Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Klassenbuch

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
350 Seiten
Deutsch
DuMont Buchverlag GmbHerschienen am21.03.20171. Auflage
Sie sind erwachsen und sind es nicht: Sie sind in jeder Hinsicht »dazwischen«, zwischen Schule und wirklicher Welt, zwischen Gegenwart und Zukunft, Vereinzelung und der unfreiwilligen Gemeinschaft einer Klasse. John von Düffel folgt neun ganz unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern an entscheidenden Punkten ihrer Entwicklung. Es sind Hochbegabte und Schwänzer, Suizidgefährdete und Magersüchtige, Computernerds, Selbstdarsteller und Unsichtbare, deren Realität mit der digitalen Welt verschwimmt. Was als Kranz isolierter Perspektiven beginnt, verwandelt sich immer stärker zu einem fein verästelten Gesamtgebilde, in dem alles auf überraschende und erschütternde Weise interagiert. Die vielen Möglichkeiten, die anfangs offenzustehen scheinen, verdichten sich dabei allmählich zu einem gemeinsamen Schicksal. >KlassenbuchVom WasserHouwelandtWassererzählungenKlassenbuchDer brennende SeeWasser und andere WeltenDie Wütenden und die Schuldigen< (2021) und zuletztmehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextSie sind erwachsen und sind es nicht: Sie sind in jeder Hinsicht »dazwischen«, zwischen Schule und wirklicher Welt, zwischen Gegenwart und Zukunft, Vereinzelung und der unfreiwilligen Gemeinschaft einer Klasse. John von Düffel folgt neun ganz unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern an entscheidenden Punkten ihrer Entwicklung. Es sind Hochbegabte und Schwänzer, Suizidgefährdete und Magersüchtige, Computernerds, Selbstdarsteller und Unsichtbare, deren Realität mit der digitalen Welt verschwimmt. Was als Kranz isolierter Perspektiven beginnt, verwandelt sich immer stärker zu einem fein verästelten Gesamtgebilde, in dem alles auf überraschende und erschütternde Weise interagiert. Die vielen Möglichkeiten, die anfangs offenzustehen scheinen, verdichten sich dabei allmählich zu einem gemeinsamen Schicksal. >KlassenbuchVom WasserHouwelandtWassererzählungenKlassenbuchDer brennende SeeWasser und andere WeltenDie Wütenden und die Schuldigen< (2021) und zuletzt
Details
Weitere ISBN/GTIN9783832189440
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum21.03.2017
Auflage1. Auflage
Seiten350 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2156066
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Ahlsen, Erik

Busensuche negativ. Über der H&M-Bikini-Frau an der Bushaltestelle klebt Autowerbung - ein Kombi + Familie, vierköpfig. Die Bedienung vom Backshop mit dem tiefen Ausschnitt ist plötzlich ein Mann mit Vollbart (der Bäcker, schätzungsweise). Und sexy Leyla fehlt »wegen Frauenleiden«, meint ihre kleine Schwester, das Gerippe, grinst hämisch und schiebt sich beide Fäuste untern Pulli.

Schön wär s.

Im Schulbus treffe ich Henk, der mir den Platz neben sich freihält und ein In-Ear abgibt mit dem Neuesten von den Spunks, so weit die gute Nachricht. Nicht so gut: Sein Vater vermisst den Benzinkanister, den wir gestern abgefackelt haben. Super Lagerfeuer, aber meine Unterarme sind enthaart bis zu den Ellbogen. Die Stöckelschuhe meiner Mutter, in denen Henk ums Feuer getanzt ist, sind auch hin. Absatz abgebrochen, sagt er. Ich glaube ihm kein Wort und zucke mit den Achseln. Waren sowieso schon alt + stanken. Mamas Fußschweiß, unverwechselbar, nicht muffig-käsig wie bei anderen Leuten, sondern scharf wie Pferdepisse. Kommt angeblich von den Billigstrümpfen, Perlon oder so, das ätzt. Henk steht drauf.

Er ist total verrückt nach Frauenfußgeruch. Wenn er eine Weile herumgestöckelt ist, kickt er die Schuhe weg und riecht an seinen Mauken, die nach den Mauken meiner Mutter riechen. Voll süchtig, der Mann, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es ihm speziell die Stöckelschuhe angetan haben oder der Geruch von Pferdepisse oder meine Mutter.

Soll gesund sein, meint Henk, gesünder jedenfalls als Klebstoff und Benzin und was er sonst noch schnüffelt, Schweiß ist »bio«, sagt er (haha), und dass er meiner Mutter dankbar sein muss, weil sie ihm geholfen hat, von der Chemie loszukommen, von der man Löcher im Gehirn kriegt. Ich glaube ihm wirklich kein Wort. Ich glaube, er ist in sie verliebt. Henk ist süchtig nach meiner Mutter. Soll er ruhig. Ich misch mich da nicht ein. Aber ich kapier s nicht. Meine Mutter hat keinen Busen, wirklich null, seit ihrer letzten Diät. Früher hatte sie angeblich mal einen, und ein bisschen sieht man es auch auf den Babyfotos, als ich ganz klein war und mein Vater noch da, hinter der Kamera. Doch sogar mein Mini-Kopf ist größer als ihre Hubbel, wenn sie mich im Arm hält, und mein Windelhintern praller.

Ich war damals schon auf Busensuche.

Die Bilder sind trotzdem irgendwie scharf, findet Henk. Er hat sie abfotografiert mit seinem Handy. Was Verliebte eben so tun. Doch das verstehe ich ein bisschen. Mama lächelt darauf so süß, als gäbe es die Kamera gar nicht, sondern nur sie + Kind. Als wäre die Welt schwarz-weiß und würde ein, zwei Meter vor der Linse enden. Damals hätte ich mich auch in sie verlieben können. Blöd ist bloß, dass ich jetzt ständig darauf achte, wie sie riecht, und mich frage, wie Henk das wohl findet.

Er selbst riecht nach Weichspüler, wie Henks ganze Familie. Seine Mutter benutzt literweise diesen Billigweichspüler von Lidl. Bei jeder Gelegenheit schickt sie Henk los, Nachschub kaufen. Das Beste wäre, sie würde sich eine Pipeline legen lassen, meint er. Und natürlich frage ich mich an Tagen wie heute, ob ich lieber in einer Familie leben würde, in der immer alle nach Lidl-Weichspüler riechen, als bei einer Mutter ohne Brüste mit Schweißfüßen und Kleidern, deren Geruch ständig wechselt, je nach Wochentag und Laune. Und Herrenbesuch.

Den Geruch mag ich am wenigsten.

Eigentlich erstaunlich, dass Henk bei den Weichspüler-Wolken um sich herum überhaupt noch irgendetwas riechen kann. Aber vermutlich sind Benzindämpfe und die Pferdepissefüße meiner Mutter das Einzige, was noch zu ihm durchdringt. Er braucht echt starkes Zeug. In der großen Pause ist er rüber in die Mädchenumkleide der Turnhalle. Nicht wegen der Mädchen, sondern wegen der Turnbeutel. Riechen, ob sie riechen. Er ist total verrückt.

Ich setze mich auf die Schulmauer und spucke die Umrisse meiner Schuhe auf die Gehwegplatten. Dann ist Deutsch bei Frau Höppner, von der alle munkeln, sie hätte was machen lassen während der Sommerferien, Brustvergrößerung oder Nasenverkleinerung. Aber ich sehe keinen Unterschied, außer, dass sie nicht mehr so dicke Augen hat, was man mit Schminke hinkriegt, Mama wenigstens. Ich kenne alle ihre Tricks. Abends schminkt sie sich, um irgendwas hervorzuheben, rote Lippen, rosa Wangen, morgens, um von irgendwas abzulenken, vor allem, wenn sie verheult ist, die Augen verquollen und die Tränensäcke sackig. Eigentlich müssten sie leer sein, leergeflennt nach solchen Nächten. Aber Biologie funktioniert anders: Je mehr Tränen fließen, desto dicker der Sack. Im Grunde sind Drüsen und Säcke wie Muskeln. Ein Bizeps nutzt sich ja auch nicht ab durch Gebrauch, sondern wird immer größer, je mehr man trainiert. Frau Höppner und meine Mutter haben echt gut trainierte Heulmuskeln und auch sonst eine Menge gemeinsam. Obwohl bei Frau Höppner momentan die Glücksmuskeln im Kommen sind, ich sehe das.

Seit dem Sommer lächelt sie, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, lächelt zum Fenster hinaus und vergisst ihr Gesicht, auch das sehe ich.

Der Glücksmuskel ist viel zarter als der Heulmuskel, eher so eine Art Geflecht bis in die Mundwinkel. Es zieht sie nach oben, ganz leicht, ganz von selbst, kein Smiley, nur die Ahnung eines Lächelns. Das ist inoperabel.

Frau Höppner betritt die Klasse und strahlt, als käme sie frisch vom Glücksmuskeltraining, wobei ich nicht daran denken will, dass dazu immer zwei gehören (natürlich denke ich daran). Henk guckt auf sein Handy, ich gucke die Wand an, weil es so offensichtlich ist. Irgendwas im Raum verändert sich, obwohl es nicht gleich still wird. Eine warme Welle schwappt von Bauch zu Bauch. Und während ich die Wand anstarre und fast ein bisschen rot werde und aufgeregt und glücklich oder ko-froh, da passiert es: das Dümmste, was passieren kann, seitdem klar ist, dass wir in diesem Schuljahr nicht allein sind.

Wir haben eine Grille in der Klasse, irgendwo in den Fenster- und Mauerritzen, original mit Soundtrack. Gleich am ersten Schultag nach dem Klingeln zirpte sie drauflos oder war mit ihrem Zirpen plötzlich hörbar, weil wir die Klappe hielten. Die Grille musste hier in der Wand sitzen und singen - außer, wenn man ihr zu nahe kam, weshalb sich schwer feststellen ließ, wo genau »hier« war. (Es hörte sich immer ein bisschen woanders an.) Und Lenny, der Vollidiot, gleich: Frau Höppner, ich kann mich nicht konzentrieren, die Grille ist so laut - oder das Heimchen, weil Annika meinte, dass es hier nur Heimchen gibt. Und sofort tobte eine Riesendiskussion, worin der Unterschied besteht oder ob Heimchen dasselbe sind wie Grillen, nur weiblich. Und Lenny immer: Ich kann nicht arbeiten bei dem Gezirpe, der Kammerjäger soll kommen!

Das Zirpen hört ihr irgendwann nicht mehr, sagte Frau Höppner nur. Sie lächelte über die künstliche Aufregung hinweg und las uns die Fabel von der Grille vor, die den ganzen Sommer singt, im Gegensatz zur Ameise, die durcharbeitet. (Wie denn, bei dem Lärm?, fing Lenny wieder an - wirklich so ein Vollidiot!) Na ja, und als der Winter kommt, hat die Grille nichts gespart, kein Geld, keine Vorräte, und die Ameise will ihr nichts abgeben, was wir im Prinzip alle richtig fanden, so was kommt von so was, selber schuld. Doch man konnte sehen, dass es nicht das war, worauf Frau Höppner hinauswollte, also meinten wir dann, dass Kunst natürlich auch wichtig ist, die schönen Dinge, die Musik vor allem und so weiter. Und ich war total runter mit den Nerven, weil mir auf einmal klar wurde, dass die Geschichte eigentlich davon handelt, dass es Winter wird und der Sommer vorbei ist, die Zeit der Busenblusen, Tanktops und Bikinis, einschließlich der Werbung für Busenblusen, Tanktops und Bikinis. Und alles Geld, alle Vorräte der Welt bringen die Zeit nicht zurück. Das hat mich echt fertiggemacht. Keine Ahnung, wie man das Schuljahr überstehen soll, wenn es mit der Ansage beginnt, dass wir ab jetzt Ameisen sind und der Sinn fürs Schöne verhungern muss.

Am Ende der Stunde hat dann niemand mehr die Grille gehört (oder das Heimchen), nicht mal Lenny, und Frau Höppner hatte Grund zu lächeln: Na bitte, ihr habt euch daran gewöhnt!

Damit war das Thema erst mal erledigt, zumindest für die Normalos - die Idiotenfraktion durfte sich im Förderunterricht noch einmal schriftlich damit befassen. Aus gegebenem Anlass, wie Herr Tretner immer sagt. (Er brüllt sogar: Ruhe, aus gegebenem Anlass!) Dabei kam von der Grille am Nachmittag kaum noch ein Mucks. Erschöpft wahrscheinlich oder heiser. Aber vielleicht singt sie auch nicht für Idioten wie mich. Sie singt nur morgens für Frau Höppner und die ganze Klasse.

Inzwischen hören wir sie gar nicht mehr. Nur montags manchmal, nach den Wochenenden fällt uns auf, dass sie noch lebt und zirpt. Sie gehört ganz einfach zur Geräuschkulisse wie der Straßenverkehr oder Regen oder Lehrertext. Und mit der Aussicht auf zehneinhalb Monate als Idiot in diesem Bau denke ich auf einmal: Das fehlt in der Fabel, dass man sich daran gewöhnt. Wo steht, dass man die Grille bald schon nicht mehr hört? Warum singt sie dann überhaupt noch? Und was hat die Ameise davon?

Die Wahrheit ist: Man braucht gar keinen Winter, um das Schöne auszuhungern, es reichen Sommer + Gewöhnung. Was umgekehrt bedeutet: Schönheit = Sommer + neu. Und in dem Moment, als ich das denke, gucke ich aus Versehen Frau Höppner in die Augen, und sie, wie um nett zu mir zu sein, bittet uns die Hefte rauszuholen und gibt die Grille und die Ameise als Aufsatzthema, obwohl wir sie im Förderunterricht schon hatten, samt Gliederung, Fazit und allem. Frau Höppner meint es wirklich gut mit mir und den anderen Idioten. Wir können unser Glück nicht fassen, wechseln...
mehr

Autor

John von Düffel wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane und Erzählungsbände bei DuMont, u. a. >Vom WasserHouwelandtWassererzählungenDas Klassenbuch