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Schere, Stein, Papier

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
448 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am09.05.2017
Mit 'beklemmender Eindringlichkeit' (Süddeutsche Zeitung) erzählt die preisgekrönte dänische Autorin Naja Marie Aidt, wie die Vergangenheit einen Menschen unerwartet einholt und eine einzige falsche Entscheidung eine sorgfältig aufgebaute Existenz zum Einsturz bringt. Ein faszinierender Roman über die Bruchstellen des Lebens, das Gewicht der Vergangenheit und die Verletzlichkeit der menschlichen Existenz. Von einer der aufregendsten literarischen Stimmen unserer Zeit.

Die dänische Schriftstellerin und Dichterin Naja Marie Aidt, Jahrgang 1963, zählt zu den wichtigsten Stimmen Skandinaviens, ausgezeichnet u.a. mit dem renommierten Nordischen Literaturpreis und dem Großen Preis der Dänischen Akademie. Aidt wurde auf Grönland geboren und lebt heute in Brooklyn. Sie ist Mutter von vier Söhnen. »Carls Buch« gilt als eines der 10 besten Memoirs des letzten Jahrzehnts (Lithub). Bei Luchterhand ist zuletzt von Naja Marie Aidt der Roman »Schere, Stein, Papier« erschienen.
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Produkt

KlappentextMit 'beklemmender Eindringlichkeit' (Süddeutsche Zeitung) erzählt die preisgekrönte dänische Autorin Naja Marie Aidt, wie die Vergangenheit einen Menschen unerwartet einholt und eine einzige falsche Entscheidung eine sorgfältig aufgebaute Existenz zum Einsturz bringt. Ein faszinierender Roman über die Bruchstellen des Lebens, das Gewicht der Vergangenheit und die Verletzlichkeit der menschlichen Existenz. Von einer der aufregendsten literarischen Stimmen unserer Zeit.

Die dänische Schriftstellerin und Dichterin Naja Marie Aidt, Jahrgang 1963, zählt zu den wichtigsten Stimmen Skandinaviens, ausgezeichnet u.a. mit dem renommierten Nordischen Literaturpreis und dem Großen Preis der Dänischen Akademie. Aidt wurde auf Grönland geboren und lebt heute in Brooklyn. Sie ist Mutter von vier Söhnen. »Carls Buch« gilt als eines der 10 besten Memoirs des letzten Jahrzehnts (Lithub). Bei Luchterhand ist zuletzt von Naja Marie Aidt der Roman »Schere, Stein, Papier« erschienen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641180362
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum09.05.2017
Seiten448 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1683 Kbytes
Artikel-Nr.2151179
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Es ist, als wäre er ein Zombie. Als Kinder haben Jenny und er Zombiefilme im Fernsehen gesehen, starr vor Schreck, Jenny oft weinend und hysterisch, aber nicht einmal das brachte sie dazu auszuschalten, nicht einmal das Weinen, das Schreien, sie konnten nicht, sie mussten die Filme bis zum Schluss sehen, ihre Augen klebten am Bildschirm. Seitdem hat er einen regelmäßig wiederkehrenden Albtraum, er wird von einer Schar grauer Zombies verfolgt, ist vor ihnen auf der Flucht, er weiß, dass sie da sind und ihm weiter auf den Fersen bleiben, ganz gleich, wie viele Türen er im Traum verschließt, wie sehr er sich verbarrikadiert - sie finden ihn trotzdem, diese beinahe gesichtslosen lebenden Toten mit ihren Zeitlupenbewegungen und ihrem unstillbaren Blutdurst, diese hässliche Phantasie von Unsterblichkeit, aber jetzt ist er der Zombie, ein lebender Toter, so fühlt es sich an, wenn er nicht aufwachen kann, wenn er nicht sprechen, essen, lesen kann. Der April geht dahin. Thomas ist wie in eine riesige Daunendecke eingehüllt. Er ist stumpf und träge, sein Körper vor Erschöpfung ganz steif, sein Schlafbedürfnis nicht mehr normal. Das findet jedenfalls Patricia. Am Tag nach dem Begräbnis schlief er bis spät in den Tag hinein, und dabei ist es geblieben, jetzt ist er derjenige, der im Laden unter dem Schreibtisch Mittagsschlaf hält, während Maloney Annie und Peter herumkommandiert. Er ist derjenige, der mit schwerem Kopf in der Bahn nach Hause einnickt; er, der sich frierend aufs Sofa verkriecht und während der Nachrichten einschläft, bloß um dann ins Bett zu wanken und, sobald sein Kopf auf dem Kissen landet, in tiefe Bewusstlosigkeit zu sinken, schwarz und traumlos. »Bist du krank?«, fragt Patricia besorgt. »Bist du depressiv?« »Hat es etwas mit mir zu tun?« Aber Thomas schüttelt nur müde den Kopf. Es ist, als halte er Winterschlaf. Ich bin ein Bär. Ich bin ein Käfer. Tage und Nächte verschwimmen zu einem farblosen Morast, er geht roboterhaft durch den Laden und bewegt Dinge von einem Ort zum anderen, er hört Maloneys Stimme, er hört Gespräche über Peters Pilz (der jetzt anscheinend langsam austrocknet, nach einer Behandlung mit pilzabtötender Salbe), er grüßt Kunden und Lieferanten, Fahrradkuriere und motorisierte Kuriere, den Postboten und Eva, die mit krummem Rücken den Staubsauger über die blanken Holzdielen zieht (sie hat sich bereit erklärt, den Großputz zu übernehmen, wenn sie dafür auch ihre Nichte anstellen, es war eine wahre Kraftanstrengung für ihn, das zu organisieren). Er bestellt Waren und sitzt schweigend bei den Terminen mit dem Steuerberater am Tisch, während Maloney das Wort führt, er erklärt sich mit fast allem einverstanden, vergisst das meiste gleich wieder, sein Hirn kann nichts festhalten, er schafft es nicht einmal, Einspruch zu erheben, als Maloney summend die kleinen Kerzenhalter aus farbigem Glas ins Schaufenster stellt. Er geht zum Arzt, Patricia zwingt ihn dazu. »Ich fühle mich ein bisschen wie ein Zombie«, sagt er und blickt zu Boden. Der Arzt lacht und misst seinen Blutdruck, nimmt ihm Blut ab, wiegt ihn, sieht ihm tief in den Hals, führt ein Instrument in seinen Gehörgang ein, lauscht seinem Herzschlag. Ein leicht erhöhter Blutdruck, sonst sieht alles normal aus. Posttraumatisches Stresssyndrom nach dem Tod des Vaters, folgert der Arzt, obschon Thomas protestiert. Ihm wird zu Regelmäßigkeit im Tagesablauf, Bewegung und leicht verdaulichen häufigen Mahlzeiten geraten. »Kommen Sie in ein paar Wochen wieder. Wenn es Ihnen dann nicht besser geht, können wir über eine andere Behandlung sprechen.« Patricia sieht ihn verwundert an. »Hat dich das wirklich so mitgenommen? Ich dachte, es wäre eher eine Erleichterung gewesen.« Er zuckt mit den Schultern. Die Gedanken entgleiten ihm, bevor er sie noch denken kann. Als wären sie aus einem schnell zerfallenden Material, etwas, das man gerade so erahnen kann, bevor es auch schon zu Staub oder Luft wird, explodiert und als Millionen von mikroskopisch kleinen Molekülen im Universum verschwindet. Er liegt im Bett und denkt an das Geld im Keller. Ich sollte etwas kaufen, denkt er schwach, es in Umlauf bringen. Loswerden. Aber er kann den Gedanken nicht zu Ende bringen, und erst recht bringt er es nicht über sich, sich hinunter in den Keller zu bewegen. Es erscheint ihm so absurd, dass das Geld in seinem alten Mikrowellenofen liegt, so absurd, dass er es beinahe nicht glaubt. Und dann, an einem strahlend klaren Morgen Ende Mai, als die Kirschbäume schon längst geblüht haben und Thomas gerade damit beschäftigt ist, Wechselgeld in die Kasse zu sortieren, taucht Alice unerwartet im Laden auf. Die Haare auf ihrem Kopf sind ein wenig gewachsen. Sie hat einen grünen Stein in der Nase, der jedes Mal, wenn das Sonnenlicht darauf fällt, aufleuchtet. Thomas lädt sie auf einen Kaffee in das Café auf der anderen Straßenseite ein, Alice möchte lieber Tee und Omelett und Würstchen und Pommes frites. Sie sitzen einander gegenüber, sie lächelt strahlend und sieht hellwach und zart aus. Schwarzer Nagellack, die schlanken Hände, der hellbraune Hals.

»Was verschafft mir die Ehre?«, fragt Thomas und trinkt schnell seinen dreifachen Espresso, um ein wenig klar im Kopf zu werden. »Ich bin ausgezogen«, antwortet sie lächelnd. »Luke hat mir ein Zimmer besorgt, bei einem Freund von ihm. Und jetzt brauche ich wirklich dringend einen Job.«

»Und was sagt deine Mutter dazu?«

»Was soll sie schon sagen? Ich bin achtzehn Jahre alt. Ich bin erwachsen.«

»Ja, bist du das?«

»Ja!« Alice sieht ihn direkt an. »Sie hat natürlich geheult, sie hat ein Glas Essiggurken nach mir geworfen und geschrien und sich aufgeregt, und dann hat sie meine ganzen Klamotten zusammengepackt und alles raus ins Treppenhaus gestellt. Sie hat auch das Schloss ausgetauscht, aber am Tag darauf hat sie angerufen und mich angebettelt, ich soll zurückkommen. Jetzt scheint sie es langsam zu akzeptieren. Du kennst sie ja. Aber sie will mir kein Geld geben, und ich bin ernsthaft pleite. Ich muss in vierzehn Tagen meine Miete bezahlen, ich habe noch einen Aufschub bekommen.«

Das Omelett kommt, und Alice verteilt Ketchup darauf und stürzt sich auf ihr Essen. Sie stopft Wurst zu der Eimasse, die sie bereits kaut, und leckt sich das Fett von den Fingern, murmelt dabei: »Entschuldige, aber ich habe seit gestern Nachmittag nichts mehr gegessen.«

»Bist du noch mit Ernesto zusammen?«

Sie nickt.

»Und wo wohnt er dann?«

»Bei einem Freund.«

»Wie läuft es mit seiner Band?«

»Gut. Sie haben heute Abend ein Konzert. Magst du mitkommen?«

»Vielleicht.«

»Kannst du mir nicht ein bisschen Geld leihen? Ich verspreche auch, dass ich es zurückzahle, wenn ich einen Job habe.«

»Suchst du denn wirklich einen Job?«

»Natürlich tue ich das!«

Thomas verspricht, es sich mit dem Konzert zu überlegen und ihr noch Bescheid zu geben.

»Vielleicht kommt Luke auch«, sagt Alice. »Wir sind inzwischen richtig befreundet. Er ist supercool. Ernesto und ich gehen manchmal ins Café Rose, und er bringt Ernesto bei, wie man beim Würfeln gewinnt.«

»Wie kann man denn gezielt beim Würfeln gewinnen? Die Würfel fallen doch zufällig, hat er eine besondere Schütteltechnik oder was?«

Alice lächelt. »Das weiß ich nicht. Aber es ist immer ziemlich lustig da. Er erzählt Geschichten von Opa und gibt Drinks aus.«

Es ist Thomas unangenehm, dass der Vater als »Opa« bezeichnet wird. Er atmet tief durch die Nase ein und lehnt sich zurück, wippt auf den hinteren Beinen des Stuhls.

»Was erzählt er denn so?«

»Alles Mögliche.«

Der Stuhl landet hart auf allen vieren. »Hör mir mal gut zu. Dein Großvater war kriminell und kein netter Mensch. Du solltest dir nicht zu viel von Lucs glorifizierendem Quatsch anhören. Die Hälfte davon ist mit Sicherheit gelogen, und das mit dem Angeln ist garantiert gelogen.« Alice sieht ihn herausfordernd an.

»Ist es nicht hundert Jahre her, dass du ihn zuletzt gesehen hast?«

»Hat er nicht im Knast gesessen, weil er ein verdammter Dieb war?«

»Diebe müssen doch nicht immer auch gleich böse sein. Vielleicht hat er sich gebessert. Und Diebe können doch wohl auch angeln, oder?«

»Er war ein infames Schwein.«

»Aber er hat Gedichte gelesen.«

»Was sagst du da?«

»Er hat Gedichte gelesen. Poesie. Das hat Luke erzählt.«

Thomas schüttelt energisch den Kopf. »Jetzt muss er aber mal einen Punkt machen!«

Alice hebt mit Zeigefinger und Daumen ein Pommes frites hoch und lässt es unmanierlich langsam in ihrem Mund verschwinden. »Ich mag den Gedanken. Er hat Shakespeares Sonette geliebt. Er konnte viele von ihnen auswendig. Er hat Whitman gelesen. Hast du Whitman gelesen?«

»Natürlich habe ich Whitman gelesen! Und du?«

Alice lacht. »Nein!«

»Er hat auch Borges gelesen. Majakovskij und Celan. Das sagt Luke. Das sind so schöne Namen, finde ich. Celan ...«

»Celan?? Jetzt reicht es wirklich, mein Vater hat niemals Celan gelesen.«

»Rilke, Mallarmé ... Gott, ja, er hat sich wohl besonders für diesen Rilke begeistern können, hat Luke gesagt.«

»Alice, das ist Irrsinn, all das, du ...«

»Wie spät ist es?«

»Das weiß ich nicht, aber er hat auch nicht Mallarmé gelesen ...«

»Hast du keine Uhr?«

Er schiebt widerwillig den Jackenärmel nach oben und blickt auf seine Uhr. Es ist zehn.

»Scheiße, ich muss gehen, ich muss zu einem Bewerbungsgespräch.«

»Wo?«

Sie...

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Die dänische Schriftstellerin und Dichterin Naja Marie Aidt, Jahrgang 1963, zählt zu den wichtigsten Stimmen Skandinaviens, ausgezeichnet u.a. mit dem renommierten Nordischen Literaturpreis und dem Großen Preis der Dänischen Akademie. Aidt wurde auf Grönland geboren und lebt heute in Brooklyn. Sie ist Mutter von vier Söhnen. »Carls Buch« gilt als eines der 10 besten Memoirs des letzten Jahrzehnts (Lithub). Bei Luchterhand ist zuletzt von Naja Marie Aidt der Roman »Schere, Stein, Papier« erschienen.