte.

Sie kleidete sich rasch an und flocht aus ihrem Haar eine Krone um ihren Kopf. Wie eine Königin trat sie hinaus in die Diele, stolz, aber vorsichtig, als müßte sie erst den roten Samtteppich prüfen und die Höhe des Baldachins messen. Sie schritt die Treppe hinunter und genoß das Rascheln ihres Taftmorgenrocks, das ihr mit der geräuschvollen Lautlosigkeit eines ergebenen Kammerdieners folgte.

Oben schlug eine Tür zu, und durch das Treppenhaus schallte Andrews Stimme: »Lucille! Warte mal eben, Lucille!«

Sie blieb auf dem unteren Treppenabsatz stehen.

»Was ist, Andrew?«

»Wo ist mein Schal hingekommen?«

Lucille schluckte ein impulsives »Was für ein Schal« herunter. Sie sagte: »Deine sämtlichen Schals liegen in deiner Kommode.«

»Alle außer dem, den ich tragen will.«

»Natürlich!«

»Was hast du gesagt?«

{13}Lucille schrie beinahe. »Ich sagte, natürlich, der, den du tragen willst, ist der, der nicht da ist.«

»Es ist genau umgekehrt«, rief Andrew. »Der, den ich tragen will, ist der ...«

»Schon gut«, sagte Lucille lächelnd. »Wie sieht er aus?«

»Blau. Dunkelblau mit kleinen grauen Dingern drauf.« Er erschien oben an der Treppe und gestikulierte. »Du weißt schon, so kleine graue Dinger.«

Er war ein großer, schlanker grauhaariger Mann in den Endvierzigern und hatte dieselben flinken, lebhaften Bewegungen, die auch seine Schwester Edith und seinen Sohn Martin auszeichneten. Sein Gesicht war schmal, beinahe zart, aber er hatte große, warme, braune Augen, die seinem Gesicht etwas Wehrloses gaben und ihm gelegentlich Schwierigkeiten mit seinen weiblichen Patienten bereiteten. Wie so viele wirklich gutmütige Männer übertrieb auch er, wenn er zornig wirken wollte. Er warf seiner Frau einen stockfinsteren Blick hinunter.

»Den hat mir voriges Jahr irgend jemand zu Weihnachten geschenkt«, sagte er.

»Nämlich ich«, konterte Lucille heiter. »Und er ist nicht blau, sondern schwarz. Hast du unterm Bett nachgesehen?«

»Ja.«

»Was soll das, Andrew? Warum mußt du immer erst unter die Betten schauen, wenn du irgend etwas suchst?«

»Das ist doch logisch. All der Platz unter den Betten. Lucille, komm doch mal eben rauf und ...«

»Nein«, sagte Lucille, »wenn ich raufkomme und ihn finde, wirst du nur noch wütender.«

»Ich verspreche, daß ich es nicht werde.«

»Nein.« Sie drehte sich gelassen wieder um, schritt {14}weiter und warf ihm über die Schulter noch zu: »Versuch´s im Zedernschrank im Flur.«

Ohne Andrews laute Mißfallenskundgebungen weiter zu beachten, ging sie ins Speisezimmer.

Edith und Polly saßen schon beim Frühstück. Mit den raschen verächtlichen Bewegungen eines Menschen, der jede Art von Nahrungsaufnahme als ein notwendiges Übel betrachtet, das man so schnell wie möglich hinter sich bringen muß, bestrich Edith eben einen Toast mit Butter. Polly hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen, rauchte und schaute gedankenverloren aus dem Fenster.

»Guten Morgen, Edith«, sagte Lucille. Sie beugte sich über Ediths Stuhl, und die Wangen der beiden Frauen berührten sich kurz. Das war ein langjähriger Brauch. Sie mochten einander auf eine trockene, zweckmäßige Art, denn sie hatten dasselbe Alter und interessierten sich für dieselbe Sache, Andrew.

»Guten Morgen, Polly.«

»Morgen«, sagte Polly, ohne ihren Blick vom Fenster zu wenden.

»Guten Morgen«, sagte Edith. »Gut geschlafen?«

»Bestens.«

»Kann ich von mir nicht behaupten.« Ihre Stimme war so hoch und schrill, daß man ständig befürchten mußte, sie werde im nächsten Augenblick in schiere Hysterie überschlagen oder wie eine Violinensaite mit einem Todeslaut zerspringen. Lucille hatte den Eindruck, als klettere die Stimme von Jahr zu Jahr höher, als werde die Saite immer straffer gespannt, so daß am Ende selbst die alltäglichste Bemerkung mit einem dünnen, gefährlichen Obligato dargebracht wurde.

»Was schreit ihr denn da herum?« sagte Edith. »Wenn {15}du frischen Toast willst, brauchst du nur zu klingeln. Annie hat noch welchen in der Küche. Manchmal habe ich das Gefühl, als brülle Andrew nur, weil es ihm Spaß macht.«

Lucille setzte sich, lächelte und entfaltete ihre Serviette. »Mag sein.«

»In der Klinik trieft er vor stillem Charme. Kaum ist er zu Hause, fängt er an zu jaulen, genau, richtig jaulen tut...

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Margaret Millar, geboren 1915 in Kitchener, Ontario, studierte klassische Philologie, Archäologie und Psychologie, brachte es als Pianistin zum Konzertdiplom, arbeitete in Hollywood und erhielt so die gediegene Ausbildung zum Verfassen von Psycho-Thrillern. Seit 1938 war sie mit Kenneth Millar, besser bekannt als Ross Macdonald, verheiratet. Die First Lady of Crime, gekrönt mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis und gefeiert als witzigste Analytikerin des American Way of Life and Death, starb 1994 in Santa Barbara.