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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
136 Seiten
Deutsch
FISCHER E-Bookserschienen am15.12.20161. Auflage
Warum mußte sie sterben, die Malerin Ragna Juhl, die in ihrem Atelier aufgefunden wurde, erstochen mit einem ihrer Schnitzmesser? Wegen der leidenschaftlichen Liebe Valentin Sanders? Wegen seines unglücklichen Sohnes Georg? Alle sichtbaren Motive liefern keine Antwort. Bis Kommissar Stoever einem unsichtbaren Konflikt auf die Spur kommt ... Der Roman entstand nach einem Drehbuch, das Asta Scheib und Martin Walser gemeinsam für einen NDR-Tatort-Krimi - mit Manfred Krug als Kommissar Stoever - geschrieben haben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Asta Scheib, geboren 1939 in Bergneustadt/Rheinland, ist freie Schriftstellerin und Drehbuchautorin.
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Produkt

KlappentextWarum mußte sie sterben, die Malerin Ragna Juhl, die in ihrem Atelier aufgefunden wurde, erstochen mit einem ihrer Schnitzmesser? Wegen der leidenschaftlichen Liebe Valentin Sanders? Wegen seines unglücklichen Sohnes Georg? Alle sichtbaren Motive liefern keine Antwort. Bis Kommissar Stoever einem unsichtbaren Konflikt auf die Spur kommt ... Der Roman entstand nach einem Drehbuch, das Asta Scheib und Martin Walser gemeinsam für einen NDR-Tatort-Krimi - mit Manfred Krug als Kommissar Stoever - geschrieben haben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Asta Scheib, geboren 1939 in Bergneustadt/Rheinland, ist freie Schriftstellerin und Drehbuchautorin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783105614860
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum15.12.2016
Auflage1. Auflage
Seiten136 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2156266
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kapitel I

Valentin Sander betrat sein Kaufhaus selten durch den Haupteingang. Heute hatte ihm seine Sekretärin zugerufen, er müsse sich die neue Schaufensterdekoration ansehen. Das Kaufhaus Sander hatte den Internationalen Mode-Marketing-Preis bekommen. Als Trendsetter mit eigenwilliger Philosophie, hieß es in der Begründung der Jury, der IGEDO in Düsseldorf. Effizienz. Kreation von Leitbildern. Eigenständige Angebotspolitik. Das alles war dem Kaufhaus Sander bescheinigt worden. Die Bilanzen allerdings sahen anders aus.

Schmetterlinge in riesigen Ausmaßen bildeten die Kulisse der Schaufensterdekoration. Sie schimmerten in Neonfarben wie die Blousons, Shorts, Jogginganzüge und Stirnbänder, mit deren Hilfe die Kunden des Hauses ihr Lebensgefühl steigern sollten.

Valentin beachtete nur flüchtig die Arbeit der Dekorateure, er blieb vor dem Plakat stehen, das direkt am Eingang aufgehängt war und Ragnas Ausstellung ankündigte: Heute Vernissage: KUNST IM KAUFHAUS. Und: RAGNA JUHL STELLT IM KAUFHAUS SANDER AUS.

Valentin Sander fuhr mit der Rolltreppe hoch in den fünften Stock. In der Etage für Designer-Mode war ein großer heller Raum freigemacht worden für Ragnas Bilder. Valentin war schon mehrfach hier gewesen. Aber er war bisher immer aus seinem Büro im sechsten Stock gekommen.

Diesmal, als er die Rolltreppen hochgefahren war, die Verkaufsräume mit den hochgefüllten Regalen und den Verkaufstischen durchquert hatte, vorbei an den Kunden, die sich nach magischen Gesetzen hin und her bewegten, als er die summenden, wogenden, vom Kaufrausch erhitzten Etagen hinter sich gelassen hatte, war es ihm, als schlösse sich ein Vorhang, als betrete er eine kühle, lichte Stätte. Er ging sofort auf ein Bild zu, das etwas abseits in einer Nische hing. Sein Lieblingsbild, Öl auf Karton, Ragna hatte es REISE IN DIE ROCKIES genannt. Die Felsformationen hatten Mäuler, Sphinxaugen. Sander verstand wenig von Kunst, aber Ragnas Bilder verstand er.

Einmal hatte Ragna ihm erklären wollen, was sie male: »Meine Unruhe, meine Ungeduld, meine Zweifel, meine Halluzinationen. Meine Bilder sind wie ich. Nicht harmonisch. Schwer genießbar. Für die Hüter der Kultur, des guten Benehmens, der Moral vielleicht unannehmbar. Doch dafür« - und dabei war Ragna wieder in ihren gewohnt ruppigen Ton verfallen - »dafür bezaubern meine Bilder, wie man sieht, die Analphabeten der Kunst. Und ... Zigeuner.«

Als müsse sich die Kränkung wiederholen, hörte Valentin aus dem eigentlichen Ausstellungsraum das Intonieren einer Zigeunerkapelle. Georg ... das war sein Titi-Steinberger-Quartett.

Valentin lief hinüber. Auf einem Podium standen die jungen Zigeuner Holzmanno und Ziroli an den Rhythmusgitarren. Als sie Valentin sahen, schauten sie einander kurz an, griffen die Saiten und sangen: »Mare Sinte, gamle Sinte, temer tschinenna ...«

»Hört auf!« Valentin schaute die beiden Sänger nicht an, ging auf seinen Sohn Georg zu, der neben Hojok stand. Hojok intonierte auf der Violine, Georg hatte die Gitarre griffbereit und blickte Hojok konzentiert an. Valentin faßte ihn am Ärmel. »Hör auf, Georg! Wer hat dir gesagt, daß ihr hier spielen sollt?«

»Vater«, sagte Georg bemüht ruhig, »Vater, du weißt, daß ich nicht Georg heiße, sondern Titi. Titi Steinberger. Der Name ist dir ja nicht ganz fremd.«

Valentin sah die jungen Sinti an, sie starrten zurück. Aufsässig? Verächtlich? Auf jeden Fall solidarisch mit Titi. Valentin bemerkte erst jetzt, daß auch Yanko da war. Und nun kam Ragna. Mit Frohwein. Wieso ist der eigentlich so heiter? Oder strahlt Ragnas Heiterkeit auf ihn ab? Frohwein sah gönnerhaft-verschwörerisch in die Runde: »Ich war das. Ich habe Ihren Sohn und seine Leute engagiert. Zu einer Ausstellungseröffnung gehört schließlich Musik.«

Valentin Sander schaute Frohwein an. Er kannte ihn seit dreißig Jahren, aber oft glaubte er, nichts von ihm zu wissen. Gefährte oder Feind - es wird sich vielleicht niemals klären. Wohl aber die Position. Daher sagte Valentin: »Wenn die hier spielen, lasse ich die Ausstellung platzen.«

Er wandte sich wieder an seinen Sohn. »Packt eure Sachen, verschwindet.«

Frohwein schaute in die Runde. Ein belustigter Verlierer, der sich seiner Sache sicher ist. Er zuckte mit den Achseln. »Dann eben keine Musik. ´tschuldigung, Chef, war gut gemeint.«

Valentin hörte nicht genau hin. Er sah, wie Ragna zu Georg ging. Er sah, wie das verkrampfte Gesicht seines Sohnes weich wurde, wie er leicht, nur für einen Sekundenbruchteil, seinen Kopf an Ragna lehnte. Valentin stellte zum erstenmal fest, daß Ragna so groß war wie Georg. Einsvierundachtzig, also vier Zentimeter größer als er selbst. Es störte ihn. Auch daß die beiden jetzt lachten. Sie schauten zu ihm herüber. Ragna strich leicht über Georgs Nasenrücken, kam dann auf Valentin zu.

Diese Zärtlichkeit für Georg konnte doch nur gegen ihn, Valentin, gerichtet sein. War Ragna raffiniert? Sie schaute Valentin an, schien belustigt, erstaunt über seine Aufregung. »Was wollen Sie, die Sinti-Musik paßt doch gut zu meinen Bildern.«

Valentin wehrte sich gegen ihr Verweigerungsspiel. Sie verbündete sich mit allen gegen ihn. Sie war nicht zu durchschauen. Warum konnte er nicht einfach nach ihr greifen, sie festhalten, ihr sagen: du gehörst zu mir. Sie hätte ihn ausgelacht. Auslachen, das gehörte zu ihrem Verführungs- und Abweisungsprogramm. In den wenigen Wochen, die sie sich kannten, war Valentin abhängig geworden von Ragnas Launen. Sie spielte mit ihm, konnte ihn mit einem Wort erledigen.

Als Frohwein jetzt auch noch fand, daß Sinti-Musik die ideale Einstimmung für die Vernissage gewesen wäre, schaute Valentin von seinem Prokuristen zu Ragna: »Ich darf das dann wohl als kleines Komplott zwischen Ihnen beiden ansehen?«

Ragnas Blick schien zu sagen: Ein Komplott mit dem? Aber wirklich nicht. Laut sagte sie: »Das ist kein Komplott. Es ist nur schade. Die Musik war doch das Tollste an der ganzen Veranstaltung hier.« Ihre Stimme klang trotzig. Sie ging zurück zu Georg, der den Arm um ihre Schulter legte, nicht ohne dabei auf seinen Vater zu schauen. Ragna und Georg verließen den Raum, Valentin wollte ihnen nach, aber Frohwein hielt ihn zurück: »Vergessen Sie nicht, Herr Sander, in fünfzehn Minuten kommen die ersten Gäste. Sie müssen die Eröffnungsrede halten.«

Valentin nickte, lief aber trotzdem hinter Ragna und Georg her, die schon an der Treppe waren. Er hielt Ragna am Arm fest: »Wohin gehen Sie, soll die Vernissage ohne Sie stattfinden?«

»Sie schmeißen die Sinti raus, ich schmeiße die Vernissage - warum eigentlich nicht?«

Valentin sah Yanko näherkommen. Hastig stieß er hervor: »Bleiben Sie, bitte, Ragna. Es ist Ihre Vernissage.«

Ragna zögerte und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuß von Georg. Valentin und Yanko beobachtend, ging sie zurück zum Ausstellungsraum. Valentin wußte, daß sie ihm eine genaue Schilderung seiner Ähnlichkeit mit Yanko nicht ersparen würde.

Warum wollte er nicht aussehen wie Yanko, der Bruder seines Vaters? Yankos Haut war so braun wie die seiner indischen Vorfahren, der Sindhi. Auch Valentins Haut war braun, doch anders als Yankos Haut, die mehr als sechzig Jahre lang in der Sonne war. Im Wind. Im Regen.

 

Sie galten als Asoziale - es interessierte niemanden, ob sie sich Sinti, Roma, Kalderasch, Gitanos, Zeyginer oder Zigeuner nannten - sie waren Asoziale. Nach Himmlers Definition ein »auf orientalischer und vorderasiatischer Mischungsgrundlage beruhendes Durcheinander verschiedener Rassen.« Für Yanko, für seine Frau Ani, für seine vierzehn- und zwölfjährigen Töchter hatte es den Auschwitz-Erlaß gegeben. Röntgenstrahlen. Zwangssterilisierung. Dann die Festnahmeaktion. Am 21.12.1942 waren sie ins Sammellager im Hafen, Fruchtschuppen 10, Baakenbrücke 2, gekommen. Yanko und seine Sippe, 16 von 20967 Zigeunern, die nach Auschwitz-Birkenau eingeliefert wurden. Als Yanko seine Töchter zum letztenmal sah, spannte sich ihre Haut über den Knochen. Krätze, Goma-Geschwüre. Hunger, Durst, Kälte. Schreien, Weinen, Wimmern, bis der Kinderblock ins Gas ging.

Nanosh, den knapp vierjährigen Sohn des Bruders, hatten sie nicht gekriegt. Scharlach und eine Ärztin hatten ihm das Leben gerettet, und die Sanders hatten ihn großgezogen. Doch jetzt, wo Yanko jeden Tag mehr Auschwitz in sich spürte, den Tod in sich spürte, jetzt mußte Nanosh zurückkommen zu seiner Sippe. Yanko war geduldig gewesen. Sanft, ganz sanft hatte er versucht, die fremden Wurzeln auszureißen, die Verflechtungen, die aus Nanosh Steinberger Valentin Sander gemacht hatten, den Sohn des Kaufmanns Friedrich Carl Sander. Doch Valentin wollte noch nicht wissen, daß er ein Zigeuner war, ein Sinti. Vater, Mutter, Großeltern, alle waren sie Sinti. Man sah es Valentin ja auch an, jeder konnte sehen, daß Valentin ein Sinti war. Wie sein Sohn Georg. Georg war schon lange Titi, Titi Steinberger. Und je mehr Nanosh sich wehrte, je näher kam Titi der Sippe. Der Älteste, Moritz, nicht, der war ganz der Sohn seiner Mutter, einer Gadschi. Die Sanders konnten ihn behalten. Ihm, Yanko, genügten Nanosh und Titi. Und auf sie würde er nicht verzichten. Doch was war mit dieser blonden Gadschi, dieser Malerin? Was hatte Titi mit ihr zu tun? Und vor allem, was wollte Nanosh von ihr?

Valentin kannte Yankos Gedanken. Er fühlte sich Yanko nahe, manchmal. Doch zwischen ihnen lagen Jahre, in denen Valentin an einem mit Damast gedeckten...
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Autor

Asta Scheib, geboren 1939 in Bergneustadt/Rheinland, ist freie Schriftstellerin und Drehbuchautorin.Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee und in München. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden »Pour le Mérite« ausgezeichnet und zum »Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres« ernannt.